Der Titel klingt spannend, die Frage Ć¼berzeugend. Denn wer sich die Weltgeschichte anschaut, der wundert sich ja tatsƤchlich: Warum haben ausgerechnet die EuropƤer mit ihren winzigen Staaten ein halbes Jahrtausend lang die Welt kolonialisiert und teils viel reichere und kulturvolle LƤnder erobert und beherrscht? Steckt dahinter vielleicht ein Gesetz? Dutzende Wissenschaftler haben sich darĆ¼ber schon den Kopf zerbrochen.

Manche sahen im Klima den Grund, andere in der Geografie Europas, wieder andere machten Krankheiten dafĆ¼r verantwortlich. Philip T. Hoffman ist Professor fĆ¼r Wirtschaft und Geschichte am California Institut of Technologie, dem berĆ¼hmten Cal Tech. Da sieht man die Welt natĆ¼rlich auf besondere Weise ā€“ sehr technologisch. Denn Fakt ist: Technologien haben immer wieder dazu beigetragen, dass Menschen immer neue Stufen von Zivilisation, Kultur und Wohlstand erreichen konnten. Die Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte der Technologie-SprĆ¼nge.

Und mit jedem Sprung machten sich die Menschen nicht nur unabhƤngiger von ihren Umgebungsbedingungen, sie traten auch in immer neue Stufen des Wettbewerbs miteinander ein: auf wirtschaftlichem, kulturellem, politischem und militƤrischem Gebiet. Europas Geschichte ā€“ das ist unĆ¼bersehbar ā€“ ist eine Geschichte der Kriege. Aber auch das ist keine Ausnahme. Auch die Geschichte aller anderen Kontinente lƤsst sich als eine Geschichte der Kriege erzƤhlen. Nur dass die LƤnder ā€“ und darunter richtigĀ groƟe und reiche wie China, Indien, Persien, die TĆ¼rkei ā€“ niemals dazu ansetzten, die halbe Welt zu erobern und ganze Kontinente in Kolonien zu verwandeln.

Sie fĆ¼hrten zwar selbst Kriege ā€“ gegen regionale Kontrahenten, einfallende Nomaden, um Gebietserweiterungen und gegen aufstƤndische Regionen ā€“ aber sie rĆ¼steten keine Flotten aus, um jenseits der Meere das Land anderer Vƶlker zu erobern und die Welt zu dominieren. Das taten nur die EuropƤer ā€“ und einige ihrer ehemaligen Kolonien wie die USA, dieĀ Hoffman aus gutem Grund mit zur europƤischen Welt rechnet.

War es ein besonders kriegerischer Geist, der die EuropƤer so aggressiv und herrschsĆ¼chtig machte? Oder war es die besondere europƤische Konstellation der Kleinkƶnigreiche, die fortwƤhrend im Krieg miteinander waren, ohne dass es ā€“ wie in China oder Russland ā€“ zur Herausbildung einer Hegemonialmacht kam, die den Kontinent befriedete? Das zumindest nimmt Hoffman an und entwickelt ein durchaus bezauberndes ā€žTurniermodellā€œ. Das erinnert an die alten Rittersleute, deren Handwerk dereinst ja wirklich der Krieg war. Jeder Adlige wurde bis in die Neuzeit im Kriegshandwerk ausgebildet. Man ritt nicht nur zu Turnieren, sondern der Krieg selbst war der Raum, in dem die Elite des Kontinents ihre Sporen verdiente, um Ruhm und Ehre kƤmpfte. Aus der Distanz sieht das durchaus wie ein funktionierendes Modell aus, das Hoffman in feste Formeln packt, vier Grundbedingungen definiert ā€“ und schon kann er die europƤische Geschichte anhand des Turniermodells beschreiben.

Er gibt sich Ć¼berzeugt, dass er sie damit auch erklƤrt. Denn im Rahmen der wirtschaftlichen Spieltheorie kƶnnte das Modell ja tatsƤchlich erklƤren, warum groƟe und kleine FĆ¼rsten immer wieder in Kriege zogen ā€“ der Ruhm war der Preis. Die Entscheidung Ć¼ber Krieg oder Nicht-Krieg unterlag ā€“ so Hoffmann ā€“ einem AbwƤgungsprozess, in dem die Herrscher die Kosten des Krieges gegen den mƶglichen Gewinn abwogen. Und wenn die Kosten niedrig waren, der mƶgliche Gewinn aber hoch, dann wurde zum Krieg geblasen. Und weil das jahrhundertelang so war, entstanden auch Heere bezahlter Sƶldner, die jederzeit bereit waren, sich fĆ¼r den nƤchsten Feldzug einkaufen zu lassen. Und es entstand eine Landschaft der Waffenproduzenten, die jederzeit das modernste Kriegsmaterial zu liefern bereit waren. Anfangs alles Handwerker, die sich immer weiter perfektionierten. SpƤter riesige Unternehmen, die ihre Produkte jedem Staat verkauften, der sein Kriegsarsenal modernisieren wollte.

Wo der Krieg fortwƤhrend fĆ¼r Nachfrage sorgte und in den KriegszĆ¼gen die besseren Waffen Ć¼ber Sieg und Niederlage mitentschieden, entstand logischerweise auch ein Modernisierungsdruck. Wer mithalten wollte, besorgte sich die effektivsten verfĆ¼gbaren Waffen. Und da in Europa die Entfernungen immer kurz waren und kriegsentscheidende Neuerungen nicht geheim blieben, florierte die Waffenproduktion und irgendwann im Hochmittelalter fasste nicht nur die SchieƟpulvertechnologie FuƟ in Europa, sie sorgte auch dafĆ¼r, dass der Innovationsdruck in den europƤischen Heeren wuchs.

Weil die EuropƤer aufgrund des permanenten Kriegszustandes gezwungen waren, die Kriegstechnologie immer weiter zu perfektionieren ā€“ und zwar vor allem die SchieƟpulvertechnologieĀ ā€“ gelangten sie zum Ausgang des Mittelalters in eine Position, in der es auf anderen Kontinenten keinen Staat mehr gab, der ihrer Schusswaffentechnologie ernsthaft etwas entgegensetzen konnte. Da genĆ¼gten kleine, nur wenige hundert Mann starke Sƶldnerhaufen, um riesige Reiche wie die der Inka und Azteken zu erobern. Nicht einmal Armeen mussten die EuropƤer losschicken, um ihre Kolonien zu erobern. Ein Haufen schusswaffenversierter MƤnner genĆ¼gte.

Stimmt alles.

Hoffman verweist die Liebhaber ƶkonomischer FormelsƤtze immer wieder gern auf den Anhang. Da ist er ganz Professor: Er hat eine Theorie, die er mit Formeln untersetzt, und jetzt tut er alles, um sie argumentativ und mit statistischen Daten zu unterfĆ¼ttern. Man fĆ¼hlt sich regelrecht wie ein Student in einer Vorlesung bei ihm.

Aber man wird das GefĆ¼hl nicht los, dass seine Theorie doch eigentlich nur auf sich selbst beruht. Erst extrahiert er die vier Grundannahmen aus der europƤischen Geschichte, formt seine These, die durchaus spannend ist,Ā und dann belegt er sie wieder am realen Verlauf der europƤischen und der Kolonialgeschichte.

Kann man machen. Den Leser fĆ¼hrt es in eine Geschichtsbetrachtung ein, die viel zu selten auch in den Ć¼blichen GeschichtsbĆ¼chern auftaucht: die Weltgeschichte als eine Geschichte der Technologien zu erzƤhlen. Und Fakt ist: Staaten mit der moderneren Technologie haben im Wettbewerb mit anderen Staaten immer die Nase vorn gehabt.

Aber: Das trifft eben nicht nur auf die Kriegstechnologien zu. Und darĆ¼ber stolpert der Leser letztlich im letzten, dem siebenten Kapitel. Eher in NebensƤtzen. Aber Hoffman hat auch schon in den vorhergehenden Artikeln immer wieder auch die argumentative Auseinandersetzung mit anderen Autoren gesucht. Im siebenten Kapitel versucht er weitere Interpretationen zur Entwicklung unserer Geschichte aufzunehmen. Augenscheinlich wieder aus dem bislang sehr engen Bereich der Geschichtsƶkonomie. Da taucht dann zum Beispiel die Frage auf: War es nicht doch das Humankapital (oh ja, da beiƟt man gedanklich gleich mal in eine Zitrone), das die industrielle Revolution in Gang setzte? Und wo wurde sie eigentlich in Gang gesetzt? Die Ć¼blichen LehrbĆ¼cher erzƤhlen: in England. Irgendwann im spƤten 17., beginnenden 18. Jahrhundert.

England ist bei Hoffman deshalb so wichtig, weil er davon ausgeht, dass es ohne die industrielle Revolution in England auch nicht so bald eine industrielle Revolution in Europa gegeben hƤtte.

Und vor der industriellen Revolution kam die Revolution der Schusswaffentechnologie, die England schon in dem Moment zur militƤrischen FĆ¼hrungsmacht gemacht hat, als es noch gar nicht industrialisiert war. Dabei erzƤhlt Hoffman selbst, wie lang die Vorgeschichte der Technologie-Entwicklung in Europa tatsƤchlich war.

Und gedanklich ist man da die ganze Zeit am Umschalten. Warum fallen eigentlich wichtige Stichworte bei Hoffman nicht, die man eigentlich zwingend erwarten wĆ¼rde? Denn die Existenz von Sƶldnerheeren, deren AnfĆ¼hrer sich selbst wie freie Unternehmer gebƤrdeten und ihre Kampfkraft an jeden verkauften, der ein bisschen Krieg produzieren wollte, gehƶrt genauso zu den frĆ¼hkapitalistischen Entwicklungen weit vor Beginn der Industrialisierung wie die Entstehung von Bƶrsen, Banken und ā€“ na hoppla ā€“ Kredit und Kapital.

Denn die ganze teure Waffentechnologie brauchte Kapital. Und Europas FĆ¼rsten finanzierten ihre KriegszĆ¼ge eben nicht nur aus der eigenen Schatulle oderĀ spƤter immer mehr aus Steuereinnahmen. Sie verschuldeten sich dafĆ¼r ā€“ bei reichen Kaufleuten, HƤndlern und ā€“ man darf es einfach nicht vergessen ā€“ den reichen Juden, die ja im Geldgewerbe tƤtig waren, weil sie in bĆ¼rgerlichen Berufen nicht tƤtig werden durften. All das fehlt bei Hoffman, so dass man spƤtestens im siebenten Kapitel das GefĆ¼hl hat, dass der technologiebegeisterte Professor die Geschichte eigentlich auf den Kopf gestellt hat. Oder dass da am CalTech etwas fehlt: ein Wissen um den Beginn der kapitalistischen (nƤmlich von Kapital getriebenen) Wirtschaftsepoche.

Genau da wird seine These nƤmlich spannend. Denn dann verƤndert sich die Frage. Da werden die politischen Ausgangsbedingungen Westeuropas nicht als mythische Ursache fĆ¼r den Triumph der SchieƟpulvertechnologie erkennbar, sondern als idealer NƤhrboden fĆ¼r die Entstehung frĆ¼hkapitalistischer Handelsbeziehungen. Man denke nur an die legendƤre Rolle der Kaufmannsstadt Venedig, an die groƟen Kreditgeber in Deutschland ā€“ die Fugger und Welser, die auch die Kriege der Kaiser bezahltenĀ ā€“ oder an die legendƤren Bankiers der Medici, die selber zu einem berĆ¼hmten FĆ¼rstengeschlecht wurden.

Hoffman geht auch auf die Rolle des Christentums ein, die ā€“ so seine Interpretation ā€“ darin bestand, die europƤischen Staaten klein und zerstritten zu halten, und damit ebenfalls dazu beitrug, dass die SchieƟpulvertechnologie immer weiter vervollkommnet wurde. Aber das Argument wirkt schwach, erst recht, wenn man (nun gerade im Luther-Jahr) um die Rolle des Vatikan als Geldsammler und GroƟinvestor weiƟ.

TatsƤchlich lenkt Hoffmans Idee den Blick auf eine Tatsache, die augenscheinlich den Autoren, die er so zitiert, gar nicht bewusst ist: dass der Kapitalismus viel Ƥlter ist als die industrielle Revolution in England und dass sich viele scheinbar vƶllig mittelalterliche Akteure (ja, auch die turnierenden Ritter) in Wirklichkeit wie waschechte FrĆ¼hkapitalisten benahmen. Auch darĆ¼ber stolpert man, wenn Hoffman so beilƤufig von den steinernen Burgen der Ritter und den Festungen der EuropƤer spricht. Das waren eben nicht nur militƤrische Fortifikationen. Da verstellt der MilitƤrhistoriker sich selbst den Blick. Die Dinger waren schweineteuer, also richtige GroƟinvestitionen. Aber sie spielten nur in zweiter Linie eine militƤrische Rolle. In erster Linie waren sie Sicherungen fĆ¼r Handelswege und MarktplƤtze. Romantisiert wurden sie erst im 19. Jahrhundert, genauso wie die Ritter, die zwar das Kriegshandwerk beherrschten und mit ihren FĆ¼rsten in jeden Feldzug mussten.

Aber ihre Burgen waren in erster Linie Verwaltungssitze von RittergĆ¼tern. Es ist also ein netter Gedanke, die so furiose Entwicklung der SchieƟpulvertechnologie in Westeuropa aus einer spieltheoretischen Notwendigkeit zu berechnen. Aber damit blendet Hoffman die eigentlich treibende Kraft aus, das, was das mittelalterliche Europa tatsƤchlich schon deutlich vom Rest der Welt unterschied: die Entstehung frĆ¼her Formen von Kapitalgesellschaften. Auch die KreuzzĆ¼ge wurden Ć¼ber Kredite finanziert ā€“ aus lauter religiƶsem Eifer heraus wƤren sie nie zustande gekommen. Und die italienischen Schiffsbesitzer haben sich goldene Nasen damit verdient.

Und ohne Kredite hƤtte es auch nicht die rasante Entwicklung der Schusswaffentechnologie in Europa gegeben. Da hƤtte alles ā€žlearning by doingā€œ nichts genĆ¼tzt, von dem Hoffman glaubt, dass es vor dem 19. Jahrhundert die Entwicklung der Waffentechnologie vorantrieb. Um diese fortwƤhrend sich entwickelnde Kriegswirtschaft am Laufen zu halten, brauchte es einen Markt mit KƤufern und Kapitalgebern. Und es brauchte ein immer weiter wachsendes Kapital, um die Sache am Laufen zu halten. Denn die Pistolen und Musketen wurden zwar im VerhƤltnis immer billiger. DafĆ¼r blieben ganze ausgerĆ¼stete Armeen, Festungen, Schiffe und Kanonen trotzdem teure Investitionen ā€“ die immer teurer wurden, je produktiver sie wurden. Ja, das gibt es tatsƤchlich: Ɩkonomen, die berechnen, wie produktiv Kriege sind.

Und so gerƤt auch aus dem Blick, dass es nicht die Innovationen im MilitƤrwesen waren, die die ƶkonomische Entwicklung Europas vorantrieben, sondern dass sie Teil einer ganzen breiten Entwicklung von Innovationen waren, die insgesamt die Kapitalisierung der westlichen Gesellschaft vorantrieben. Denn ohne neue Bergbau- und VerhĆ¼ttungstechnologien hƤtte es auch keine neuen Schusswaffen gegeben. Kohle war auch in England nicht billig, wie Hoffman meint. Sie wurde erst bezahlbar, als die dafĆ¼r notwendigen Technologien entwickelt wurden.

So geht man aus dem Buch mit einer hĆ¼bschen Anregung ā€“ und einer gewissen EnttƤuschung, dass es sich der Wirtschaftsprofessor so einfach gemacht hat. Nein, es war nicht der Glanz von Ruhm und Ehre, der die EuropƤer zu den Gewinnern des Wettrennens um die Weltherrschaft machte, sondern der zunehmende Druck jenes Dings, das niemals satt wird und immer mehr Wachstum und Vermehrung will: des Kapitals. Und seine Dominanz hat ganz und gar nicht aufgehƶrt, bloƟ weil die WesteuropƤer im 20. Jahrhundert aufhƶrten, die Welt als Kolonie zu betrachten.

Aber das steht in anderen BĆ¼chern.

Philip Hoffman Wie Europa die Welt eroberte, Theiss Verlag, Darmstadt 2017, 24,95 Euro.

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