Die jungen Leute im Leipziger Jugendparlament verfolgen sehr aufmerksam, was so in Sachen Kolonialismus in Leipzig alles bekannt wird. Es ist ja sowieso schon verblüffend, dass die Aufarbeitung der Leipziger Kolonialgeschichte mit 100-jähriger Verspätung begonnen hat. Was natürlich einen Grund hat: Sie ist im öffentlichen Stadtraum so gut wie nicht sichtbar. Doch als es um billige Produkte aus den Kolonien ging, waren auch Leipziger Unternehmen wie die Baumwollspinnerei mit dabei.

Katrin Löffler hat in ihrem Buch „Leipzig und der Kolonialismus“ auch erste Leipziger Unternehmen benannt, die sich das Geschäft mit den Kolonien seinerzeit nicht entgehen ließen.

„Aber auch Leipziger Firmen suchten nach Wegen, um Gewinn aus den territorialen Eroberungen zu ziehen“, schreibt sie. „Zu den Unternehmen, die koloniale Projekte betrieben, gehörte die 1884 gegründete Baumwollspinnerei. Sie bezog 1908 erste Baumwollballen von eigenen ostafrikanischen Plantagen und beschäftigte dort über 2.000 Arbeiter, der wirtschaftliche Erfolg stellte sich jedoch nicht im erhofften Maße ein.“

Aber es ist nicht der einzige Punkt, der nicht sichtbar ist, wenn man das heute als Kunststandort genutzte Betriebsgelände betritt.

„Kunstoase und Westkultur, das bedeutet die Baumwollspinnerei heute. Ihre Geschichte hingegen zeichnet ein anderes Bild“, stellt jetzt ein neuer Antrag aus dem Jugendparlament fest.

„Auf dem Gelände der Baumwollspinnerei ertrugen im Verlauf der letzten 150 Jahre viele Arbeiter/-innen oder Andere unerträgliche und unverständliche Zustände. Es scheint, als ob in vier verschiedenen Nationalstaaten Menschen zur Arbeit gezwungen, genötigt und verurteilt wurden. Auf dem Gelände sucht man vergeblich nach einer Spur des Martyriums der Gezwungenen, Genötigten und Verurteilten. Dies steht im direkten Konflikt mit dem aufgeklärten Beiklang, den der Namen dieses Ortes heute genießt. Kunst und Kultur ohne Reflexion der Geschichte des Ortes, wo sie stattfindet, schadet der Bedeutung der Kunst und Kultur. Eine klare Aufklärung und ein bereinigtes Verhältnis des Ortes zur Geschichte, mit der Verknüpfung zur Erinnerungskultur (mehr als der läppische und mit Sicherheit nicht vollständige Eintrag auf der Website) kann dieses in meinen Augen moralische Dilemma beheben.“

Ein Eintrag auf der Website der Spinnerei lautet zum Beispiel: „Für die harte Fabrikarbeit mussten nicht nur viele, sondern noch dazu besonders kompetente Leute gefunden werden. Man holte sie aus den klassischen europäischen Textilorten in Sachsen, Bayern, dem Erzgebirge, Württemberg, aus Polen und Tschechien, aus Österreich und der Schweiz. Ein vielsprachiges Völkergemisch mit all seiner Energie, die Chronik der Spinnerei berichtet aber auch von den Konflikten und Raufereien.“

Für Leipziger Verhältnisse sind die Einträge zur eigenen Geschichte auf der Website der Spinnerei sogar sehr ausführlich, auch wenn das „Afrikanische Abenteuer“ die Ausbeutung der afrikanischen Arbeiter nicht thematisiert.

Zu den Arbeitsverhältnissen in der NS-Zeit gibt es ebenso einen eigenen Eintrag, in dem man u.a. lesen kann:

„Die andere Seite dieser ‚national-sozialen‘ Medaille waren schwarze Listen gegen unliebsame Gegner der Diktatur, gegenseitige Kontrollen sowie ‚Säuberungen‘ des Betriebs von KPD- und SPD-Mitgliedern. Die Leipziger Baumwollspinnerei hatte es zwar abgelehnt, KZ-Häftlinge in die Produktion aufzunehmen, bekam aber 500 ausländische Zwangsarbeiterinnen zugewiesen. Für diese wurden im Erdgeschoss der 1. Spinnerei Küchen, Wasch-, Schlaf- und Aufenthaltsräume geschaffen. Für die Zurückweisung der KZ-Häftlinge war möglicherweise Aufsichtsrat Walter Cramer ausschlaggebend, der sich im Kreis um Leipzigs ehemaligen Bürgermeister Dr. Carl Goerdeler am zivilen Widerstand gegen die Nationalsozialisten beteiligt hatte.“

An Walter Cramer erinnert seit 2013 auch ein Stolperstein in der Gustav-Mahler-Straße.

So gesehen ist die Spinnerei bei der Darstellung ihrer Geschichte schon deutlich weiter als andere einstige Fabrikstandorte in Leipzig.

Aber da geht noch mehr, findet das Jugendparlament und beantragt: „Der Stadtrat beauftragt die Stadtverwaltung in Kooperation mit den aktuellen Mieter/-innen, Pächter/-innen oder Eigner/-innen, unabhängigen Historiker/-innen, der Universität Leipzig und mit in diesem Bereich engagierten Vereinen (bspw. Engagierte Wissenschaft e. V., WegWohin e. V.), eine gründliche Aufarbeitung der Involvierung der ehemaligen Baumwollspinnerei in folgenden Aspekten zu erwirken:

1. Die Verstrickung in Lobbyarbeit zum kolonialen Erwerb und Unternehmen, die für Baumwollplantagen in den deutschen Kolonien verantwortlich waren und die daraus resultierenden dortigen Hungerkatastrophen in der Kaiserzeit

2. Die mögliche unwürdige Beschäftigung von ‚Arbeitsunwilligen‘, ledigen Frauen und Kindern in der Kaiserzeit und Weimarer Republik

3. Die Beschäftigung von Zwangsarbeiter/-innen im Zweiten Weltkrieg, später möglicherweise auch KZ-Häftlingen

4. Die Arbeitsumstände und Behandlung von Vertragsarbeiter/-innen verschiedener Herkünfte in der DDR

5. Die unwürdigen Arbeitsbedingungen in den ersten Jahren der DDR bzw. unter sowjetischer Besatzung.

Die Ergebnisse werden der Öffentlichkeit präsentiert, in das in Erarbeitung befindliche Konzept Erinnerungskultur aufgenommen und es wird eine Möglichkeit gefunden, auf dem Spinnerei-Gelände oder im Umfeld, an bekannte Vergehen und Leidtragenden zu erinnern. Die Umsetzung erfolgt bis 2023.“

Eigentlich ist das ein Antrag, der in ein deutlich größeres Projekt münden könnte, denn diese Fragestellungen betreffen alle größeren Unternehmen Leipzigs bis 1990, von denen ja die meisten nicht mehr tätig sind. Trotzdem ist es ein wesentlicher Aspekt der Leipziger Geschichte, der eben auch sichtbar machen würde, wie stark Leipziger Unternehmen von der teils menschenunwürdigen Ausbeutung von Arbeitskräften profitierten.

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