Sein Steckenpferd ist eigentlich Auerbachs Keller. Für diese Leipziger Sehenswürdigkeit ist Bernd Weinkauf so etwas wie der Haushistoriker. Doch selbst wenn man nur die Ereignisse in diesem 500 Jahre alten Weinkeller zum Aufhänger nimmt, gerät man in Verästelungen Leipziger Geschichte, die man in den gewöhnlichen Stadtführern nicht finden kann. Oft einfach nur, weil die Stadtforscher das Thema bisher einfach ignoriert haben.

2021 hat Weinkauf den ersten Band seiner „Leipziger Merkwürdigkeiten“ veröffentlicht. Noch ohne Nummer dahinter. Aber er hat die letzten zwei Jahre genutzt, sich mit einem weiteren Bündel bisher sträflichst unterbelichteter Themen zu beschäftigen, dazu die vorhandenen Akten zu studieren, Zeitungen und Fachbücher zu durchblättern. Und so stutzt man schon beim ersten Thema, den Leipziger Trinkhallen, von denen einst dutzende in der Stadt gestanden haben. Einst eine Neuerung, die auch den hohen Magistrat immer wieder beschäftigte, damals, als kohlensäurehaltiges Wasser noch nicht in Kisten im Supermarkt verkauft wurde.

Bis es chemisch möglich war, gewöhnliches Wasser mit Kohlensäure in geseltertes Wasser zu verwandeln, fuhren die betuchten Leipziger noch emsig nach Karlsbad, um dort ihre Trinkkur zu machen. Und auf einmal war es möglich, selbst in Leipzig mit seinem eher problematischen Röhrenwasser beim Spaziergang an so eine Trinkhalle zu gehen und sich ein Glas sprudelndes Wasser reichen zu lassen.

Über Jahrzehnte war das eine Geschäftsidee, mit der Leipziger Geschäftsleute gutes Geld verdienen konnten – und das bis ins 20. Jahrhundert hinein. Und dann verschwanden diese Buden so gründlich, dass sie praktisch völlig vergessen waren. Bis Weinkauf sie auch in alten Fotografien wiederentdeckte und sich fragte, wo sie überhaupt alle standen und wer den Durstigen da das labende Nass in Gläsern ausschenkte.

Ein verschwundenes Denkmal, ein verschollenes Grab

Dass Stadtpolitik dabei auch ihre Kritik ernten darf, macht er am Beispiel des Luther-Melanchthon-Denkmals deutlich, dessen Aufstellung auf dem Johannisplatz schon Jahrzehnte dauerte, bis die Obrigkeit sich bereit fand, dieses sehr spezielle Leipziger Reformationsdenkmal tatsächlich zu Luthers 400. Geburtstag aufstellen zu lassen. Doch dann kam der Zweite Weltkrieg und die „Metallspende“ für die Kriegsführung des NS-Reiches, dem das Denkmal dann geopfert wurde.

Und in jüngerer Zeit der Luther-Melanchthon-Denkmal e. V., der sich um ein neues Denkmal bemüht, aber wieder auf einen dickfelligen Magistrat trifft, der partout keine Replik des alten Denkmals will und auch über den Standort andere Vorstellungen hat. Die Geschichte behält also ihren Zunder.

In einer Spurensuche widmet sich Weinkauf dann dem Grab des Heinrich Stromer von Auerbach, eben jenes Uni-Professors, dem einst Auerbachs Hof gehörte, wo Auerbachs Keller seinen Anfang nahm. Begraben wurde Dr. Stromer aus Auerbach damals auf dem (Alten) Johannisfriedhof, der gerade erst zur Hauptbegräbnisstätte der Stadt Leipzig erklärt worden war. Doch schon 1547 im Schmalkaldischen Krieg wurde der Friedhof mitsamt Stromers Grab dem Erdboden gleichgemacht. Wo also ist Stromers Grab? Heute findet es keiner mehr.

Goethes Freund und ein experimentierfreudiger Japaner

Und mit Auerbachs Keller hat auch die Geschichte von Ernst Wolfgang Behrisch zu tun, Goethes älterem Freund aus seiner Studentenzeit in Leipzig. Der hatte einst seine Wohnung in Auerbachs Hof. Und da wäre es – so Weinkauf – gut möglich gewesen, dass Behrisch dem jungen Frankfurter die Tür öffnete in Auerbachs Keller. Nur findet Weinkauf in allen Nachrichten aus Goethes Feder keinen Hinweis darauf, dass Goethe tatsächlich je in Auerbachs Keller gewesen wäre. Auch nicht in „Dichtung und Wahrheit“, wo er Behrisch durchaus gewürdigt hat. Wieder eine geplatzte Legende?

Das ist das Schöne daran, wenn einer sich wirklich einmal hinsetzt und die Selbstverständlichkeiten, die Leipziger Stadtführer einer vom anderen übernehmen, infrage stellt. Was freilich nicht negiert, dass Goethes Drama „Faust“ die beste Werbung war, die der damals noch gar nicht berühmte Keller erhalten konnte – eine Werbung, die bis heute die Touristen in Scharen anzieht.

Vielleicht sollten sich Gastwirte wirklich mehr bemühen, Dichter und Dichterinnen in ihre gastlichen Räume zu locken: Die schreiben nämlich eine Werbung, die nachhaltig wirkt und über 200 Jahre lang immer wieder funktioniert.

Und wie ist das mit dem japanischen Dichter Mori Ōgai, der in Auerbachs Keller ebenfalls wie Goethe mit einem Gemälde gewürdigt wird? In Leipzig war der junge Mann tatsächlich – noch nicht zum Dichten, sondern zum Studium. Und nebenbei sollte er sich die Hygienebedingungen im preußischen Heer näher anschauen und die Sitten der Einheimischen studieren. Was er auch tat – er studierte nämlich (auch in Selbstexperimenten) die Wirkung des Bieres auf den menschlichen Organismus. Es gibt heute sogar ein Mori Ōgai-Bier. Aber wirklich berühmt wurde er in seiner Heimat, weil er Goethes „Faust“ ins Chinesische übersetzte, wie man das in Japan damals machte, wenn es um Literatur ging.

Wer war eigentlich Heinrich Pfeil?

In weiteren Beiträgen widmet sich Weinkauf dem Bau der Nathanaelkirche in Lindenau (und den dabei vorfallenden Unglücksfällen), dem Zusammenbruch der „Leipziger Bank“ im Jahr 1901 (auch mit den folgenden menschlichen Tragödien) und jener seltsamen Figur am Eingang zu Ratskeller, die da mit großem Maul den armen Steuerzahler verschlingt. Der genagelte Ritter, mit dem im Ersten Weltkrieg Spenden gesammelt wurden, bekommt genauso eine eigene Geschichte wie der Leipziger Dichter, der 1930 „Leipzigs hässlichstes Denkmal“ bekam.

Das steht heute immer noch – wer mag, kann es in der Nähe des Gohliser Schlösschens bewundern. Und darüber grübeln, wer eigentlich dieser Heinrich Pfeil eigentlich war, der zu Lebzeiten einer der bekanntesten Dichter und Komponisten aus Leipzig gewesen sein muss.

Tatsächlich bekam er sein Denkmal wohl nur, weil der Rat der Stadt einem armen Bildhauer mitten in der Wirtschaftskrise 1929 helfen wollte. Schon in den 1980er Jahren fand Weinkauf niemanden mehr, der mit dem Namen Pfeil etwas anfangen konnte. Was vielleicht ungerecht ist. Vielleicht aber auch nur ein Zeichen dafür, wie sehr sich überschwängliche Zeitgenossen täuschen können über die Haltbarkeit literarischer Werke. Bestimmter literarischer Werke, so muss man sagen. Denn was allein dem Zeitgeist huldigt, hat ein sehr kurzes Verfallsdatum.

Was dann wieder Stoff für Autoren wie Bernd Weinkauf ist, der ganz unübersehbar eine Freude daran hat, längst vergessene Geschichten auszugraben und vermeintliche Selbstverständlichkeiten aus der Leipziger Stadthistorie zu hinterfragen. Aber wahrscheinlich braucht man die Vorstellung gar nicht, dass Goethe je in Auerbachs Keller war – sondern nur mit Behrisch oben aus dessen Stubenfenster sah und sich mit ihm über die Kleidung der Leute unten auf dem Hof lustig machte. Denn dieser Teil der Legende stimmt und steht so auch in „Dichtung und Wahrheit“: Mit Behrisch entwickelte Goethe seinen Sinn für modische Kleidung. Das Ergebnis ist das, was heute auch noch im Goethe-Museum in Weimar zu sehen ist: die berühmte Werther-Kluft.

Wobei das jetzt schon wieder hinausführt in andere Gefilde. In jeder Geschichte stecken schon die nächsten Geschichten – man denke an das mutmaßliche Duell Goethes. Oder seine Liebelei zu Käthchen Schönkopf. In Papa Schönkopfs Gaststube aber saß der junge Goethe ja tatsächlich.

Bernd Weinkauf „Leipziger Merkwürdigkeiten II“, Sax-Verlag, Beucha und Markkleeberg 2023, 19,90 Euro.

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