An und für sich ist alles in Ordnung. Doch Dirk Bernemann wäre kein Schriftsteller, würde er hinter der scheinbar so heilen Kulisse nicht sehen, dass eigentlich gar nichts in Ordnung ist. Da braucht er nicht erst die frustrierenden Erlebnisse auf Tinder und die traurige Erkenntnis, dass der Perfektionswahn, von dem unsere Konsumgesellschaft besessen ist, nun auch noch das Intimste okkupiert hat: die Versuche, menschliche Nähe herzustellen.

Dafür nimmt er sich ein ganzes Jahr Zeit, Monat für Monat setzt er kleine Szenen und Ereignisse nebeneinander, in denen menschliches Miteinander gründlich scheitert. Oder Formen annimmt, bei denen sich der Mensch geradezu in den Zuschauer seines eigenen Lebens verwandelt. So wie in der Juni-Geschichte mit Johannes und Sarah. Als wenn der eigentliche Kick im Leben im Zuschauen bestünde. Und ansonsten akzeptieren. Nicht aufregen. Die richtige Rolle spielen.

So wie sie der Bursche im Bäckerladen spielt, der seine Gesten und Sprüche gelernt hat, die dann schon fast automatisch Freundlichkeit suggerieren. Als wäre die Begegnung beim Croissant-Kaufen im Bäckerladen so etwas wie ein ganz besonderes menschliches Erlebnis, in dem sich zwei strahlende Seelen begegnen. Bis einer dieser Sklaven der modernen Freundlichkeitsnorm aus der Rolle fällt und mal andere Sprüche vom Stapel lässt. Auch wenn das – wahrscheinlich – nur in der Phantasie des Erzählers passiert.

Gefangen im modernen Nonsens

Einen seiner Protagonisten lässt er im Callcenter arbeiten und nach der Arbeit dann auf dem Bahnsteig ausrasten. Es gibt wohl kaum einen Job, der sinnloser erscheint und Menschen in Sprechautomaten verwandelt, die lauter gesichtslosen Anrufern freundlichst aus Problemen helfen sollen, die eigentlich nur durch dysfunktionale Technik erzeugt werden.

Die Themen verschränken sich in Bernemanns Geschichten. Manchmal scheint er selbst der Erdulder des modernen Nonsens zu sein, dann wieder erfährt er von Anderen die Geschichte. Einmal nutzt er selbst so einen Anruf im Callcenter aus, um die nette Frau am anderen Ende in ein menschliches Gespräch zu verwickeln. Man ahnt schon, was ihn belastet in dieser völlig sinnentleerten Welt. „Alle meine Verrichtungen scheinen lebenserhaltende Maßnahmen zu sein. Ich haste zur Arbeit, haste da wieder weg, verabscheue die Wege, lehne auch die Zeit bei der Arbeit selbst ab, wünsche mir einfach nur, dass mich irgendetwas vom Weg ablenkt, irgendetwas meinen Weg kreuzt, was mich ablenken kann, was nicht den Eindruck vermittelt, dass der vorangegangene Tag lediglich Schablone des heutigen ist“, beschreibt er eine Arbeitswelt, die für immer mehr Menschen das Normale geworden ist.

Logisch, dass sie sich darin immer mehr Menschen verloren fühlen. Denn hier zeigt die Rationalisierung aller Lebensabläufe, dass am Ende nichts mehr übrig bleibt. Die Menschen landen in Schleifen, in denen nichts mehr passiert. Schon gar keine überraschenden Begegnungen mit anderen Menschen, die tatsächlich Begegnungen sind. Nicht einmal die Tinder-Dates sind welche. Im Gegenteil. Die einen wollen nur noch einen schönen Seitensprung, den sie danach abhaken wie ein Ferienprogramm, die anderen bauen verzweifelt an einem Image, mit dem sie wenigstens ein paar Matches aus dem Trüben fischen. Aber wenn sie dann mit ihrer so tapfer eingeladenen neue Bekanntschaft auf der Couch sitzen, stellt sich heraus, dass vom eigentlichen Leben eigentlich nichts übrig geblieben ist, weil alle Kraft in den Aufbau eines werbewirksamen Profilbildes geflossen ist.

Es passt wieder nicht

Und so begegnet der Erzähler in den monatsweise sortierten Geschichten immerfort Menschen, die verkrampft ihre Rolle spielen, aber weder die Kraft noch den Wunsch haben, tatsächlich noch neue und ernsthafte Bekanntschaften zu machen.

Selbst die Zufallsbekanntschaft bei der Galerieeröffnung entpuppt sich als kurzes Feuerwerk. Scheinbar begegnen sich da zwei, die wissen, wie es ist, wenn man allein irgendwo aufschlägt. Und tatsächlich mal einem Menschen über den Weg läuft, der lebendig und offen wirkt. Und dann endet das Ganze doch wieder in einem: Ach nee, es passt nicht.

Als wären wir heutzutage immerzu nur noch auf der Suche nach der einzigen, hundertprozentig passenden tollen Frau. Oder dem Mann, der alle Kriterien erfüllt. Passen muss es. Als wenn das je ein Kriterium in der Natur war, die vor dem Balzen keinen Partnerschaftstest eingebaut hat.

Aber genau so gehen wir heutzutage augenscheinlich alle miteinander um. Schon die kleinste Unstimmigkeit sorgt für den Abbruch des Kontaktversuchs. Passt nicht. Und dann landen wir zu Tausenden in den Tinder-Schleifen, stets angefixt von der völlig irrealen Hoffnung, dass bei der ganzen Suche dann doch einmal ein Automat meldet: Jetzt passt alles.

Als wäre das Leben kalkulierbar. Und Menschsein nicht im Gegenteil ein Chaos aus Gefühlen, Wünschen und Unstimmigkeiten, in dem wir unsere Meinungen hundertmal ändern und uns manchmal einfach ins Abenteuer stürzen, das ja nun einmal ein jeder neue Mensch ist. Nur: Vorm Hineinstürzen haben wir Angst. Das ist nicht berechenbar. Und wir könnten ja irgendwas noch viel Tolleres verpassen.

Ergebnis: Wir verpassen alles.

Die Verachtung des Gewöhnlichen

Und diese Stimmung gibt Bernemann in seinen Geschichten ziemlich genau wieder. Das muss nicht einmal an Berlin liegen, wo er lebt und schreibt und sich oft genug nach echter Ruhe zum Arbeiten sehnt. Dieser Snobismus der Lebenskonsumenten, die glauben, sie müssten Menschen auswählen wie Produkte im Online-Katalog, ist längst überall verbreitet. Bevor eine auch nur ein Date vorschlägt, hat er seine Liste an Anforderungen im Kopf, die die Gedatete bitteschön zu erfüllen hat. Und andersherum. Nichts darf gewöhnlich sein, nichts zu verbindlich. Wer von vornherein erwartet, dass die Beziehung zum großen Schaulaufen wird, bekommt – nichts. Bestenfalls die Show.

Aber die trägt nicht. Die erfüllt auch nicht. Sie schafft höchstens wieder den Kater danach, wenn einer sich abserviert fühlt wie ein mieser Täuscher, der nicht halten kann, was er versprochen hat.

Dabei baut das alles längst schon auf falschen Erwartungen und Versprechungen auf. Die niemand erfüllen kann. Aber alle machen mit. Spielen ihre Rollen, man kann ihnen dabei zugucken. Und das tut Bernemann auch, wenn er die Mädchen mit ihren Smartphones auf dem Bahnsteig posieren sieht – jede nur sich selbst im Sucher, um sich hinterher ihre Selfies zu zeigen. Als würden wir nur so in den Köpfen der Anderen existieren: als gestelltes Foto auf dem Bildschirm.

Verständlich, dass der Erzähler damit oft genug nichts zu tu haben will, sich lieber ganz ausklinkt und mit seinem Espresso in den Freisitz setzt, um anderen beim Telefonieren zuzuhören. Vielleicht ist da sogar der Moment, in dem so etwas wie echte Mitmenschlichkeit hörbar wird. Öffentlich, wo alle zuhören können. Da bekommt man so eine Ahnung davon, warum Menschen ausrasten, weil sie sich nicht mehr gemeint fühlen. Weil sie aus ihre Isolation nicht mehr herauskommen, nicht gehört und gesehen werden, weil alle nur noch mit ihrer eigenen Show beschäftigt sind.

Pause für Gefühle

Da wundert sich dann einer mit 45 auch nicht mehr, dass es zu keiner ernsthaften Beziehung mehr kommen will. Denn für Beziehungen muss man sich öffnen. Und einlassen. Und manchmal auch zulassen, dass die Dinge uneindeutig, kompliziert und unberechenbar werden. Was man in einer Welt, in der alles berechenbar sein soll, natürlich nicht mehr aushalten will. Obwohl wir ja trotzdem die ganze Zeit beschäftigt sind damit, alles zu werten, nachzufühlen, auszurätseln. Zuschauer unseres eigenen Lebens. Immerzu angestrengt damit beschäftigt, das Tollste und Beste anzustreben, weil wir mit dem Normalsten nicht mehr zufrieden sein können. Oder dürfen.

So wie der Bursche, der dann in der November-Geschichte letztlich ausrastet, um überhaupt noch irgendeinen irrationalen Moment in ein Leben ohne Ereignisse zu bringen.

„Was ist der optimale, ideale Ort, um nicht zu denken? Um mit dem Fühlen zu pausieren? Um nichts Neues zu erfahren? Ich sehe das nicht mehr, aber ich glaube, niemand sieht diesen Ort. Keiner beginnt damit, einfach nichts mehr zu wollen. So ist der Mensch nicht.“

Nur: Was will er? Oder ist das schon der Schatten unserer von Erwartungen und „Neuigkeiten“ vollgepumpten Welt, in der es keine „leeren“ Räume mehr gibt, in denen man sich vom Funktionieren und Darstellen ausruhen kann? Durchaus gewärtig sein darf, dass das Leben aus lauter Zufällen und Unberechenbarkeiten besteht. Auf die man sich einlassen darf. Ohne dass man hinterher eine Bewertung schreiben muss. Aber eigentlich sitzen wir schon in der Falle. Versuchen Leben zu leben, die nicht unsere sind. Und wundern uns, wenn Freundschaft und Liebe zu leeren Sprechblasen werden.

„Das Leben ist grob, die Menschen eigentümlich, aber weder das Leben, noch die Leute sind schlecht“, stellt der Beobachter fest. „Ich glaube, alle passen sich den Verhältnissen an, einigen gelingt es, andere scheitern. Irgendwie beginnt zwischen den Zeilen ein Krieg, der nicht endet.“

Es ist kein gemütliches Jahr, das Bernemann hier abspulen lässt. Und auch keins mit Happyend, oder zumindest nur einem kleinen, weil es der Erzähler schafft, die Frau im Callcenter ein bisschen fröhlich zu stimmen. So kann man ein Jahr beenden. Oder beginnen. Oder auch sonst dafür sorgen, dass nicht alles nach den Rollenbüchern der Allesverwerter läuft, die nicht einmal ahnen, wie leer die Welt ist, die sie uns mit ihren falschen Heilsversprechen jeden Tag versuchen zu verkaufen.

Dirk Bernemann „An und für sich“, Edition Outbird, Gera 2024, 15 Euro

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