Denn das Grauen siehst du nicht. So könnte man nicht nur Thriller betiteln, sondern auch historische Romane über unsere jüngere Geschichte. Romane, wie sie die Leipziger Autorin Cornelia Lotter jetzt schreibt. Krimileser/-innen kennen Sie noch als Autorin von Thrillern wie „Gottesgericht“, ein Buch, das sie unter dem Titel „Blutangst“ gerade überarbeitet. Aber Thriller lassen uns so leicht vergessen, dass es in der Regel keine „Einzeltäter“ sind, die das Grauen in unsere Welt bringen.

Sondern biedere Befehlserfüller, Opportunisten, Amtsvollstrecker, Leute, denen man morgens auf dem Weg zur Arbeit begegnet, stolz darauf, ihre Arbeit stets in treuer Pflichterfüllung abzuleisten und auch nicht gemosert zu haben, wenn die Dienstanweisungen auf einmal seltsam und inhuman wurden. Das gilt auch für Leipzig.Ohne diese Leute, die bereitwillig jeden Befehl erfüllen, hätte es die Untaten des Hitler-Regimes nicht geben können. Ein Thema, mit dem sich ja bislang nur wenige Historiker wirklich beschäftigt haben, Daniel Jonah Goldhagen etwa mit „Hitlers willige Vollstrecker“. Auch wenn die meisten Historiker Goldhagens Thesen als zu eindimensional ablehnten.

Was in gewisser Weise auch stimmt. Der Faschismus ist nicht allein aus sich selbst erklärbar und auch nicht aus der willigen Bereitschaft von Menschen, zur Bestie zu werden, wenn man ihnen nur die Möglichkeit dazu gibt. Er lebt auch aus einem uralten Verständnis von Macht und Recht und dem staatlichen Umgang mit ausgegrenzten Menschen.

Eine Geschichte, die auch die ehemalige Arbeitsanstalt Riebeckstraße 63 erzählt. Ein erstes Buch, das sich mit der Geschichte dieser Anstalt und ihren verschiedenen Korrektions- und Bestrafungsfunktionen in den verschiedenen Gesellschaften seit der Kaiserzeit beschäftigt, erschien ja 2020: „Die ehemalige Leipziger Arbeitsanstalt Riebeckstraße 63“.

Gebaut hat sie die Stadt Leipzig selbst, um in dieser Einrichtung Bettler, Obdachlose, „arbeitsscheue Elemente“ zu verwahren und zu „erziehen“. Eine Anstalt, die für das späte 19. Jahrhundert dieselbe Haltung manifestierte, die dann 2005 auch als Geist in die „Hartz-IV“-Gesetzgebung Einzug hielt.

Gerade im konservativen Teil unserer Gesellschaft ist diese Haltung gegenüber den am Rande oder im Abgrund der Gesellschaft Lebenden bis heute manifest. Und sie liegt sämtlichen Korrektionsmustern des 20. Jahrhunderts zugrunde, egal, ob es nun bürgerlich-konservative, faschistische oder „sozialistische“ waren.

Und darum geht es auch in Cornelia Lotters neuem Roman, einem der ersten, den sie konsequent im Selfpublishing herausbrachte, ganz ohne reichweitenstarken Verlag im Hintergrund. Aber dafür hat sie bei der Produktion der Bücher alles in eigener Hand und kann auch selbst planen, in welchen Takten ihre Bücher erscheinen. Denn rund um das Thema Zweiter Weltkrieg plant sie eine ganze Reihe von Romanen, von denen einige an Leipziger Orten des Grauens spielen und das, was Menschen dort erleiden mussten, lebendig werden lassen.

Und nach jahrelangem Schweigen über diese Orte hat sich ja in den letzten Jahren eine lebendige Bewegung zur Aufarbeitung dieser unsichtbaren Geschichten gebildet. Insbesondere jüngere Forscher/-innen beschäftigen sich inzwischen intensiv mit den vielen Zwangsarbeiterlagern in Leipzig, von denen das Zwangsarbeitslager der HASAG nur das bekannteste war.

Und rund um die Riebeckstraße 63 hat sich ein Initiativkreis gebildet, der nun mit einigem Arbeitsaufwand nach und nach rekonstruiert, wozu die Gebäude in der Riebeckstraße im Lauf ihrer Geschichte alles missbraucht wurden und welche Schicksale die hier Arretierten erlitten.

Cornelia Lotter, die im Initiativkreis mitarbeitet, versucht in ihrem Roman einen größeren geschichtlichen Bogen zu spannen, indem sie die Frauen dreier Generationen in der Riebeckstraße landen lässt, angefangen mit Olga, der aus der Ukraine verschleppten Zwangsarbeiterin, die in der Riebeckstraße unter der Anschuldigung landet, Sabotage betrieben zu haben, über ihre Tochter Sonja, die von der Stasi in die „Tripperburg“ verbracht wird, bis zu deren Tochter Carola, der fast 20 Jahre später dasselbe passiert.

Solche Einrichtungen werden von konservativen Politikern gern als notwendige Erziehungsanstalten behauptet, in denen „unangepassten“ Menschen die Regeln der Arbeitsgesellschaft beigebracht werden sollen, die also in dem Sinn sozialisiert werden sollen, obwohl es seit Beginn solcher Korrektionseinrichtungen immer nur darum ging, Menschen gefügig zu machen und ihren Willen zu brechen.

Und in diesem besonderen Fall besonders den junger Frauen, von denen viele Schädigungen fürs Leben davontrugen. Ein paar dieser Erniedrigungsmittel schildert Cornelia Lotter sehr genau und ebenso die Hilflosigkeit der jungen Frauen gegenüber den Gewaltmaßnahmen. Maßnahmen, die eben zuallererst davon erzählen, wie selbstverständlich das konservative Verständnis ist, „Recht und Ordnung“ durchsetzen zu müssen, das auch zum sexuellen Übergriff insbesondere auf Frauen wird.

Es verblüfft schon, wenn man weiß, dass diese Art Denken ganz und gar nicht verschwunden ist. Es überlebt selbst Diktaturen, auch wenn die Leute, die so denken, nur zu gern so tun, als hätten sie mit all dem nichts zu tun. Wenn sie sich nur gegenseitig einreden, es mit „Asozialen“, „Linksextremen“, „kriminellen Ausländern“, „Illegalen“ oder anderen inkriminierten Gruppierungen zu tun zu haben, ist für sie jede Gewaltmaßnahme rechtens.

Auch wenn Cornelia Lotter sich eine weitere Frauengeneration erspart hat. Denn zumindest in der Riebeckstraße 63 würde eine Tochter von Carola keine traumatischen Erfahrungen mehr machen müssen. Und eigentlich geht es auch weniger um die Täter, die in der Geschichte weitgehend anonym bleiben, wie das mit den willfährigen Tätern meistens so ist. Wenn die grauenvolle Zeit vorbei ist, sind sie auf einmal wie vom Erdboden verschwunden.

Aber im Zentrum von Cornelia Lotters Roman stehen drei selbstbewusste Frauen, die sich zwar gegen die Übergriffe nicht wehren können, die aber auch unter widrigsten Umständen ihre Würde und ihren Stolz bewahren, auch wenn das gerade Sonja besonders schwerfällt, die auf der Suche nach ihrem niederländischen Vater nicht nur in das Netz der Stasi gerät, sondern auch noch ihren Führungsoffizier heiratet, was zum dauerhaften Zerwürfnis mit ihrer Mutter Olga führt.

Viel zu spät begreift sie, wie manipulativ ihr Ehemann immer agiert hat. Und als selbst ihre Tochter Carola aufgegriffen und in die Riebeckstraße verfrachtet wird, merkt sie, dass für diesen Mann Menschen immer nur Werkzeuge waren. Auch so ein Aspekt des autoritären Denkens, das nicht wirklich verschwunden ist. Davon dürften viele Frauen eine Geschichte zu erzählen haben und sich in einer der drei Frauengestalten durchaus wiedererkennen, vielleicht auch in allen dreien.

Denn alle drei haben sich nicht alles gefallen lassen, haben ihr Leben in die eigene Hand genommen und am Ende auch ihre Sprache wiedergefunden. Natürlich vor allem angetrieben durch Carola, die in gewisser Weise auch für die dritte Generation der DDR-Bevölkerung steht, die „Hineingeborenen“, um den Dichter Uwe Kolbe zu zitieren.

Die in einer Zeit erwachsen wurden, in der die alten Verheißungen nicht mehr wirkten und im Alltag der Verschleiß des großen Projekts Sozialismus sichtbar wurde. Und eben auch die Übergriffigkeit der Mächtigen, die die Kinder in den Schulen nur noch mit Phrasen abspeisten, die Carola nicht mehr bereit ist zu akzeptieren.

Es ist genau die Generation, die den Vertrag mit den regierenden Alten aufkündigte, die meisten passiv (indem sie sich nur noch nach Westen orientierten) und einige aktiv, indem sie widersprachen und nach einem ehrlicheren Leben abseits der vorgegebenen Muster suchten. Was Carola auch konsequent tut in diesem Buch. Sie hält das Schweigen und Drumherumreden einfach nicht mehr aus und arbeitet lieber im Altersheim, als sich in irgendeiner Weise den Erwartungen der Herrschenden zu fügen.

So rückt freilich auch der „Schweigeort“ Riebeckstraße 63 am Ende immer mehr aus dem Bild. Er hat – auch in dieser Geschichte – seine Funktion erfüllt und Carola endgültig davon überzeugt, dass dieser Staat keine Zukunft hatte und haben durfte. Statt sie zu brechen, hat die Übergriffigkeit des stur seinen „Dienst“ tuenden Arztes sie endgültig dazu gebracht, sich in diesem Land nichts mehr gefallen zu lassen. Und natürlich auch nicht das Schweigen der Mutter über ihre Oma und ihren Vater.

Man kann sich Carola wohl tatsächlich ein bisschen so vorstellen wie das Mädchen auf dem Cover – nicht auszuhalten für all die „Braven“ und „Anständigen“, die so gern die hundsgemeine Phrase im Mund führen: „Sowas hätte es früher nicht gegeben …“ All diese verbitterten Feiglinge, die jeden Staat mittragen, egal, was es für einer ist. Und die sich selbst belügen, als wären sie selbst niemals jung gewesen, sondern immer schon angepasst.

Dabei erzählen auch die Geschichten der Diktaturen davon, dass es die Widerständigen, die sich ihre Menschlichkeit nicht nehmen lassen wollten, immer gab. Zu jeder Zeit, in jeder Gesellschaft. Nur meist nicht in den mit Phrasen angefüllten Medien der jeweils Mächtigen und Ruhmreichen, all der Diederich Heßlings, die es auch immer wieder gibt: Karriereritter, selbst ernannte Schupos und Populisten, Leute, denen jedes Mittel recht ist, nach unten treten zu dürfen.

Und dabei waren wir da doch 1990 endlich mal raus? Leider nein. Weshalb ich den Verdacht habe, auch Carolas Tochter wäre ein rebellisches Kind geworden, auch in der neuen Zeit.

Wobei es Cornelia Lotter lieber beim Happyend belässt, in dem die drei Frauen wieder zueinander finden und Olga richtig stolz ist auf ihre Enkelin. Wer solche Enkelinnen hat, darf Zuversicht haben, dass sich die Welt zum Besseren ändert. Denn das vollbringen nur die Rebellischen, die sich nicht brechen und unterkriegen lassen. Die anderen latschen immer nur hinterher und behaupten dann, der Wind habe sich gedreht.

Das klingt so, als wäre eine Gesellschaft immer nur ein Fähnchen im Wind und niemand wirklich schuld an dem, was passiert ist. Das spricht den Tapferen ihre Rechtmäßigkeit ab und wertet die Feigen auf. Auch das ist typisch deutsch. Und es sorgt dafür, dass wichtige historische Aufarbeitungen erst spät, oft viel zu spät beginnen können.

Wie zu den Orten des Grauens, die es auch in Leipzig gab und über die man seinerzeit besser nur hinter vorgehaltener Hand sprach, denn einerseits waren sie als Mittel der Drohung gedacht, andererseits stellten sie den schönen Schein einer humanen Gesellschaft infrage, den die Übergriffigen mit aller Macht aufrechterhalten wollten.

Doch gerade im Umgang mit den Schwächeren erweist sich, wie human eine Gesellschaft tatsächlich ist. Und dazu gehören nun einmal Frauen, Kinder und Jugendliche. Und die Jugendwerkhöfe in der DDR erzählen eine genauso eindeutige Geschichte dazu wie das Frauenzuchthaus Hoheneck. Und die Riebeckstraße 63 wird nicht der einzige Unort bleiben, zu dem Cornelia Lotter eine Geschichte erzählt. Sie hat eine ganze Reihe Romane dazu geplant.

Lesung: Einen dieser Romane stellt sie am heutigen Mittwoch, 28. Juli, im Stadtteilladen in der Pörstener Straße 9 in Kleinzschocher vor. Dort liest sie auf Einladung des Lixer e. V. um 20 Uhr aus ihrem Roman „Schwarzer Mohn‘, in dem Lixer (Spitzname von Karl Hauke, um dessen Familie es im Roman geht) eine Rolle spielt.

Der Roman behandelt den kommunistischen Widerstand des Internationalen Antifaschistischen Komitees um die Familie Hauke zusammen mit sowjetischen Zwangsarbeitern, berührt sich also mit der Geschichte von Olga, die sich nach Kriegsende 1945 ja weigert, den blumigen Versprechungen zu folgen und in die zerstörte Ukraine zurückzukehren.

Cornelia Lotter Schweigeort, Books on demand, Norderstedt 2020, 12,90 Euro.

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