Das entscheidende Wort in Mona Krassus neuem Roman ist weder Tripperburg noch Diktaturstaat, sondern: Spuren. Und damit sind nicht die Spuren im Schnee gemeint, sondern eines der vielen Worte aus der LTI, die es nahtlos geschafft haben, auch im Sprachjargon der DDR ihren Platz zu finden. Worte, die sehr viel verraten über das Disziplinierungsdenken in Deutschland. Und über das absehbare Ende der DDR. Dabei geht es in dem Buch um ein Mädchen, ein gar nicht so ungewöhnliches.

Wie die Autorin selbst wächst ihre Heldin Solveig in einer kleinen Stadt in Thüringen auf, entdeckt früh ihre Liebe zu Büchern, zu den Gedichten Eva Strittmatters und zum Schauspiel. Später auch zu Udo Lindenbergs Liedern. Sie erlebt die 1970er und 1980er Jahre. Noch funktioniert dieser Staat mit seinen rigiden Vorstellungen vom aktivierten Menschen irgendwie. Auch die Überwachung funktioniert ziemlich reibungslos. Wer einmal auffällt, steht fortan dauerhaft unter Beobachtung. Die Dienststellen greifen ineinander.

Aber wer eine Ahnung davon bekommen will, warum diese Totalüberwachung und das Duckmäusertum so lange funktionieren konnten, der darf den Blick in die Familien nicht unterlassen. Ein Blick, den selbst Soziologen in der Regel ignorieren, weil sie Gesellschaft nach wie vor als statistisches Abstraktum betrachten und nicht als Ort der Prägung von Denk-, Sprech- und Verhaltensweisen, die einen Menschen fürs ganze Leben formen.

Was zwar auch bedeutet, dass die Erziehungsversuche über „gesellschaftliche Organisationen“ meist nicht wirklich gut funktionieren. Aber das merkt kaum jemand, weil sie in der Regel schon auf „fertiges Material“ zurückgreifen können. Denn in der Familie, von ihren Eltern lernen Kinder früh die Verhaltensweisen, mit denen sie sich in der vorgefundenen Gesellschaft behaupten (oder verstellen) können. Oder sollen. Und Eltern erziehen ihre Kinder immer in der besten Absicht. Denn sie wollen, dass diese überleben und eben nicht unter die Räder kommen.

Aber wie passiert das in einer derart durchherrschten Gesellschaft, wie es die DDR bis zum Schluss war?

Wahrscheinlich ist Mona Krassu mit diesem Buch die bislang genaueste Beschreibung einer solchen Erziehung gelungen, wie sie in der DDR eher das Normale war und nicht die Ausnahme. Denn der rigide Ton der Verwalter und Funktionäre sickerte in alle Lebensbereiche ein. Meist war er vorher schon da.

Denn so erfolgreich Viktor Klemperers 1947 erschienes Buch „LTI“ war – so wenig wurde es in der DDR tatsächlich reflektiert. Außer natürlich von den Querköpfen und unabhängigen Geistern, die sich nicht scheuten, die Parallelen zum Sprachgebrauch der DDR zu sehen, der genauso durchtränkt war von unsinnigen Superlativen, dem berühmten Aküfi und – wie in Mona Krassus Buch hochemotional zu erleben – einer Technisierung selbst der persönlichsten Beziehungen.

Menschen wurden gleichgeschaltet, eingetaktet, arbeiteten in Systemen und Apparaten, Kampagnen liefen wie geschmiert oder geölt, es wurde durchgeschaltet und aktiviert. Und vor allem wurde der zu disziplinierende Mensch als zu formendes Teil oder Rädchen betrachtet, er hatte zu funktionieren, zu rotieren, Gas zu geben oder eben zu funktionieren. Und vor allem hatte er auf Linie zu sein und zu spuren. Wobei dieses Spuren schon seit den Nazis immer auch einen drohenden Beiklang hatte: „Wenn du nicht spurst …“

Und es erschreckt, aber es überrascht nicht, dass Solveigs Mutter (die sich als Kaderleiterin schon eine Position erarbeitet hat in der sozialistischen Verwaltungsbürokratie) genau diesen Satz zu ihrer Tochter des Öfteren sagt. Oft aus sichtlicher Überforderung. Aber einer Überforderung, die weniger aus dem auch durch den trinkenden Vater belasteten Alltag kommt, als aus dem äußeren Druck.

Denn in einer Überwachungsgesellschaft überwachen nicht nur die Überwacher. Und auch nicht nur Polizei, Partei und Schulleitung, all das, was einem für gewöhnlich als Erstes einfällt, weil man das Allgegenwärtige nicht sieht. Nicht sehen darf – um hier Alice Miller zu zitieren. Denn wenn selbst ein Schulabschluss, ein Studienwunsch, eine Arbeitsstelle, Wohnung, Ferienplatz usw. systematisch vom Wohlverhalten derer abhängig gemacht werden, die darum bitten müssen, dann sorgt das für einen enormen Druck, der sich logischerweise bis in die Familien durchsetzt.

Und auch fortwirkt. Denn es produziert Verhaltensweisen und emotionale Fehlstellen fürs Leben. Was ja Hans-Joachim Maaz 1990 mit seinem Buch „Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR“ ziemlich deutlich auf den Punkt gebracht hat. Ein Buch, das klassischerweise neben Alice Millers Bücher „Das Drama des begabten Kindes“ und „Am Anfang war Erziehung“ gehört.

Denn Erziehung funktioniert zwar nicht so mechanisch, wie sich das zum Beispiel einst die Nationalsozialisten dachten. Aber sie funktioniert eben doch – vor allem als Einengung. So, wie es Solveig geschieht, die eben nicht nur eine frustrierende Kindheit erlebt, weil sich ihre Eltern zerstreiten, der Vater sich in den Suff zurückzieht und die Mutter sich auf eine neue Partnerschaft ausgerechnet mit dem Stasi-Mann Hartmut einlässt.

Denn Solveig ist eindeutig das, was Miller ein begabtes Kind nennt, frühklug, wie man das einst nannte. Sehr aufmerksam, wissbegierig und auch nicht einfach ruhigzustellen. Nur dass auf ihre Fragen und ihre Forderungen nach Aufmerksamkeit und Verständnis nach dem rigiden Muster der Ruhigstellung reagiert wird.

Der Titel „Falsch erzogen“ assoziiert zwar zuallererst die Sicht der DDR-Funktionäre auf die Störelemente in ihrem Staat, all die jungen Leute (Gammler und Herumtreiber), die aus Sicht der ungnädigen Partei eben falsch erzogen waren, also nicht brav, angepasst und artig. (Benutzt heute noch jemand das Wort „artig“, wenn er ein zur Bravheit erzogenes Kind meint?)

Tatsächlich passt das „falsch erzogen“ ja gar nicht, denn Solveigs Mutter und erst recht der zu drastischen Bestrafungen neigende Hartmut machen ja eigentlich alles richtig – im Sinn eines autoritären Staates, der Erziehung immer auch als Maßregelung und Bändigung verstand und dafür ein lückenloses System der Korrektionsanstalten geschaffen hat, zu dem auch die Heime und Jugendwerkhöfe gehörten. Und es war durchaus üblich, Kindern, die nicht gehorchten, mit dem Heim zu drohen: „Wenn du nicht artig bist …“

Und das Bedrückende an der Geschichte, die in weiten Passagen sehr authentisch wirkt, ist eben das Versagen der Mutter, der es nicht gelingt, ein emotionales Verständnis für ihr unangepasstes Kind zu entwickeln. Und dazu kommen dann noch reihenweise Personen aus dem Umfeld, die genauso auf ihren untadeligen Ruf als Funktionsträger bedacht sind und als emotionale Hilfe ausfallen – die Lehrer/-innen genauso wie die Nachbarn und Arbeitskollegen der Eltern. Wobei es da durchaus Abstufungen gibt – von den panischen Vollstreckern bis hin zu den in ihrer Rede Gehemmten.

Denn wenn ein Land von Sprech- und Denkverboten durchtränkt ist und den meisten Menschen die Angst im Nacken sitzt, mit irgendeiner unbedachten Äußerung ins Visier der staatlichen Überwacher zu geraten, dann beginnt die Gegenwart sich mit Lügen und Drumherumreden zu füllen. Und Kinder wie diese Solveig, die jedes Wort ernst nimmt und wissen will, was dahinter steckt, geraten in regelrechte Nöte. Denn das Allerwichtigste, was einen Menschen vertrauenswürdig macht, seine Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, werden da auf einmal zur Gefahr.

Was übrigens viele Reaktionen der sichtlich überforderten Mutter erklärt – aber nicht alle. Und auch das Stummsein des Vaters – wenn auch nicht immer. Aber gerade hier wird Krassus Geschichte besonders ergreifend und treffend, weil sie hier vorführt, wie dieses institutionell gesäte Misstrauen direkt die persönlichsten Vertrauensbeziehungen zerstört. Kinder merken das – und die meisten passen sich schnell an, wenn sie merken, dass jedes Abweichen von der Linie mit Unsicherheit und Vertrauensentzug bestraft wird.

So wie Solveigs Schwester Susanne. Aber Solveig ist das nicht gegeben. Sodass sie einiges von dem erlebt, was unangepasste junge Menschen in der DDR immer wieder erlebten, auch wenn ihr Weg nicht im Heim endet und sich auch die Beziehung zu ihren Eltern wandelt. Sie erzwingt mit ihren oft überraschenden Aktionen und Fluchten geradezu, dass sich die Eltern verhalten müssen – und dabei in der Regel ziemlich ratlos sind.

Die aber gleichzeitig auch ganz genau wissen, dass auch die DDR ein Land der Hierarchien ist, mit einer neuen Aristokratie, die sich in ihrer eigenen Blase einer scheinbar gleichberechtigten Gesellschaft eingerichtet hat, ihre Privilegien aber genauso rücksichtslos in Anspruch nimmt wie die verachtete Elite im anderen Teil Deutschlands. Was selbst in dem Spruch von Solveigs Vater sichtbar wird: „Weil ich nur Maurer bin, darum. Die besseren Tische sind für die Sesselfurzer.“

Das Gefühl der Zurücksetzung, das wurde nicht erst nach 1990 geboren. Das wurde vorher schon anerzogen. Auch wenn man durchaus die starken Emotionen versteht, die auf einmal hochschwappen, als die Theatergruppe, in der Solveig am Ende mitspielt, am 9. November 1989 von der Öffnung der Mauer erfährt. Aber wer den Moment genau erspürt, merkt, dass das alles nichts mit deutscher Einheit und dem ganzen Geschwafel von Freiheit zu tun hat, wie uns die neueren Geschichtskorrektoren ständig zu erzählen versuchen, sondern mit dem Gefühl der Befreiung. Die Mauer war nicht das Symbol der deutschen Trennung.

Das ist nur die westdeutsche Sicht. Es war ein Symbol des Eingesperrtseins, des Unmöglichseins, der Sprach- und Denkverbote, des Propfens, der das Land nicht nur bedrückte, sondern auch sprachlos machte und – siehe Maaz – die elementarsten Gefühle unmöglich machen sollte.

Und so funktioniert diese Szene auch, in der die Schauspieler Kerzen anzünden und auf einmal aus tiefer Ergriffenheit „Auferstanden aus Ruinen“ singen.

Dass es für Solveig nicht wirklich die Befreiung ist, weiß man als Leser spätestens, nachdem sich auch Mona Krassu weigerte, die erniedrigende Behandlung in der Geschlossenen Venerischen Abteilung der Poliklinik Mitte in Halle zu schildern, wohin Hartmut das Mädchen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen geschickt hat. Erst Sören, der Regisseur, hilft Solveig mit einem darüber geschriebenen Stück, das Trauma wenigstens zu benennen und zu greifen zu bekommen. Aber man ahnt, dass dieses Erlebnis sie ihr Leben lang begleiten wird und ihr unbelastete sexuelle Beziehungen fortan fast unmöglich machen wird.

Und noch einmal zurück zu diesem 9. November 1989: „Draußen gab es ein Meer brennender Kerzen. Wir reihten uns ein. Ich sah so viele Leute, die weinten und sich umarmten. Ich wurde auch umarmt, von Menschen, die ich gar nicht kannte. Aber das war egal. Ich ließ es zu.“

Viele Ostdeutsche haben diesen Moment schon am 9. Oktober erlebt oder bei einer der vielen folgenden Demonstrationen. Ein Moment, der für viele tatsächlich bedeutete, endlich wieder Gefühle zulassen zu dürfen.

Gefühle, die man zuvor lieber nicht zuließ, weil sie immer verräterisch sein konnten. Aber das kann wohl nur begreifen, wer es selbst erlebt hat. Und auch, was es bedeutet, wenn Solveig nach all den Verrätereien an ihr, all den Enttäuschungen und Abweisungen jetzt, im Moment der Befreiung sagen kann: „Ich ließ es zu.“

Mona Krassu Falsch erzogen, Edition Outbird, Gera 2020, 18,50 Euro.

Die ehemalige Leipziger Arbeitsanstalt Riebeckstraße 63: 100 Jahre Verwahren, Wegsperren und Bestrafen

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