Seinen Stefan Zweig hat Lars Jaeger ganz bestimmt gelesen, denn die Sternstunden sind ja Zweigs (Er-)Findung. Auch wenn Zweig vor allem faszinierende Forscher ins Zentrum seines Erzählens stellte, weniger die Erfolgsgeschichte dahinter. Eine Erfolgsgeschichte des Denkens, wie es der Physiker Lars Jaeger nennt, der auch Philosophie und Geschichte studiert hat. Auch das Denken kennt seine Revolutionen.

Wir tragen zwar das große, leistungsfähige Gehirn schon ein, zwei, drei Millionen Jahre mit uns herum. Aber wie das so ist mit den Zufallsentwicklungen der Natur: Was alles damit möglich ist, das stand nicht in der Gebrauchsanweisung. Das mussten die Menschen erst herausfinden und ahnten wahrscheinlich nicht einmal, was das mit den ganzen neuen Strukturen in ihrem Kopf zu tun hatte. Deswegen gab es wohl auch schon einige Erkenntnis-Sprünge vor den Momenten, die Lars Jaeger als markante Punkte bei der sprunghaften Entwicklung des Denkens nennt.

Denn natürlich entstehen solche Wettbewerbsvorteile der Evolution wie ein leistungsfähiges Großhirn nicht, weil irgendwie automatisch eine höhere Zivilisation entstehen sollte. Anfangs gab es den frühen Menschen nur einen kleinen Vorteil im Überlebenskampf. Sie wurden erfinderisch, fertigten Werkzeuge an, zähmten das Feuer. Das war schon ein echter Unterschied zu den Menschenaffen.

Irgendwann aber vor 50.000 Jahren entwickelten sie auch die ersten Sprachen, was schon ein wichtiger Sprung hin zu Abstraktion und neugierigen Fragen war. Dass das auch Phantasie und Erzähllust anfachte, machten dann die frühen Höhlenmalereien sichtbar. Und vor 10.000 Jahren gab es dann die nächste Revolution – die Neolithische Revolution, als die Menschen sesshaft wurden und Ackerbau und Viehzucht zur Wirtschaftsgrundlage machten.

Zwangsläufig entstanden die ersten Städte und Staaten. Jaeger muss es gar nicht extra betonen: Wenn Menschen erst einmal eine neue Stufe des Denkens erreicht haben, krempelt das alle Lebensbereiche um. Keiner kann sich dem entziehen – auch nicht diejenigen, die versuchen, doof zu bleiben und im alten Zustand zu verharren.

Jedes Mal an so einem Punkt gab es also eine regelrechte zivilisatorische Explosion. Das war auch vor 6.000 Jahren der Fall, als die ersten Schriften entstanden. Und es ist auch bei der wissenschaftlichen Revolution der Fall, die Jaeger in diesem Buch zum Leben erweckt. Die großen und berühmten Forscher kommen zwar auch alle drin vor. Sie stehen ja nicht ohne Grund als typische Vertreter für ein neues Denken in ihrer jeweiligen Disziplin verzeichnet. Jedes Kind kennt ihre Namen: Newton, Kopernikus, Bacon, Leibniz …

Vor ein paar Jahren noch hätte auch Jaeger sein Buch mit einem Triumph beendet, denn die Sachlage ist eindeutig: die moderne Wissenschaft hat unserer Gesellschaft einen ungeahntenWohlstand beschert, eine unglaubliche Technologie und Fähigkeiten, die kein Zeitalter zuvor je besessen hat. Wir müssten eigentlich eine durch und durch wissenschaftsbegeisterte Gesellschaft sein. Aber seit einigen Jahren feiern Populisten und echte Wissenschaftsfeinde, befeuert durch religiöse Fundamentalisten, ein regelrechtes Comeback, erobern politischen Einfluss, füllen das Internet mit Verschwörungsmythen und greifen die Wissenschaftler direkt an.

„Gefahren der Gegenwart“ nennt Jaeger das abschließende Kapitel, in dem er – als Wissenschaftler – sein Unbehagen daran formuliert, dass Menschen derart die simplen Grundlagen wissenschaftlichen Denkens leugnen können und sich in eine Welt zurücksehnen, die es in Europa zuletzt vor 800 Jahren gab. Möglicherweise – so vermutet er – weil sie den heutigen Erkenntnissen der Wissenschaft tatsächlich nicht mehr folgen können und sich überfordert fühlen. Als gäbe es da in einigen Menschen ein tiefsitzendes Bedürfnis nach ganz, ganz einfachen Wahrheiten, die sie einfach nur glauben müssen.

Jaeger ist zwar überzeugt davon, dass die Grundlagen wissenschaftlichen Denkens in unseren Schulen gelehrt werden. Ich bin es nicht. Wir haben nach wie vor eine Auswendig-lern-Schule, die das Pauken von nur gelernten Sätzen und Formeln belohnt und Fehlermachen systematisch bestraft. Aber zum wissenschaftlichen Denken gehört nun einmal auch das Fehlermachen und das Aus-Fehlern-Lernen. Samt dem Wissen darum, dass wir uns der richtigen Vorstellung von der Welt nur annähern können, indem wir aufmerksam beobachten, Thesen formulieren und die Thesen immer wieder harten Überprüfungen aussetzen – Experimenten, die jederzeit nachvollzogen werden können.

Die ersten Schritte auf diesem Weg haben schon die alten Griechen getan. Deswegen kommen diese Leute – von Aristoteles bis Epikur – auch in diesem Buch vor, in dem Jaeger so beiläufig auch zeigt, warum es das ziemlich dunkle Mittelalter in Europa überhaupt gab. Eine Dunkelheit, aus der Europa erst im 12., 13. Jahrhundert so langsam wieder aufzutauchen begann. Jaeger spricht von Millionen antiker Schriften, die nicht nur einfach so verloren gingen, auch nicht durch einen legendären Brand der berühmten Bibliothek von Alexandria. Sie wurden systematisch vernichtet.

Jaeger hat gute Gründe, vom Aufkommen der heutigen wissenschaftsfeindlichen Populisten das Allerschlimmste zu befürchten. Denn es ist schon einmal passiert: 408 erließ der weströmische Kaiser Flavius Honorius „ein reichsweites Gesetz zur Zerstörung aller bis dahin geretteten nicht-christlichen Kunstwerke“. In den Folgejahren wurde jeder verfolgt, der noch Schriften „heidnischer“ Autoren besaß. Der christliche Fundamentalismus hatte Rom erfasst und sorgte dafür, dass von Millionen antiken Schriften nur einige wenige überlebten.

Ganz Ähnliches geschah, als die Osmanen Byzanz eroberten. Auch hier gingen die alten Bibliotheken in Flammen auf.

Dass überhaupt noch etwas Nennenswertes von den antiken Dichtern, Philosophen und Denkern überliefert wurde, ist bekanntlich den Arabern zu verdanken, die nicht nur den ganzen Nahen Osten eroberten und bis nach Spanien vordrangen, sondern auch die Schriften der Antike ins Arabische übersetzten und damit auch die Grundlage für eigene Forschung legten. Was dazu führte, dass der Wissensstand der Araber den der Europäer bis ins 16. Jahrhundert hinein übertraf. Was wieder ein Glücksfall für die Europäer war, denn sie konnten die Schriften der großen arabischen Gelehrten und Forscher studieren – und waren natürlich hochgradig fasziniert.

Jaeger stellt nicht nur mehrere dieser arabischen Denker vor, er erzählt auch, wie ihre Schriften zur Anregung wurden und mit dazu beitrugen, dass die ab 408 so brachial herbeigeführte geistige Dunkelheit Europas nach und nach wieder erhellt wurde. Männer wie Abealard und Roger Bacon stehen für diesen frühen Beginn, die fast zwangsläufig wieder die harte Hand der wissensfeindlichen Kirche zu spüren bekamen. Die folgenden vierhundert Jahre waren ja ein einziger zäher Kampf gegen die Dogmen und die Bevormundung durch die Kirche, deren Macht immer auf Unwissenheit und bedingungslosem Glauben aufbaute. Wer Zweifel anmeldete, wurde in den Augen der Kirche sehr schnell zum Ketzer.

Und trotzdem änderte sich die Situation nach und nach, verschoben sich die Kräftegewichte – und das schon vor der Renaissance, die oft auch als Beginn des wissenschaftlichen Denkens in Europa gesehen wird. Denn die Schriften der Araber entfalteten schon davor ihre Wirkung. Die Bibel wurde von einigen hartnäckigen Denkern nicht mehr als „der Weisheit letzter Schluss“ betrachtet. Und besonders angreifbar waren ausgerechnet die kanonisierten Schriften von Aristoteles und Ptolemäus, die die Kirche auch deshalb duldete, weil sie (scheinbar) den Aussagen der Bibel nicht widersprachen.

Aber sie widersprachen vielen Dingen, die sich bei genauer Beobachtung als völlig anders darstellten. Und wenn sie auch fast alle vorsichtig vorgingen wie die Katzen, um den Zorn der Kircheninquisition nicht zu reizen, verfestigte sich im 16. Jahrhundert bei den hartnäckigsten Forschern das Bewusstsein, dass in den alten Schriften so einiges nicht stimmen mochte und einer genaueren Untersuchung nicht standhielt.

Und damit fiel auch das Dogma, die Kirche habe immer recht. Den heftigsten Stoß bekam der kirchliche Dogmatismus mit der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Gutenberg. Fortan waren Schriften in kurzer Zeit in großer Stückzahl herstellbar. Und damit erreichten auch wissenschaftliche Schriften binnen kurzer Zeit eine weite Verbreitung.

Und Historiker gehen davon aus, dass das der entscheidende Zündfunke war, der in Europa die Begier auf immer neues Wissen entfachte, die Entstehung der Naturwissenschaften befeuerte und dem ganzen Kontinent einen enormen Entwicklungsschub verpasste. Ein Schub, der in den bis dahin deutlich höher entwickelten Ländern des Nahen Ostens, in Indien und China ausblieb. Jaeger analysiert sehr genau, warum das so war und warum diese riesigen Länder im 19. Jahrhundert regelrecht zum Spielball der Europäer werden konnten.

Womit er im Grunde auch Philip T.Hoffmanns These in „Wie Europa die Welt eroberte“ einerseits bestätigt, andererseits erweitert.

Denn Tatsache ist, dass es die technologische Überlegenheit der Europäer war, die ihnen ermöglichte, mehr als die halbe Welt zu unterjochen. Denn Waffentechnologie ist nun einmal das direkte Ergebnis von Forschung und Wissen, die freilich auch die Industrien in Gang bringen, die überhaupt erst in der Lage sind, überlegene Waffen zu produzieren. Aber die Fokussierung auf die militärische Überlegenheit ist zu eng. Denn wissenschaftliches Denken hebt auch alle anderen Bereiche einer Gesellschaft auf eine neue Stufe.

Und es wird von Konkurrenz befeuert. Denn da hatte auch Hoffman recht: Dass die Europäer sich regelrecht mit Begeisterung auf Wissenschaft und Technologie stürzten, hat mit der zumeist kriegerisch ausgetragenen Konkurrenz der eigentlich winzigen europäischen Staaten zu tun. Man konkurriert ja nicht nur mit Waffen gegeneinander, sondern auch mit Waren, Handelsvorteilen, besserer Ernährung, Hygiene, Logistik.

An einigen Beispielen zeigt Jaeger, wie diese um sich greifende Neugier in Europa zu den bahnbrechenden Erfindungen führte, die Europa einen rasanten Anstieg des Wohlstands ermöglichte und es in seiner Gesamtheit zu einer Art Supermacht machte, auch wenn es die Europäer bis heute nicht wirklich verstanden haben. Lieber zanken sie sich weiter wie in den Zeiten Macchiavellis.

Die wissenschaftliche Revolution reiht sich damit eindeutig ein in die Revolutionen des menschlichen Denkens, die vorher stattfanden. Und ein Blick nach China und Indien genügt, wie die Menschen dort gerade dabei sind, den Rückstand aufzuholen und mit Europa und den USA gleichzuziehen, vielleicht sogar vorbeizuziehen.

Denn wir haben es zwar geschafft, lauter Technologien zu entwickeln, die uns immer mehr Macht und Wohlstand gegeben haben. Aber wir haben den nächsten Schritt nicht getan: Die Folgen dieser Technologien zu begreifen und sie so zu ändern, dass wir unsere Lebensgrundlagen nicht zerstören.

Der Populismus wirkt da wie eine Bremse. Und er zeigt, dass es da um die 10 Prozent der Menschen in unserer Gesellschaft gibt, die nie gelernt haben, wissenschaftlich zu denken. Die lieber an Dogmen oder erfundene Geschichten glauben und jede rationale Auseinandersetzung mit der Welt verachten. Und diese Verachtung wenden sie gegen die Wissenschaftler, denen sie gar noch das Zweifeln und Nie-ganz-sicher-Sein vorwerfen. Obwohl genau dies das wissenschaftliche Denken ausmacht und genau das zu neuen Erkenntnissen führt.

Wir können die Welt nicht in ihrer kompletten Wahrheit verstehen. Das ist schier unmöglich. Das wussten auch die alten Griechen schon. Und Forscher wie Einstein, Planck, Heisenberg haben es nur bestätigt: Je weiter wir mit unseren Forschungen vordringen, umso mehr kommen wir in Bereiche, die sich das menschliche Gehirn nicht mehr vorstellen kann. Wo oft nur noch mathematische Formeln weiterhelfen. Auch die elementare Rolle der Mathematik beleuchtet Jaeger, sodass man auf seiner Reise durch die Zeit auch einen Begriff davon bekommt, was dieses neue Denken tatsächlich ausmachte und warum es die alte Welt aus den Angeln hob.

Denn wer den fundamentalistischen Vorbetern nicht mehr alles glaubt und seiner eigenen Beobachtung vertraut, der ändert auch seine Sicht auf die Welt. Der begreift sich auch als zur Erkenntnis fähiges Individuum, was einen Gutteil des Selbstbewusstseins der Europäer befeuerte und sie dazu brachte, auch Risiken einzugehen, die die Generationen vor ihnen nicht einmal zu denken gewagt hätten – die Reise des Kolumbus nach Westindien ist das beste Beispiel dafür.

Und vielleicht malt Jaeger die Populisten am Ende auch zu groß. Denn die Wissenschaftsgeschichte war auch immer eine Geschichte der Widerstände, der oft auch gewalttätigen Versuche, neues Wissen zu verhindern. Denn wissende Menschen sind nicht so leicht gefügig zu machen. Es geht also eigentlich um Macht. Weshalb die vierte Tugend der Wissenschaft, die Jaeger benennt, noch immer nur unvollständig erfüllt ist: „Die Anwendung von Wissen zum Wohlergehen der Menschheit“.

Aber es sind nicht Wissenschaftler, die das verhindern, sondern machtgeile alte Männer, denen jedes Mittel recht ist, ihre Macht zu erhalten. Da sind sich Fundamentalisten und Populisten gleich. Und dass wir da so einiges zu tun haben, ist im Grunde die Kernbotschaft dieses Buches, das in seiner Art erstmals so konsistent zeigt, wie radikal das wissenschaftliche Denken ab dem 16. Jahrhundert erst Europa und dann die Welt verändert hat.

Und so nebenbei warnt Jaeger eigentlich auch davor, dass wir in unserem alten europa-zentrierten Denken verharren, denn China und Indien werden bald gleichziehen. Dann haben wir es „da hinten“ nicht mehr mit Staaten zu tun, in die wir einfach unsere Schäbigkeiten abschieben können. Die Aufgabe wird deshalb noch drängender: Jetzt gemeinsam Lösungen zu finden, das Wohlergehen der ganzen Menschheit zu retten. Mit wissenschaftlichem Verstand.

Lars Jaeger Sternstunden der Wissenschaft, Südverlag, Konstanz 2020, 20 Euro.

Wie die Schießpulvertechnologie den Europäern half, die Welt zu unterjochen

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