„Roman trouvé“ nennt der Verleger Michael Faber die Reihe, in der er Romane veröffentlicht, an die sich nicht jeder Verlag traut und die dann auch gern mal das Genre sprengen. So wie dieser wirklich dicke Band des 1980 in Teheran geborenen Filmemachers, Autors und Ausstellungskurators Ajadi.

Mit Tric-Trac ist tatsächlich die Backgammon-Variante gemeint, die motivisch immer wieder in den Geschichten auftaucht, die ein gewisser Yorick alias Yorickson erzählt, ein gealterter Schriftsteller, der versucht, die Geschichte dreier junger Männer zu erzählen, die aus dem Iran geflohen sind, weil ihre Sinnenfreude die Aufmerksamkeit der Sittenwächter auf sich gezogen hat.

Und dabei war der Iran mal ein weltoffenes und sinnenfreudiges Land. So wie manch anderes Land im Nahen Osten auch. Dass hinter der Geschichte eine grausame Realität liegt, zeigt ganz am Ende des Buches das Foto von der Hinrichtung zweier junge Iraner.

Der Traum vom lebensfreundlichen Westen

Und dabei will dieser Yorick eigentlich eine ganz andere Geschichte erzählen, eine vom Glück, vom glücklichen Neubeginn seiner drei jugendliche Helden im Westen, aufgefangen von ihrem reichen Onkel Said in Paris, der wie so viele persische Intellektuelle schon unter dem Schah fliehen mussten und nach einer kurzen Rückkehr 1979 doch lieber wieder ins Exil ging, denn unter den Ajatollahs war an ein Wiederaufleben von Sinnenfreude, Freiheit und religiöser Unabhängigkeit auch nicht zu denken.

Im Gegenteil: Wer unangepasst war, muss mit drakonischen Strafen rechnen. Da sind sich autoritäre Regime alle gleich, egal, ob sie sich religiös-fundamentalistisch, militärisch-borniert oder nationalistisch-vorgestrig definieren.

Nichts verachten sie so wie den Freiheitssinn der Menschen, ihre Lebenslust und ihre Unabhängigkeit. Sie predigen nicht nur den absoluten Gehorsam unter die engstirnigen Gesetze, die sie erlassen, und ihren verlogenen Sittenkodex, den sie mit einem umfassenden Ausbau des Überwachungsapparates absichern.

Sie greifen tatsächlich ein in die Leben der Menschen, missachten Selbstbestimmung und Privatsphäre, maßen sich bis in die kleinste Lebensäußerung das Richter- und Scharfrichteramt an. Ach ja, nicht zu vergessen: Es sind immer wieder Männer, staubige, gefühllose, machtbesessene Männer, die genau wissen, wie man einen Staat in seine Hand bekommt und ein Volk zur Geisel macht.

Es ist zwar Zufall, dass jetzt ausgerechnet Russland immerzu im Hinterkopf spukt. Aber es passiert seit Jahren in vielen Ländern dieser Erde, dass solche Typen versuchen, die absolute Macht an sich zu bringen und alle Prozesse der Demokratisierung und Liberalisierung abwürgen.

Erinerungen an den persischen Frühling

Da ist kein Ort zum Bleiben für Farshid, Aadish und Shaahin, die nicht nur die Lust an ihren Körpern (und am Tric-Trac-Spiel) für sich entdeckt haben, sondern auch in einer Familie groß geworden ist, in der der alte Traum von Freiheit und persischer Kultur noch lebendig ist, besonders gepflegt von Großvater Tacu, der in seinem Haus in Teheran noch die Erinnerungen pflegt an eine Zeit, in der auch sein geliebtes Persien offenstand für die Schönheit der Welt, Frauen ohne Schleier auf die Straßen gingen und das Land wieder Anschluss gefunden hatte an die moderne Literatur, an Film und Musik. In vielen seitenlangen Briefen ermuntert er die Jungs im fernen Paris, ihr Leben in die Hand zu nehmen und es aus vollen Zügen zu genießen.

Aber seine Briefe sind Fiktion.

Das ahnt man spätestens, wenn Yoricks Lebensabschnitts-Gefährte Andrea nicht mehr mitspielt und aussteigt, weil er merkt, dass der Autor auch ihre Liebesgeschichte mit eingewoben hat in den Stoff dieses Romans, der sich nach und nach als ein Roman über die Schwierigkeit der Bändigung der Helden beim Schreiben erweist.

Denn die Geschichte von Farshid, Aadish und Shaahin ist Yorick längst aus den Händen geglitten. Lustvoll, könnte man sagen. Denn das genießen auch Schriftsteller, wenn ihre Figuren ein Eigenleben entfalten, das man dann nur noch atemlos aufzeichnen muss, selbst gespannt und überrascht, wohin einen das entführt.

In die Märchenwelt im Haus von Onkel Said zum Beispiel – in dem Asjadi wieder einen bekannten persischen Dichter anverwandelt hat, verwandelt in einen Pariser Lebemann, dessen Haus ein einziges Antiquitätenkabinett ist und der im Reichtum der – westlichen – Literatur und Kunst schwelgt.

Märchenschloss und Wunschtraum. Ein Wunschtraum, der natürlich so aussieht, wie man sich eine Welt der Rettung wünscht, wenn man aus einem von finsteren Sittenwächtern geknebelten Land in den durchaus schillernden Okzident geflohen ist.

Der Hunger nach dem Reichtum der Kultur

Ein Wunschbild, das Yorick hier zeichnet, immer wieder ausschweifend und überschwänglich. Denn egal, welche seiner Figuren er zum Sprechen bringt, sie schwelgen allesamt in den Reichtümern dessen, was sie gelesen, gesehen, gehört haben.

Ganze Seiten werden zum Kaleidoskop der westlichen Kunst und Literatur. Oft in einem Ausmaß, dass es nicht glaubwürdig sein kann – etwa wenn Farshid sich in wenigen Monaten zu einem Kenner der ganzen westeuropäischen Literatur aufschwingt. Aber man versteht diesen Hunger, diese Sehnsucht.

Und man versteht sie ein bisschen besser, wenn man mit Asjadi-Yorick mit den Augen Außenstehender auf diesen Westen schaut, der so gern so tut, als könnte er sich selbst nicht leiden. Als wären all diese Schätze des Geistes nur Plunder für Besserwisser und Naseweise.

Die Europäer wissen gar nicht, wie attraktiv all das auf Menschen in autoritären Staaten wirkt, für die fast alles, was sie mit der Freiheit des Westens identifizieren, verboten ist. Von freier Liebe ganz zu schweigen. Also auch dem, was Yorick mit Andrea auslebt, auch wenn man in der Beziehung der beiden in eine ganz neue Welt der Beziehungen gerät, in der sich die beiden am Frühstückstisch mit hemmungslosem Schimpfen ihre Zuneigung zeigen.

Als müsste das einfach raus, um sich wenigstens beim geliebten Partner wieder erden und wie ein Mensch fühlen zu können. Ein scheinbar völlig aufgebrochener Schutzraum. Dass es trotzdem ein Schutzraum ist, kriegt Yorick dann in aller Deutlichkeit gesagt, als ihn Andrea digital rund macht dafür, dass er beider Liebesgeschichte mit in den Roman eingebaut hat. Das empfindet er als Missbrauch. Und es ist auch einer.

Was so manch ein Schriftsteller ja selbst schon erlebt hat: Man kann, soll und muss über das richtige Leben schreiben. Mit dem eigenen Leben darf man da anfangen, was man will, aber die Menschen, die mit einem dieses Leben teilen, sind tabu.

Sie gehören nicht in die Romane. Und wenn sie schon drin sind, dann nicht als die leibhaftigen Menschen, die sie sind. Denn manch ein Autor vergisst das nur zu gern, dass mit seiner Geschichte auch das Private öffentlich wird. Und damit gefährdet und angreifbar.

Was dürfen Romanfiguren?

Wobei Andrea dem zurückgelassenen Yorick noch eine Chance gibt. Denn die Teile seines werdenden Romans hat er ja alle gelesen und auch teilweise mächtig gestaunt, wie Yorick alle Schleusen geöffnet hat und seinen Figuren eine Freiheit gegeben hat, die Romanautoren ihren Helden eigentlich nicht geben dürfen. Denn dass man Figuren nicht zwingen kann, Dinge zu tun, die in ihnen nicht angelegt sind, ist das eine.

Das andere ist die völlige Selbstermächtigung der Helden, die im Grunde eine Überwältigung des Autors ist. Sehr schön nachzulesen in dem wirklich sehr langen Streitgespräch zwischen Aashids sehr extravaganter Geliebter Maryvonne und dem zum neuen Kunststar aufsteigenden Farshid, in dem Farshid am Ende einstimmt in Maryvonnes Rundum-Verurteilung von Macht, Religion und Kulturzerstörung.

Wobei in diesem Fall die Fundamentalisten des Orients keinen Deut besser wegkommen als die des Okzidents. Herzliche Grüße aus der französischen Aufklärung könnte man sagen. Und weil es wirklich ans Eingemachte geht, hat Asjadi/Yorick eine fette Triggerwarnung davorgesetzt und die kommenden Seiten mit einem fetten „Zensiert“-Stempel versehen lassen. Ganz so, als wäre das Manuskript tatsächlich den iranischen Sittenwächtern in die Hände gelangt.

Dabei weiß man da eigentlich schon, dass die ganze Geschichte eigentlich der groß angelegte Versuch Yoricks ist, wenigstens die Geschichte dieser drei Jungen gut ausgehen zu lassen. Wohl wissend, dass all diese grandios sich erfüllenden Träume nur Fiktion sind, angeregt durch kleine, rätselhafte Fundstücke in einem alten Tric-Trac-Kasten, an denen Yorick seine Geschichte aufspult und sich entfalten lässt.

Fließen lässt, könnte man auch sagen. Denn wohin würden einen eigentlich die Träume führen, die man sich im fremden Land erfüllen würde, wenn man nur die Mittel dazu hätte? Einen reichen Onkel Said zum Beispiel?

Schreib die Wahrheit …

Dass es diesen Reichtum gar nicht gibt und Said im langweiligen deutschen München gestorben ist, erfährt man erst ganz zuletzt aus einem Brief, der – wie so manches Dokument – „original“ im Buch zu finden ist, gleichzeitig aber trotzdem Teil von Yoricks Fiktionen. Denn nach Andreas letzter Mahnung bleibt ihm nichts anderes übrig, als dann doch die Wahrheit zu schreiben.

Das, was tatsächlich passiert ist. Kein Traum von Paris und einem sensationellen Erfolg auf dem Kunstmarkt. Nichts davon. Nur ein Leben in einer kargen Münchner Unterkunft, bedroht von echten deutschen Nazis, die sich in ihrer Dummheit und Brutalität in nichts von den Schergen autoritärer Regime unterscheiden.

Wobei es in diesem Fall auch ein fanatischer Evangelikaler aus den USA gewesen sein könnte, der Farshid vor der Asylunterkunft erstochen hat. Auch hier dient ein realistisch aussehender Zeitungsausschnitt für den Beleg der Tat. Und damit für das Scheitern der Träume des jungen Iraners, im Zufluchtsland seine Vorstellungen von Kunst verwirklichen zu können.

Was ja im Grunde ein Lebensaspekt von Asjadi selbst ist, der zwar sein Leben der Kunst widmen konnte, aber die Augen nicht davor verschließt, was mit all den anderen Menschen passiert, die ja auch deshalb aus den Ländern der Mullahs und Diktatoren nach Europa fliehen, weil sie dieselben Träume teilen wie die Europäer. Zumindest derer, die Kunst, Literatur und Freiheit lieben und leben und sich nicht den Narren anschließen, die wieder eine Welt von Vorvorgestern zurückhaben wollen.

Und dass das sehr viel mit den Träumen der Iraner aus der Zeit vor der Islamischen Revolution zu tun hat, daran erinnern vor jedem Kapitel Zitate aus den Gedichten der Dichterin Forugh Farrochzad. Womit dieser Roman im Grunde auch ein Sehnsuchtsroman ist, der daran erinnert, wie reich und lebendig der Iran einmal war und welcher lebendige Reichtum da verloren ging oder gar zum Auswandern gezwungen wurde, teilweise schon unter dem Regime des Schahs, aber erst recht nach dem Sieg der Fundamentalisten. Und so gesehen auch ein Roman der Trauer, den Yorick eigentlich nicht schreiben will, weshalb er ja seinen Figuren alle Freiheiten gibt, die sie im wirklichen Leben nie haben.

Die Wahrheit ist nicht märchenhaft

Und so auch ein Roman des Scheiterns des Autors an seiner Geschichte. Denn da hat Yoricks Ex-Freund Andrea wohl recht, wenn er ihn deutlich auffordert, endlich die Wahrheit zu schreiben. Und die ist eben nicht märchenhaft. Darin gibt es keinen reichen Onkel, der Wunder wahrmacht.

Und dass Yorick die Wahrheit in einen Brief von Shaahin exportiert, macht erst recht deutlich, dass er die eigentliche Geschichte der drei Jungs aus dem Iran so nicht erzählen könnte. Dass es darüber vielleicht tatsächlich nur das zu sagen gibt, was in alten Zeitungsausschnitten zu lesen ist – fragmentarisch, irritierend, Puzzle-Stücke, die zusammen kein ganzes Leben ausmachen.

Die man aber natürlich in einen Tric-Trac-Kasten sammeln könnte, um dann mit viel Phantasie etwas daraus zu machen, was so nie geschehen ist. Wo wir ja alle wissen, dass das, was in Romanen geschieht, ja wirklich nie geschehen ist. Aber könnte es geschehen sein? Wann verrät ein Autor seine eigene Geschichte? Wann sein Anliegen? Wann sich selbst?

Das bleibt offen. Das Leben geht weiter. Aber die Worte von Andrea haben Yorick getroffen. Der Bursche kannte ihn eben doch zu gut: „Er hätte mir die Wahrheit gesagt: Gott ist ein Stümper. Never trust God! Und auch der Erzähler ist ein Stümper. Never trust a writer! Der Erzählergott ist ein Stümper, das hätte Andrea ihm gesagt, planlos und schlampig. (…) Wenn es der Erzählergott nicht im Griff hat, dann hat es auch der Schöpfergott nicht im Griff. So einfach ist das. Q. E. D.“

Ein Dilemma, mit dem sich viele Romanautoren herumschlagen. Und ganze Manuskripte schreddern, wenn ihnen klar wird, dass ihnen ihr Personal entglitten ist. Oder doch liegen lassen als gigantische Baustelle. Denn so ganz unrecht haben ja die Heldinnen und Helden manchmal nicht, wenn sie weder Punkt noch Komma kennen, um ihre Wünsche an die Welt endlich mal alle beim Namen zu nennen. Denn für gewöhnlich hört ja keiner zu.

AsjadiTric-Trac, Faber & Faber, Leipzig 2022, 28 Euro.

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