Wer alle die seit einigen Jahren erscheinenden Bücher zu „Verlassenen Orten“ und „Lost Places“ sammelt, hat irgendwann den Großen Gesang eines vergehenden Zeitalters beisammen. Und natürlich ein besonders bizarres Bild des deutschen Ostens. Denn vergleichbare Bilderserien gibt es für den Westen nicht, der genau das nie erlebt hat, was in den ostdeutschen Ländern heute für tausende seit Jahrzehnten verwaiste Immobilien sorgt, gefangen in einer unvergleichlichen Stille.

In zwei eindrucksvollen Fotobänden hat sich der Chemnitzer Kunst- und Architekturfotograf Christian Sünderwald schon den leerstehenden Schlössern, Villen, Kultur- und Ballsälen und den Sanatorien, Kurhotels und Badeanstalten in Mitteldeutschland gewidmet. Sie waren fast alle bis 1990 in Nutzung, etliche auch noch Jahre danach, wenn auch oft nicht mehr in der Funktion, in der sie einst gebaut worden waren.

Die DDR war – bei all ihren Versuchen, die Menschen umzukrempeln und im wirtschaftlichen Wettbewerb mit dem Westen Schritt zu halten – eben auch eine Art Konservendose. Da das Geld für Investitionen fehlte, wurde die nach 1945 noch vorhandene Bausubstanz weitergenutzt, angepasst, umgenutzt. Was – so seltsam das klingen mag – tausenden Baudenkmälern aus der Blütezeit der Industrialisierung in Deutschland den Sprung in die Gegenwart ermöglichte.

Anderswo sind sie längst verschwunden, haben den modernen, nüchternen Fabrikhallen Platz gemacht, die in Mitteldeutschland heute ebenfalls die nach 1990 geschaffenen Gewerbegebiete dominieren. Hallen, bei denen man nicht unbedingt annimmt, dass sie ein Jahrhundert stehen werden, während die Industriebauten, die Christian Sünderwald in den drei mitteldeutschen Ländern fotografiert hat, fast alle schon mehr als hundert Jahre dastehen – nicht nur robust gebaut, sondern auch von ästhetischer Schönheit.

Selbst die schmutzigsten Fabriken erweisen sich bei näherem Hinsehen als Orte, bei deren Erschaffung die einstigen Erbauer Wert legten auf bauliche Gefälligkeit. Ganz so, als müsse der Ort der schweren Arbeit wenigstens durch seine Schönheit trösten.

Eine Schönheit, die man gern übersah, als noch die Schornsteine qualmten, die Maschinen dröhnten, der Staub sich auf Dächer, Simse und Geländer legte. Und doch ist diese Schönheit noch da, nun sämtlicher Maschinen entledigt, auf die Hülle reduziert, aber auch von Licht erfüllt, denn all diese Fabriken hatten große Fenster oder gar ganze Dachlandschaften aus Glas. Was Sünderwald natürlich besonders fasziniert, denn das Licht macht diese leergeräumten Hallen, Flure und Treppenhäuser zu Bühnen.

Bühnen, die oft sogar noch davon erzählen, wie hier bis zum letzten Moment gearbeitet wurde, am klobigen Telefon organisiert, in großen Kladden alles aufgeschrieben. Wahrscheinlich auch noch in den Jahren nach 1990, als neue Besitzer oder alte Belegschaften versuchten, den Laden mit den alten, ungenügenden Mitteln am Leben zu erhalten.

Ein Unterfangen, das nur in den seltensten Fällen eine Chance auf Erfolg hatte. Was sich viele Ostdeutsche bis heute nicht eingestehen wollen und deshalb auf die Treuhand zürnen, als wäre die allein Schuld gewesen, dass das Rennen 1990 schon entschieden war. Ein Rennen, in dem die Betriebe im Osten schon in den 1970er Jahren zusehends den Anschluss verloren. Verlieren mussten.

Wenn eine Wirtschaft nicht permanent kreditbasiert investieren kann in neue Maschinen und neue Produkte, verliert sie den Anschluss. Zumindest in dem forcierten Rennen, das die moderne westliche Industriegesellschaft ausmacht. Es ist ihr Wesenskern, alle, die nicht mithalten können, niederzukonkurrieren. Egal, ob das der Konkurrent drei Städte weiter ist oder ein ganzes Land.

In den Zeitungen der DDR gab es zwar jede Menge (Parteitags-)Propaganda – aber es gab keine fachliche Wirtschaftsberichterstattung, sonst hätte das jubelnde „Volk“ schon im Februar 1990 gewusst, was da auf das Land zukommt, wenn es sich dem Weltmarkt öffnet.

Die leeren Fabriken, die Sünderwald mit der Erlaubnis der Besitzer und Verwalter besuchen und mit der Kamera erkunden konnte, erzählen davon. Eine davon – eine Nähmaschinenfabrik aus dem Jahr 1912 – steht auch in Leipzig, wo zwar viele der eindrucksvollen einstigen Fabrikgebäude umgewidmet wurden – viele in luxuriöse Wohnungen –, aber noch immer warten Dutzende auf eine neue Bestimmung.

Noch verhindert der Denkmalschutz ihren Abriss. Aber heute leben wir in einem neuen Zeitenwechsel, in dem alles, was irgendwo nach Immobilie aussieht, zum Spekulationsobjekt geworden ist, Zockerware für Leute, die nur noch ans Geldvermehren denken und dabei jeden Maßstab für das Nützliche, Bezahlbare und Finanzierbare verloren haben. Deswegen stehen nicht nur Wohnhäuser leer und alte Fabriken. Auch riesige wertvolle Flächen mitten in der Stadt bleiben unbebaut, weil beim Weiterverkauf mittlerweile Summen geflossen sind, die sich durch eine Wiedernutzbarmachung der Fläche gar nicht wieder einspielen lassen.

Deswegen wirken Sünderwalds Bilder auch ein wenig bizarr – denn damit sinken die Chancen, diese eindrucksvollen Gebäude doch noch zu retten und wieder neu zu nutzen, praktisch gegen Null. Die waren auch vorher schon nicht gut, da ja etliche dieser alten Fabriken in Orten stehen, die seit 1990 massiv an Bevölkerung verloren haben.

Bis 1990 haben sie ganzen Regionen Brot und Arbeit gegeben, sie waren der Lebensmittelpunkt der dort lebenden Menschen. Ihre Arbeit schien für ein ganzes Leben festgeschrieben und gesichert. Doch mit dem Jahr 1990 wurde alles anders, verloren ganze Regionen ihren wirtschaftlichen Kern, packten Millionen arbeitslos Gewordene ihre Sachen und zogen weg.

Obwohl Ostdeutschland im Herzen Europas liegt und eigentlich ein infrastrukturell so gut erschlossener Platz ist, dass die Wirtschaft hier blühen müsste, passiert genau das nicht. Der Westen hat – wirtschaftlich betrachtet – den Osten tatsächlich geschluckt – mitsamt den Menschen, die man gebraucht hätte, um die Landschaften wieder blühen zu lassen.

Und neue Ideen, was man hätte draus machen können, gab es entweder nicht oder sie hatten keine Chance gegen die Wucht der Geschichte und der Märkte.

Man spürt die Stille geradezu, die in diesen alten Fabriken heute herrscht, wo einst Buntpapier, Schokolade, Werkzeugmaschinen, Ziegel, Garn und Linoleum hergestellt wurden. Sie versorgten ein ganzes Land mit allem, was gebraucht wurde. Und eigentlich war es – so im geschlossenen Raum betrachtet – genug. Dass die Produkte um Jahre den Trends im Westen hinterherliefen, wäre ohne den Westvergleich ziemlich egal gewesen.

Schlimmer war die ressourcenverschlingende Produktionsweise, die über kurz oder lang sowieso dazu geführt hätte, dass diese Wirtschaft kollabiert wäre. Auch das gehört zu diesem Flicken, Durchwursteln und Bewahren, aus dem die DDR zuletzt bestand: ihre Unfähigkeit, sich selbst zu modernisieren. Auch deshalb verlor sie das Rennen gegen einen Gegner, der fortan meinte, nun auf einmal „Sieger der Geschichte“ zu sein. Aber die Geschichte kennt in Wirklichkeit keine Sieger. Jedenfalls keine für die Ewigkeit.

Und das ist gewissermaßen die Tragik dieses entkernten Ostens: Dass hier auch nach 1990 die Chancen vergeben wurden, die alten Hüllen mit wirklich neuen Ideen und Ansätzen zu füllen. Und damit sind nicht die viel gepriesenen „start ups“ gemeint, die in der Regel nur dann überleben, wenn sie die alte, zerstörerische Art des Geschäftemachens übernehmen. Nachhaltigkeit ist zu einer Bürokratenfloskel ohne Inhalt geworden. Gewissermaßen zeugen die stillgelegten Produktionsstrecken und verlassenen Schaltzentralen auch von diesem beharrlichen Festhalten an energieverschlingendem Ingenieuersdenken.

Man maß (und misst) seine Wettbewerbsfähigkeit an verbrauchten Energieeinheiten und Rohstoffströmen. Das viel zitierte BIP ist nur die geldwerte Umrechnung dieser gigantischen Ströme. Es verschleiert natürlich auch, wie sehr sich heute unser Arbeiten, Konsumieren und Produzieren von dem Fleckchen Erde gelöst hat, auf dem wir leben.

Was auch ein riesiges Stück Machtlosigkeit einschließt. Denn viel Gestaltungsmacht bleibt nicht übrig, wenn selbst der Boden zum Spekulationsobjekt anonymer Fonds geworden ist, die nur noch mit Spekulation die Renditen erwirtschaften, mit denen dann Aktionäre und Rentner gespeist werden.

Die von Sünderwald fotografierten Fabriken von Senftenberg bis Sonneberg, von Weißenfels bis Roßwein erzählen auch davon. Denn erbaut wurden sie alle noch in einer Zeit, als Wirtschaft zum größten Teil regional stattfand, auch wenn die Fabriken über das dichteste Eisenbahnnetz Europas schon an alle überregionalen Märkte angeschlossen waren und wichtige Rohstoffe auch aus Übersee kamen.

Aber was passiert nun mit den Landschaften, in denen den dort wohnenden Menschen eigentlich nichts mehr gehört von dem, was noch was wert ist? Die quasi zu Mietern und Gästen in ihrer eigenen Heimat geworden sind – ohne das notwendige Milliönchen auf dem Konto, die alte Fabrik vielleicht doch wieder mit neuem Leben zu erfüllen? Denn wen sonst würde das interessieren? Die neuen Besitzer irgendwo in Übersee wohl eher nicht (wo man längst ganz ähnliche Sorgen hat). Wen aber sonst?

Es sind also Bilder so richtig zwischen allen Zeiten, Zeugen einer hundertjährigen Industriegeschichte, die ab 1990 unversehens verstummte. Manche Treppenhäuser lassen noch ahnen, wie hier fröhlich schwatzende Belegschaften in der Pause Richtung Kantine liefen. Manch Büro mit den alten Möbeln zeigt noch den Blick des einstigen Werkdirektors. Alte Sicherungsgitter warnen noch davor, dass es hier an manchen Stellen heiß und gefährlich war.

Aber all das ist vorbei, zurückgelassen, als die ahnungslosen Akteure der Geschichte einfach fortgingen und dabei auch den halb reparierten Trabant zurückließen, die Telefone und manchmal sogar die Kaffeetassen. Als hätte man bis zum letzten Arbeitstag nicht geglaubt, dass die Maschinen morgen schon für immer verstummen werden und die Stille einziehen wird in die Räume, die nun in beeindruckenden Schwarz-Weiß-Aufnahmen ihre architektonische Schönheit zeigen.

Noch – denn die Fensterscheiben sind schon zerschlagen und auf Dächern und Simsen wachsen die Birken. Und weit und breit ist niemand zu sehen, der für all diese eindrucksvollen Fabrikensembles irgendeine Idee hat, was man mit ihnen anfangen könnte.

Darunter auch legendäre Werkstandorte, das darf man nicht übersehen – so wie das ehemalige Automobilwerk in Eisenach, wo einst der Wartburg gebaut wurde, oder die alte Schokoladenfabrik in Zeitz, wo einst die Knusperflocken erfunden wurden. Lauter verlassene Orte, die – jedenfalls in ihrer alten Gestalt und Nutzung – wahrscheinlich verloren sind. Zeugen eines vergangenen Zeitalters, das garantiert nicht wieder auferstehen wird. Und – so betrachtet – ein großer stiller Abgesang, der mehr über den Osten erzählt als all die Wehklagen um die Treuhand.

Christian Sünderwald Verlassene Orte Mitteldeutschland, Sutton Verlag, Erfurt 2020, 19,90 Euro.

Verlassene Sanatorien, Kurhotels und Badeanstalten: Der traurige Charme einstiger Orte der Erholung

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