Es gibt schon einige sehr eindrucksvolle Bände zu Lost Places in Leipzig von Fotografen, die gerade die atmosphärische Faszination dieser verlassenen Orte einzufangen versuchen. Denn diese Orte haben etwas zu erzählen, bewahren ein Stück Vergangenheit, erzählen aber auch von der Vergänglichkeit menschlichen Tuns. Was der Journalist Marius Mechler in diesem Buch macht, ändert den Blickwinkel. Denn einige der „unheimlichen Orte“ kann man ganz offiziell besuchen.

Auch wenn natürlich auch einige sehr eindrucksvolle alte Industriebauten auftauchen, verlassene Villen und Dornröschenschlösser. Aber tatsächlich stehen viele dieser Bauwerke auch deshalb in der Gegend herum, weil sie von menschlicher Unvernunft, von Macht- und Größenwahn erzählen, von ausgebliebenen Katastrophen, Kriegen und blinder Sturheit.

Was macht man mit den Bauwerken der Macht?

Und das geht mitten im Herzen der Stadt los, wo man jetzt noch ein Gebäude besichtigen kann, das vielleicht in wenigen Jahren verschwunden ist. Es sei denn, die Leute setzen sich durch, die unterm Label des Substanzerhalts den hässlichsten Bau der Einschüchterung auch noch im künftigen Demokratie-Campus erhalten: den Stasi-Bau auf dem Matthäikirchhof.

Mechler widmet ihm gleich das erste Kapitel in seiner Besichtigungstour durch 33 Leipziger Lost Places, in der er Lesern des Buches eben auch zeigt, wie sehr jüngere Baugeschichte auch in Leipzig als Relikt herumsteht und von vergänglichen Ideologien und brachialen Veränderungen erzählt.

Manchmal auch von geplatzten Träumen und der Hoffnung, das alte Haus für teuer Geld einer neuen Nutzung zuführen zu können – wie beim Stadtbad und dem Bowlingtreff. Er lenkt den Blick aber auch auf alte, teilweise vergessene Friedhöfe, auf eine verschwundene Kirche und ein noch viel leiser verschwundenes Dorf.

Da kämpfen Leipziger Aktivisten mit mehr oder weniger Erfolg um vom Kohlebergbau bedrohte Dörfer – dass aber der Flughafen Leipzig/Halle in jüngster Zeit ein ganzes Dorf verschlungen hat, das thematisiert Mechler im Kapitel 9: „Am Nicht-Ort“. Und natürlich erzählt die Geschichte von Kursdorf von derselben menschlichen Ignoranz, die mit enthemmtem Wirtschaften und Gewinnstreben zu tun hat.

Manchmal, aber nur manchmal kann das gestoppt werden, wie beim Rittergut Gaschwitz, das dem Tagebau zum Opfer fallen sollte. Genauso wie Wachau, dessen Kirche ja auch deshalb zur Ruine wurde, weil sie eigentlich zum Abbaggern vorgesehen war.

Auch sie kann besichtigt werden, ohne dass man über Zäune steigen muss und die nur zu berechtigten „Verhaltensregeln für Lost Places“ aus dem Buch unbedingt beachten muss. Die Kirche dient ja heute für Kulturveranstaltungen diverser Art.

Die Banalität der Macht

Während man die einstige Hinrichtungsstätte in der Alfred-Kästner-Straße nur zu offiziellen Führungen besuchen kann, genauso wie den Stasi-Bunker in Machern, Relikt einer Vergangenheit, in der der Geheimdienstapparat eines vormundschaftlichen Staates glaubte, er könnte im Kriegsfall ein paar Tage oder Wochen in seinem Bunker überleben, um danach wieder eifrigst seiner Arbeit nachgehen zu können.

Es gibt so einige Orte in Leipzig, an denen man das irre und letztlich dumme Denken von Menschen nachempfinden kann, die ihren Machterhalt immer wichtiger nahmen als das Wohlergehen der überwachten Bevölkerung.

Kein Wunder, dass die Dauerausstellung in der Runden Ecke von „Macht und Banalität“ erzählt. Macht neigt zu einem geradezu erschreckend banalen Denken. Und das macht auch die Beherrschten dumm, wenn sie vergessen, dass alles im Leben Veränderung ist. Dass nichts so bleibt, wie es war.

Auch wenn man Häuser sanieren kann oder alte Fabriken wie die Baumwollspinnerei mit neuen Nutzungen füllen kann. Aber wenn das Denken der Mächtigen zu dummen Plänen führt, kommt so etwas heraus wie ein Hafen, der nie als Hafen genutzt wurde, ein riesiges Schleusenbauwerk, das nie in Funktion getreten ist, oder ein abgesperrtes Gebiet mit den Resten eines Motorenwerks, das von Leipzig aus einst die Kriegsmaschinerie der Nazis belieferte.

Allein die Lost Places der NS-Kriegswirtschaft mit ihren ruinösen, verschwundenen, umgenutzen und vergessenen Bauwerken würden einen dicken Band füllen. Mechler führt exemplarisch das Gelände der Mitteldeutschen Motorenwerke und die Erla-Siedlung an und verweist die Leser aus gutem Grund an die Gedenkstätte Zwangsarbeit, die die Erinnerung an die Untaten der NS-Zeit wachhält.

Abgeklemmt und vergessen

Andere Orte erzählen davon, wie schnell geradezu riesige Teile historischer Infrastrukturen nutzlos wurden und sich in Lost Places verwandeln, wenn sie einfach vom Gleisnetz abgehängt werden – so wie der alte Lokschuppen auf dem Gelände des Bayerischen Bahnhofs oder die noch existierenden Relikte des Eilenburger Bahnhofs, der außer Betrieb genommene Bahnhof Leutzsch oder das aufgegebene Bahnbetriebswerk in Wahren.

Manchmal beschwört Mechler den Gruseleffekt der zunehmend verfallenden Gebäude. Aber im Grunde dominiert die Frage, warum solche Un-Orte eigentlich erst entstehen und jahrzehntelang dem Verfall und der Rückkehr der Natur überlassen werden?

Man merkt schon: Da steckt auch eine Frage nach den Sinnlosigkeiten einer Gesellschaft dahinter, die es fertigbringt, Milliardenwerte einfach verfallen zu lassen, wenn sie dem wirtschaftlichen Verwertungsmuster nicht mehr genügen.

Denn die vielen alten Fabriken, die noch vor wenigen Jahren beliebte Lost Places in Leipzig waren, erzählen ja auch vom Ende einer kompletten Industrielandschaft, in der noch die anspruchsvolle Architektur des 19. Jahrhunderts steckte. Weshalb Mechler natürlich des Öfteren auf Carl Heine und seine Pionierarbeit für Leipzigs industriellen Westen zu sprechen kommt – nicht nur in Bezug auf den unvollendeten Kanal.

Hier ging auch eine alte Industrielandschaft verloren – verwandelte sich aber oft genug in moderne Wohnanlagen und neue kulturelle Hotspots, die den Leipziger Westen heute auf andere Weise wieder attraktiv machen. Und nur noch wenige alte Fabriken – wie die Maschinenfabrik Swiderski – bieten tatsächlich noch Abenteuerplatz für Lost-Places-Fotografen. Selbst die verlorenen Orte verschwinden, wenn sich die Besitzer endlich dazu entschließen, die alten Gebäude mit neuen Nutzungen zu füllen.

Die Endlichkeit allen menschlichen Tuns

Manche zögern freilich Jahre um Jahre und die ruinösen Gebäude stehen da wie ein Mahnmal mitten in einer Stadt, in der überall längst saniert, modernisiert und umgewidmet wurde.

Die alte Fabrikantenvilla im Robert-Koch-Park steht deshalb genauso wie ein Fragezeichen in der Landschaft wie das Gebäude des VEB Polygraph Reprotechnik an der Georg-Schwarz-Straße. Aber selbst jüngere Gebäude können so ein Schicksal erfahren, wie der leere Praktiker-Baumarkt in Rückmarsdorf.

Und fast schon ein Stück Kulturgeschichte ist die einst zumindest für die Schleußiger legendäre „Rote Diskothek“, die seit ihrer Schließung jedem Versuch getrotzt hat, sie wieder als Kulturort zu beleben.

So wird das Buch geradezu zu einer Einladung an alle Interessierten, die eher sehen wollen, was jenseits der sanierten Kulissen in und um Leipzig noch als Mahnmal menschlicher Vergeblichkeit zu sehen ist. Etliches schon dann eindrucksvoll, wenn man es einfach nur von außen betrachtet und mit Mechler in die Geschichte des Ortes eintaucht.

Man muss gar nicht hineinsteigen in diese alten Gemäuer. Bei etlichen warnt Mechler sogar ausdrücklich davor. Und schafft damit ein etwas anderes Gruseln, als es verlassene Säle, knackende Böden und die Patina verfallender Treppenhäuser erzeugen.

Es ist ein Gruseln, das sichtbar macht, wie der Zahn der Zeit an allem nagt, was Menschen bauen. Und wie wenige Jahre genügen, dass der Wald sich die Orte zurückholt, mit denen ihre Besitzer nichts anzufangen wissen.

Was sogar wieder tröstlich ist. Der Mensch beherrscht nicht alles und all sein Tun ist vergänglich. In allem Lärmen und Gewinnstreben von heute steckt schon das Scheitern. Das spätestens dann sichtbar wird, wenn auf einmal keine Menschen mehr da sind, die das Dach flicken und die Wege freischneiden.

Das vergessen die Mächtigen nur zu gern, dass all ihre Protzerei ohne Menschen, die dafür arbeiten, nichts ist. Ein Häuflein Staub im Wind. Ein Gebäude, das in sich zusammenrutscht, kurz noch fotografiert von jenen, die die Faszination des Verfalls ästhetisch zu genießen vermögen. Selbst das geht vorbei, wenn das Dach einstürzt und auch gleich noch die unteren Etagen mit in den Keller nimmt.

Marius Mechler Lost & Dark Places Leipzig Bruckmann Verlag, München 2022, 22,99 Euro.

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