Es hat sich zu einer kleinen, spannenden Serie im Programm des Mitteldeutschen Verlages entwickelt: Bildbände zu verlorenen Orten, lost places, den verlassenen Zeugen vergangener Zeiten. Dafür kann es natürlich nur einen Moment wie den jetzigen geben - bevor die Abrissbagger kommen. Oder die Sanierer.

Denn gar so reif zum Gesamtabbruch ist die Landschaft zwischen Harz und Lausitz ja nicht. Nur das sentimentale Herz schlägt höher, wenn es den einst stattlichen Repräsentanten einer vergangenen  Zeit begegnet – mal mitten in der Stadt, mal mitten im Wald. Und einige davon sind von beeindruckender Schönheit, wie Dietzes Bilder in diesem Band beweisen. Aber genau das ist zumeist ihr Problem: Es fehlen die reichen Schwerenöter, die genug Geld besitzen, um es auch einmal in die Sanierung eines an sich völlig nutzlosen Gebäudes zu stecken.

Natürlich fehlen sie nicht wirklich. Das wurzellos gewordene Kapital jagt derzeit mit billionenschwerem Gekreisch durch die Börsen, sucht wie besessen neue Anlagen. Aber es wird nicht in verwunschene Hotels im Thüringer Wald oder verlassene Schlösser in Sachsen investiert. Bringt ja keine Rendite.

Zumeist sind es dann die Kommunen, die mit den Zeugen vergangener Träume zu tun haben. Aber was fängt man damit an, wenn man keine Nutzung dafür hat? Etwa für das ehemalige Erziehungsheim in Ballenstedt oder für die faszinierende Knabenschule in Zeitz, für die schlicht die Schüler fehlen? Wer wird jemals wieder die Produktionshallen der Werke auf dem Sonnenstein bei Pirna beziehen, wo die DDR einst ihre Flugzeugproduktion begann? Oder die alte Zeitzer Schokoladenfabrik, wo doch Zetti ganz moderne Anlagen ganz in der Nähe hat?

Der Leipziger Fotograf Stefan Dietze ist auf der Suche

Stefan Dietze, Fotograf aus Leipzig, fotografiert seit 2004 solche verlassenen Orte. Nicht nur in Mitteldeutschland, sondern in ganz Europa. Nicht nur der deutsche Osten ist ja 1990 in einen gewaltigen Transformationsprozess geraten, der Hunderte solcher Immobilien quasi ĂĽber Nacht entleert hat, weil ihre alten Nutzungen nicht mehr gebraucht wurden. Manchmal haben die letzten Nutzer sogar das ganze Mobiliar stehen lassen in den Räumen – wie im thĂĽringischen “Kaiserhof”, der zuletzt als FDGB-Ferienheim genutzt worden war. Das sind die bizarrsten Inszenierungen, die Dietze fand, wenn die Möbel, Herde, Tische, Betten alle noch da stehen, als wären die Menschen nur mal kurz fortgegangen mit der festen Absicht wiederzukommen. Doch der Putz blättert von der Decke, Tapeten fallen von der Wand, die Farbe bröselt und da und dort erinnern ein paar alte Fernseher daran, dass die Gebäude doch noch ein paar spätere Gäste hatten, die hier ihr Bierchen tranken und es sich gut gehen lieĂźen.

Dietze war auch in Leipzig unterwegs. Und das gibt seinen stillen, fast wie Gemälde wirkenden Aufnahmen aus solch verlassenen Orten eine andere Facette. Denn die Bauensembles, die er hier mit seiner Kamera besucht hat, stehen fast alle als Projekt auf den Websites emsiger Immobilienvermarkter. Das alte Parkkrankenhaus Dösen soll ebenso eine neue Nutzung erfahren wie die alte Bleichertsche Drahtseilfabrik in Gohlis oder das ehemalige Kasernengelände in Möckern. In wachsenden Regionen fällt Immobilienentwicklern schon was ein fĂĽr diese verlassenen Orte. Da entstehen dann in der Regel schöne neue Wohnungen fĂĽr Leute, die sich ein besonderes Wohnen leisten können. Ob es gelingt – ob die Träume auch vermarktbar sind – ist dann eine andere Frage.

Aber auf diese Weise gehen natürlich die Dornröschenlandschaften, die Dietze mit der Kamera einfängt, verloren. Die Zeit verleiht diesen Gebäuden, die in der Regel alle 100 Jahre und älter sind, einen besonderen Charakter. Hier sorgt kein Lärm, kein streng regulierter Tagesablauf mehr dafür, dass die Stille gestört wird. Das Telefon im einstigen Direktorzimmer funktioniert garantiert nicht mehr. Und keine Parteiveranstaltung erfüllt den Saal mehr mit lauten Reden, bestelltem Beifall und Funktionärsgeschwafel. Aus und vorbei.

Das “Was nun?” hängt im Raum

Und Immobilienentwickler wĂĽrden wahrscheinlich im Kopf schon die neuen Grundrisse entwerfen und die Betonung der besonderen Details, die aus der alten, heruntergekommenen Immobilie wieder ein teures SchmuckstĂĽck machen.

So gesehen erkundet Stefan Dietze auch eine Welt, die es auch nur für gewisse Zeit zu sehen gibt. Wie lange die leeren Gebäude so zu sehen sein werden, weiß ja niemand. Aber heruntergestürzte Decken, wuchernde Bäume auf den Dächern und notdürftig geflickte Fensterscheiben verraten auch, dass nicht nur der Mensch entscheidet, ob diese Orte erhalten bleiben, oder ob die Häuser wegen Einsturzgefahr bald abgerissen werden müssen.

Anne von der Gönne erzählt in kurzen Begleittexten das Wesentliche aus der Geschichte der fotografierten Orte. Sie fasst sich dabei kurz, geht auch selten auf die konkrete Umgebung ein. Wichtiger war hier, den Geist anzudeuten, der all diese Orte einst erfüllte, und damit auch den Inhalt, der sie die Zeiten hat überdauern lassen. Manchmal als dritte, vierte Nutzung. Der wilde Osten war ja auch immer ein Provisorium, das alte Hüllen mit neuen Inhalten füllte. So überdauerten viele Kleinode die Zeit. Manchmal bis zu dem Tag, an dem ein trockener Treuhandmitarbeiter entschied, das Objekt für eine symbolische Mark zu veräußern.

Manches wird wohl so nie wieder öffentlich sichtbar werden. Es sei denn, auch in die ländlichen Räume Mitteldeutschlands dringt wieder eine neue Lust am Wachsen, Sanieren, Gründen. Aber ob die alten Schmuckstücke bis dahin durchhalten, ist wohl die eigentliche Frage, die bleibt, wenn man mit Stefan Dietze durch die 21 verlassenen Orte gestreunt ist und die noch immer sichtbare Pracht in dichter Nähe zum drohenden Verfall gesehen hat. Da und dort ist es wohl wirklich höchste Zeit für einen Träumer, der bereit ist, richtig Geld auszugeben für scheinbar nutzlose Schönheit.

Aber war Schönheit tatsächlich jemals nutzlos?

Oder fehlt es in einer Zeit des vom Wahnsinn besessenen wilden Kapitals einfach an Träumern, die auf Erden wieder konkret werden? Denn wichtig ist ja der Traum, nicht die Rendite. Warum nicht im alten Flughafen-Tower in Mockau wieder vom Fliegen träumen? – NatĂĽrlich ist es ein Buch fĂĽr Träumer und Sentimentale. Aber auch fĂĽr all die bodenständigen Realisten, die wissen, dass man manchmal nur eine gute Idee braucht, um Dingen wieder Leben einzuhauchen.

Bestellen Sie versandkostenfrei in Lehmanns Buchshop: Stefan Dietze “Verlassene Orte zwischen Harz, Lausitz und ThĂĽringer Wald“, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2015, 24,95 Euro

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar