40 Opern in einem kleinen Büchlein? Das geht doch gar nicht, erwidert der ausdauernde Operngänger. Nicht eine einzige Oper passt in so ein Büchlein. Da sind drei, vier, fünf Stunden pralles Drama. So etwas lässt sich nicht in drei vier Sätzen sagen. Doch, fand Katharina Kleinschmidt und dampfte die berühmtesten 40 Opern auf ihren Kern ein. Selbst für Opernneulinge der knackige Einstieg in eine von Emotionen berstende Welt.

Denn um Emotionen geht es. Ging es von Anfang an, als ein paar experimentierfreudige Italiener das alte griechische Drama wieder zum Leben erwecken wollten mit all seinem Pathos, den großen Chören und der Musik als Stimmungsmacher. Es wurde dann zwar kein Revival des antiken Dramas – aber die Oper ward geboren, noch ungelenk, unfertig, etwas steif.Aber wenn so ein Weg erst einmal eröffnet ist, fügt sich bald alles von selbst, werden sperrige Bauteile ersetzt, gibt es mehr Musik und mehr Glanzpartien für die begabten Sänger. Ein musikalisches Genre, das so vom Beifall des Publikums abhängt, passt sich an. Oft ahnt das Publikum gar nicht, wie es selbst beeinflusst, was vorn auf der Bühne passiert.

Oft begreifen es nicht mal die Impresarios, Komponisten und Sänger. Auch wenn es alle irgendwie im Gefühl haben, dass es eigentlich zuallererst um Gefühle geht, nicht um ausgefuchste Geschichten, Politik oder Welterklärung. Wer eine Oper besucht, sucht all das nicht. Manchmal bekommt er es doch. Das wird dann zuweilen zum Skandal, weil es dem Publikum, das doch eigentlich nur mal rauswill aus dem Alltag, zeigt, dass Leben und Drama eins sind.

Und manchmal sind auch die scheinbar so simplen Vorgänge auf der Bühne auch nur ein (zufälliges) Spiegelbild dessen, was draußen passiert. Das konnte so manchem Librettisten schon mal gewaltig Ärger verschaffen in Zeiten, da es allein erst die Adelshäuser waren, die sich Opern und Sänger leisteten. Wer wird denn Politik haben wollen, wenn man sich einfach nur drei Stunden wunderbare Herzensgeschichten bestellt hat?

Und so tauchen gerade in den größten, berühmtesten und am häufigsten gespielten Opern immer wieder ganz ähnliche Geschichten auf, gern mit verkannten Prinzen und Aschenputteln, betrügerischen Liebhabern, alten, verliebten Gockeln, cleveren Dienern, Mägden und Friseuren. Und jeder Menge Irrtümer, Verwirrungen, Tricks und Täuschungen, bei denen man nach dem 1. Akt meist schon nicht mehr durchblickt.

Ganz zu schweigen von den wort- und tongewaltigen Erklärungen der Leute, die sich da vorn in ihren eigenen Plänen und Machenschaften verstricken. Was aber nie schadet – zumindest der Aufregung da vorne nicht und der Spannung im Saal. Manchen der Held/-innen schon. Kaum eine große Oper geht ohne tragische Todesfälle zu Ende. Oft wartet man ja gerade auf diese – und die minutenlangen Klagegesänge der zu spät kommenden Liebenden.

Natürlich gibt es auch berühmte Variationen. Eine Mozart-Oper bietet eben doch einen märchenhafteren Stoff als etwa Beethovens „Fidelio“ oder die einmalige „Carmen“, die dem Publikum etwas zeigte, was es zuvor ganz heftig sublimierte. Seither ist Oper wesentlich lebhafter geworden, haben sich auch die Inszenierungen verändert.

Was freilich verblüfft: Fast alle Opern, die zum beliebten Dauerrepertoire der Opernhäuser in aller Welt gehören, stammen aus dem 19. Jahrhundert. Hier gerann die Oper zu ihrer klassischen Form, schrieben sich Rossini, Puccini, Weber, Wagner, Verdi und Bizet für alle Zeiten ins Herz der Opernwelt ein. Manchmal auch in das der begnadeten Komiker, wenn man an Loriots herrlich eingedampften Wagnerschen „Ring“ denkt.

Aber bei Katharina Kleinschmidt werden die Kurzbeschreibungen dessen, was in der Oper tatsächlich passiert, noch deutlich kürzer. Kleine Vignetten zeigen gleich an, ob es Liebe gibt im vorgestellten Werk (eigentlich immer), ob es tragische Todesfälle gibt (fast immer), ob es lustig wird (nur in den wenigen berühmten Stücken), ob in Originalsprache gesungen wird und wie lange eine normale Inszenierung dauert. Dazu gibt es noch ein paar kleine Notate zu Wissenswertem.

Etwa dass man auch gern zuvor bei Shakespeare nachlesen darf, wenn man „Die lustigen Weiber von Windsor“ von Otto Nicolai sehen möchte – oder auch Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“, die Stalin persönlich vom Spielplan verbannte (und damit den Komponisten in eine jahrelange Angst versetzte, nachts zur Erschießung abgeholt zu werden).

Aber wer inszeniert die Schostakowirtsch-Oper eigentlich? Im Grunde endet das große Zeitalter der Opernkomposition ja 1926 mit Puccinis „Turandot“. Und wenn Kleinschmidt die Probleme von Zimmermanns „Die Soldaten“ von 1965 schildert, ahnt man, dass die moderneren Komponisten ein Problem haben. Sie wollen zu viel und überfordern ein Publikum, das nicht in die Oper geht, um sich jetzt eine neue Version von Gesellschaftskritik anzuschauen.

Und das gar mit aufwendigen künstlerischen Experimenten. Das mag die Fachpresse faszinieren – aber es geht an den Interessen eines Publikums vorbei, das an einem langen Opernabend nicht immerzu gezeigt bekommen möchte, wie chaotisch die Welt ist. Das wissen die Zuschauer/-innen in den Samtsesseln meist nur zu gut.

Gerade die kleinen Texte, die Kleinschmidt geschrieben hat, zeigen, dass Oper eigentlich ein Therapeutikum ist, ein Ort, wo man sehen kann (und darf) wie menschliche Leidenschaften die Welt bestimmen: Gier und Neid, Eifersucht, Rache, Stolz und Übermut. All diese seltsamen Triebkräfte im Leben, die nicht einfach verschwinden, nur weil die Welt vielleicht aufgeklärter und vernünftiger geworden wäre.

Der simple Blick in die Nachbarschaft, in die kleine und die große Welt zeigt, dass tatsächlich überall ganz ähnliche Narren und Übermütige, von ihrem Zorn und ihrer Liebe, ihrer Geltungssucht und ihrer Gier Getriebene lauter Dinge anrichten, die geradezu Stoff bieten für Opern aller Art – voller tragischer Verwicklungen, falschem Pathos und jeder Menge sinnloser Tode.

Oper ist die gelingende Inszenierung der Tatsache, dass es in der Welt der Menschen meist weder vernünftig noch klug zugeht, dass auch die Wirklichkeit nur ein großes Theater ist. Halt nur ohne die grandiosen Sängerinnen und Sänger, die einem im Opernhaus das Gefühl geben, dass es tatsächlich noch ganz große Leidenschaft und Unschuld gibt in der Welt. Und dass es manchmal eben doch noch eine Rettung in höchster Not gibt.

Oder wenigstens die grandiosen Chöre und Arien, die in den Zuhörenden selbst wieder die Glut anfachen, das herrliche Gefühl, dass das Leben eigentlich doch großartig und lebenswert ist. Und sei es nur, um diesen Gesängen lauschen zu können oder sich von diesem Orchestersturm tragen zu lassen, der einen durch die ganze Geschichte reißt.

Und wenn man nicht gerade in einem Brunetti-Krimi gelandet ist, kommen die gerade erst so klangvoll Verstorbenen ja alle wieder zum Schlussapplaus auf die Bühne. Und wer vorher wusste, wie schön das heute wieder wird, hat sich vorher einen Blumenstrauß besorgt oder zwei oder drei, um sie möglichst elegant auf die Bühne zu befördern.

Eins weiß man jedenfalls nach dieser burschikosen Reise durch 40 große Opern: Es würde uns gewaltig etwas fehlen, gäbe es sie nicht mehr. Das können auch Filmepen nicht ersetzen, die nur zu gern gleich ganze Opernmusiken übernehmen. Dazu ist der dort gepflegte Helden-Begriff schlicht der falsche. Denn auch wenn sich alle unsre Opernlieblinge märchenhaft verkleiden, sind wir doch immer auch gemeint.

Im Märchenkostüm begegnet uns unsere eigene Leidenschaftlichkeit – manchmal auch auf sehr erhellende Weise, denn ungebändigte Leidenschaft führt nur zu gern zu allerlei tragischen Vorkommnissen. Man lernt gewissermaßen etwas dabei – aber man muss es nicht lernen. Es ist eben keine „moralische Anstalt“, sondern sogar ein Gegenstück gegen eine falsch verstandene vernunftkalte Moral, die meist eher eine bürokratische Lebensverwaltung ist, in der für große Leidenschaft kein Platz mehr ist.

Zu Mozarts und Rossinis Zeiten waren es andere Umstände, die Standes- und Anstandsregeln vorgaben. Aber das genießende Publikum wusste sehr wohl darum, das dem so war und dass Oper auch gerade mit diesen Tabus spielte. Man genoss es regelrecht. Heute verstecken wir selbst unsere Tabus, obwohl sie wie fette Elefanten im Raum stehen. Wir tun so, als wären wir frei davon.

Aber jeder gelungene Opernabend zeigt uns, dass wir so frei nicht sind – mal abgesehen von den Wütenden, Zornigen und Gierigen, die sich umso wohler fühlen, je weniger Liebe noch unter den Menschen lodert. Wir werden von den falschen Leidenschaften regiert. Und das merkt man zuweilen, ob nun bei Verdi oder Smetana, wenn man nachher völlig geplättet das Opernhaus verlässt und schon riecht, dass es morgen früh so bürokratisch verbissen weitergeht wie gestern und vorgestern. Oper hält tatsächlich so etwas wie den Traum am Leben, dass es darin auch richtig feurige Leidenschaft geben könnte.

Und das Büchlein lädt dazu ein, genau das mit dem nötigen Vorwissen einfach mal kennenzulernen.

Katharina Kleinschmidt Kleiner Opernführer, Buchverlag für die Frau, Leipzig 2021, 5 Euro.

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