Mit Stille kennt er sich aus: der Autor. Studierter Theologe und leidenschaftlicher Fußgänger Georg Magirius aus Frankfurt am Main. Jüngst erst lud er mit seinem Buch „Stilles Frankfurt“ die Leser/-innen ein, lauter stille Orte abseits der lauten Mainmetropole zu entdecken. Nun ist er durch Franken gewandert. Oder vielmehr: war dort auf stillen Pfaden unterwegs, als andere Leute im (Vor-)Weihnachtstrubel durchdrehten.

Im Grunde zeigt Georg Magirius mit seinen Büchern, wie wenig dazugehört, die Schönheit des Daseins wieder zu spüren, die Faszination alles Lebendigen und den Blick für eine unvergleichlich schöne Welt. Schön selbst in den graueren Jahreszeiten, wenn die Bäume ihr Laub verlieren, die Felder abgeerntet sind und die Sonne nur noch flach durch dicke Wolkenmassen auf die neblige Welt strahlt.Zeiten freilich auch, in denen die bunten und lauten Touristenströme auf einmal abreißen, keine schnatternden Wandergruppen mehr die Wälder mit Lärm erfüllen, selbst die ach so coolen Mountainbiker lieber drinnen an der warmen Heizung hocken und man schon wenige Schritte hinter der Stadt hören kann, was sonst nicht mehr zu hören ist: Stille.

Und Stille tut gut. Stille ist Therapie und Erschrecken zugleich. Das weiß jeder, der es wie Magirius macht und selbst dann festes Schuhwerk und regenfeste Jacke anzieht, wenn es draußen trüb, nebelig und ungemütlich aussieht. 200 Jahre lang wurde ja jetzt mit schmetternden Fanfaren die „deutsche Gemütlichkeit“ gefeiert. Sorry, nein, stimmt nicht ganz.

Die "Gemütlichkeit" ist eine Erfindung des späten 19. Jahrhunderts. Grafik: Google Ngram
Die „Gemütlichkeit“ ist eine Erfindung des späten 19. Jahrhunderts. Grafik: Google Ngram

Wir unterstellen ja der Romantik Dinge, die gar nichts mit der Romantik zu tun haben (und mit Friedrich Rückert begegnet Georg Magirius auf seinen Wanderungen durch Franken auch einem der bekanntesten Dichter („Ich bin der Welt abhandengekommen“) und Forscher der Romantik). Unser heutiges Bild der Romantik haben nicht die Romantiker geprägt, sondern die deutschen Literaturprofessoren der Wilhelminischen Kaiserzeit.

Sogar ganz konkret: der Zeit Wilhelms II. Denn wenn romantische Autoren das Wort Gemüth benutzen, meinten sie damit etwas völlig anderes als das, was heute unter „Gemütlichkeit“ verkauft wird. Es ist sogar fast das Gegenteil. Aber wir assoziieren die Romantik mit der um 1894 regelrecht erfundenen Gemütlichkeit, die sich so gut mit Fernsehsessel, Sofas und MDR-Weihnachtssendungen in Verbindung bringen lässt.

Natürlich habe ich das Wort in den Google-Ngram-Viewer gesteckt und mir das Ergebnis ausspucken lassen (siehe oben). Das Ergebnis ist eindeutig: Die Romantiker sind an der „Gemütlichkeit“ nicht schuld, die deutschen Nationalisten aber jede Menge, denn das Wort hat immer dann Hochkonjunktur, wenn sie in Deutschland für ungemütliche Stimmung sorgen.

Und es ist garantiert kein Zufall, dass der inflationäre Gebrauch des Wortes ausgerechnet mit den viel gescholtenen 1968ern zurückging, die sehr wohl wussten, dass in der so oft beschworenen Gemütlichkeit „der Muff von tausend Jahren“ steckt. Wahrscheinlich wussten die genialen Streithähne der ach so linken Debatten der 1960er Jahre nicht mal selbst, wie nah sie den Romantikern waren.

Die Verlogenheit der Algorithmen

„24 Adventsorte“ hat Magirius seinen kleinen Wanderführer durch das herbstlich-winterliche Franken untertitelt. Vor allem, weil es eine Einladung ist, die vorweihnachtliche Zeit diesmal nicht in Shoppingcentern, lauten Christkindlmärkten und Konsumhektik zuzubringen, die sowieso nicht zu Weihnachten gehören, auch wenn es einem schrille Werbung immerzu einredet, die eigentlich nur will, dass wir unterm Tannenbaum Berge unnützen Krempels aufhäufen. Möglichst teuer und möglichst schnell in Müll verwandelt, der dann geschreddert wird und neue Konsumzwänge nach sich zieht.

Der Mensch ist so leicht verführbar. Die meisten merken es aber nicht mehr. Auch weil sie nie aus diesen Schleifen herauskommen und nicht mal mehr ahnen, wie man zum Fest der Feste wirklich noch Liebe und Nähe schenkt. Beides sehr substanzlose Geschenke, die aber mehr Substanz haben als aller Technik-Kram unterm Baum.

Aber zu Liebe und Nähe braucht es Stille. Die man aushalten können muss. Das können nicht mehr viele. Oder einmal so formuliert: Die meisten fürchten sich davor. Mit einer wahrscheinlich nur zu erwartbaren Panik. Denn in der Stille spürt man sich wieder. All diese im rasenden Alltag taub gemachten Gefühle, all das, was uns lebendig macht und schreien und jubeln, trauern und mitfühlen will.

Auch deshalb hat ein gewisser Mark Zuckerberg die Algorithmen in seinem Leute-süchtig-machen-Netzwerk ändern lassen, lässt nicht mehr den Nachrichtenwert eines Postings nach oben ranken, sondern den Aufrege-Wert, das, was die Leute zu heftigen Reaktionen anstachelt: Hass, Lüge, Verleumdung, Lächerlichmachung, Mobbing, Gewalt, Erniedrigung … Mit der Liste kann jeder weitermachen, der seine Erfahrungen mit dieser Wüstenei des Menschlichen gemacht hat.

Wer klüger ist, schaltet die immerfort nach Aufmerksamkeit verlangende Maschine einfach aus, zieht sich warm an, packt sich heißen Tee in der Thermoskanne ein, vielleicht auch noch eine kleine Marschverpflegung und seinen Fotoapparat. Und dann geht er oder sie einfach los. Denn Magirius beschreibt zwar 24 Adventsorte, aber das sind eigentlich nur lauter stille Dörfer und Städte in Franken, das man nicht wiedererkennt, wenn man immer nur an Nürnberg, Bamberg und Bayreuth denkt, Orte, die Magirius bewusst meidet.

Denn das eigentliche Franken ist das nicht. Denn das sind eher die Mittelgebirge, die einem erstaunlich vertraut vorkommen, wenn man die Mittelgebirge in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen schon kennt. Es ist dieselbe Stimmung, es sind fast dieselben Wälder. Und die Flüsse und Bäche könnten genauso aus Heines Harzreise hervorsprudeln, murmeln, plätschern, rauschen.

Die peinliche Erfindung der „Sehenswürdigkeit“

Heine war zwar ziemlich überdreht nach seiner Harzwanderung und hat sehr überschäumend geschrieben. Aber wer seine Texte aufmerksam liest, merkt, dass er genauso staunend dagestanden haben muss an all den Flüsschen, unter rauschenden Baumkronen, auf kleinen Hügeln und unverhofften Aussichten. Und davon gibt es – wie man mit Magirius entdecken kann – jede Menge in Franken, auf der Ruine Homburg genauso wie auf dem Grottenweg im Hochspessart, im Mühlental in der Rhön oder auf dem Hahnenkamm.

Das einsame Wandern schärft die Sinne, macht aufmerksam auf Bilder, die man sonst nicht bewusst wahrnimmt. Denn unser Sehen ist ja längst auf Sensationen getrimmt. Die digitalen Netzwerke sind überschwemmt mit immer denselben sensationellen Ansichten der immer gleichen „Sehenswürdigkeiten“ … Noch so ein Wort zum Stolpern.

Ausgedacht hat es sich irgendein Autor um 1850, als das mit dem (Massen-)Tourismus erst so richtig losging und rote Baedeker-Bändchen den ungebildeten Welterkundern erst mal erklären mussten, was man an den anvisierten Orten eigentlich unbedingt gesehen haben sollte. Was also des Sehens würdig wäre. Als wäre der Rest des Angeschautwerdens gar nicht würdig.

Die Inflation der "Sehenswürdigkeiten" ab 2001. Grafik: Google Ngram
Die Inflation der „Sehenswürdigkeiten“ ab 2001. Grafik: Google Ngram

Das Ergebnis ist eine eingebildete und letztlich ungebildete Gesellschaft. Selbst Karl Baedeker hätte sich vor Verzweiflung die Haare gerauft, wenn er noch erlebt hätte, was die Weltverwurster ab 2001 aus dem Wort gemacht haben. Auch das zeigt Google Ngram sehr anschaulich: wie die Verwendung des Wortes ab 2001 regelrecht in den Himmel schießt.

Man kann nur annehmen, dass das etwas mit dem Aufkommen der sogenannten „social media“ zu tun hat und all den Leuten, die Worte so unbedarft benutzen wie Papageien. Und nicht mal merken, wie einer den anderen nachmacht und alle nur noch dasselbe sehen und deshalb gar nichts mehr sehen. Blind für die Welt.

Und damit auch für das eigene Wahrnehmen, das wirkliche große Staunen, das sich auftut, wenn man an einem richtig diesigen Morgen einfach mal losgeht, irgendeinen krummen und steilen Wanderweg hinauf, auf dem kein anderer Mensch unterwegs ist. Man hört den Wald, der meistens „schweiget“, das Tropfen von den Ästen, selten mal einen Vogel, dafür das eigene Atmen.

Da merkt man erst, dass man selbst ganz schön laut ist, wenn man sich über Stock und Stein aufwärts arbeitet. Das hört man sonst nie. Denn sonst wird alles von künstlichem Lärm überschwemmt und übertönt. Lärm, der ziemlich schnell zurückbleibt, wenn man einfach mal losgeht auf dem Feldweg hinterm Dorf, schön langsam, denn natürlich sind die Wege verschlammt oder vereist oder schneebedeckt.

Das zwingt sowieso zum langsameren Gehen, zum Acht-Geben sowieso. Weshalb Magirius einige der Wege, die er hier beschreibt, auch zu therapeutischen Zwecken empfiehlt. Denn beim Gehen begegnet man sich und kommt – geht man nur ausdauernd genug – sich selbst und seinen ungeklärten Gefühlen näher.

Mal ohne Ziel und Zeit unterwegs

Auch wenn man nicht erwarten sollte, am Ende des Weges eine Lösung zu haben. Das erwarten nur Leute, die nicht gelernt haben, dass die Welt meist gar keine Lösungen braucht. Die finden sich nämlich meistens von allein, wenn alle Beteiligten nur den Mut gefunden haben herauszufinden, was sie selbst sich eigentlich wünschen und wo sie eigentlich gern wären.

Manche würden sich wohl wundern, dass das tatsächlich dieser neblige oder regenverhangene Novembermorgen sein könnte da draußen, auf Wegen, auf denen sonst niemand ist, wo man läuft und lauscht und manchmal verblüfft stehen bleibt, weil man in Gedanken ganz woanders war. Und es ist nicht schlimm. Auch das darf man entdecken. Es ist einfach nicht schlimm, mal irgendwohin zu wollen, gar pünktlich und schnell und – oh ja, große Panik: effizient.

Es ist einfach so. Wir haben alle das Laufen verlernt. Und das Staunen sowieso. Wir haben uns einreden lassen, Orte müssten sensationell und sehenswürdig sein, sonst wäre das nichts, was wir da wollen. Sonst wäre unser Weg nichts wert. Und was wir gesehen haben, schon gar nicht. Sie merken es ja selbst: Sie haben sofort all die schreienden Urlaubsbilder im Kopf, die Ihnen Ihre Verwandten und Befreundeten immerzu schicken, um ihren Neid zu schüren: Wie toll und phantastisch sie es doch diesmal haben, wie ausgefallen und unübertrefflich ihre Reise diesmal ist.

Und hinterher?

Sind sie so hektisch und deprimiert wie zuvor. Denn die Gelegenheit, sich selbst und dem Wispern der Welt zuzuhören, haben sie verpasst. Deswegen sind Magiruius’ 24 Adventsorte einfach nur stille Einladungen, in diesem Fall auch mal das verschlafene (ja, was für eine Beleidigung!) Franken abseits der üblichen Orte zu erleben. Nicht mal zu erkunden. Denn oft ist mehr als eine stille Kapelle am Wegrand gar nicht zu sehen.

Dafür jede Menge Winterobst an den Bäumen (ja, man kommt auch durch die Äbbelwoi-Region), kleine Mittelalterstädte wie Dettelbach oder das abgeschiedene Brunnthal. Manchmal eine Schafherde, zu der sich der Wanderer beinah hinzugesellt hätte, der winterlich verschneite Park Schönbusch, und immer wieder Bäche und Steine und blasse Landschaften, in denen der Spaziergänger lernt, die feinen Farbnuancen zu unterscheiden. (Und das Wort Nuance nur zu gern selbst erfunden hätte.)

Beiläufiger Effekt: So sieht man wieder, was für eine schöne Landschaft wir da eigentlich bekommen haben, was für ein sanftes Stück Welt, das sich aber erst erschließt, wenn man die lauten Städte und Autobahnen verlässt. Auf einmal hat man wieder vor Augen, was uns verloren zu gehen droht, wenn wir nicht lernen, unsere Welt zu bewahren. Und man merkt, dass das alles direkt mit uns, unseren Gefühlen und unserem (verschütteten) Staunen zu tun hat.

Denn wer Staunen und Weinen gelernt hat über die Schönheit der lebendigen Welt, dem fällt es viel leichter, in all den überflüssigen Konsumgütern unserer Zeit kein Versprechen mehr zu sehen und auch keine Verheißung. Sie können uns nicht das geben, was wir uns nur selbst schenken können, wenn wir da hinausgehen, egal, wie das Wetter ist, und die Welt erleben selbst dann, wenn sie scheinbar schläft und nichts anderes tut, als auf das nächste Frühjahr zu warten.

Georg Magirius Stilles Franken, Echter Verlag, Würzburg 2021, 12 Euro.

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