Fußball ist ein Politikum. Für manchen ist es eine Lebensart, für andere eine Möglichkeit der Identifikation. Ein Ort der Erinnerung ist es auch. So wie für Christoph Dieckmann, der unter den Journalisten so etwas ist wie es Peter Ducke einst für den FC Carl Zeiss Jena war. Seit 1991 spielte er für die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“, also in der Bundesliga der Zeitungen, zuvor bei eine Oberligazeitung im Osten, der Kulturzeitung „Sonntag“, die ab 1990 „Freitag“ hieß. Auch Journalisten haben ihre Fußball-Idole.

Für Christoph Dieckmann ist es ein richtiges ostdeutsches Rasengewächs: Peter Ducke. 1959 kam der begabte Stürmer zu SC Motor Jena, aus dem später der FC Carl Zeiss wurde. 1965 entdeckte der neunjährige Pfarrerssohn Christoph Dieckmann aus Dingelstedt am Huy nicht nur den Fußball für sich, sondern auch den eindrucksvollen Stürmerstar aus dem sagenhaften Jena.

Aber sein Büchlein ist nicht nur eine Erinnerung an diese Zeit, als der Junge aus Dingelstedt, der später Theologie studierte und als freiberuflicher Autor für Kirchenzeitungen tätig war, den Einstieg in den Journalismus wagte. Es ist auch ein Nachdenken über Erinnerung und die Weltwahrnehmung über Medien.

Medienereignis Fußball

Denn wirklich begegnet ist er Ducke erst später. Die erste Begegnung war sogar ziemlich enttäuschend. Und die Jahre, als er seiner Lieblingsmannschaft auch bei Spielen nachreisen konnte, würden erst kommen. Vorerst gab es den einzigen echten Fußball auf dem Rasenplatz in Dingelstedt zu sehen. Was in den Stadien der Oberliga der DDR stattfand, erlebte man damals vor allem übers Radio.

Wobei Dieckmann an ein Phänomen erinnert, das damals eine Menge Leute vorm Radio festgebannt haben dürfte: Die Live-Schaltung aus den Oberligastadien, bei der man unter Vollspannung miterleben konnte, wie es überall im Land gerade stand. Und das dargeboten, wie Dieckmann sich erinnert, von Moderatoren, die ihr Handwerk bzw. Mundwerk verstanden und für viele Fußballbegeisterte die Stimmen des ostdeutschen Fußballs waren.

Erst langsam kam das Fernsehen auf und der Junge musste sich in Dingelstedt wohlwollende Gastgeber suchen, die bereit waren, eine der Fußballübertragungen bei sich gucken zu dürfen. Und nach und nach entdeckte Dieckmann auch die gedruckte Fußballberichterstattung für sich und wurde regelrecht zum Sammler der in der DDR erscheinenden „Neuen Fußballwoche“ (FuWo), in der die Spielberichte über die Begegnungen der vergangenen Woche abgedruckt waren.

Etliche davon wohl auf einem sprachlichen Niveau, das man in der heutigen Fußballberichterstattung kaum noch findet.

Denn die Autoren mussten ja einem Publikum, das nicht dabei gewesen war und meist auch nicht über einen ordentlichen Fernsehempfang verfügten, erzählen, was geschehen ist, so lebendig und plastisch wie möglich.

Von seinem „FuWo“-Archiv schwärmt Dieckmann noch heute. Aber im Grunde erzählt er damit auch, worauf es letztlich im Journalismus immer ankommt. Neben dem farbenreichen und plastischen Erzählen auch auf eine gewisse Liebe zum Stoff. Wer sich für nichts begeistern kann, wird auch niemals begeisternde Texte schreiben, niemanden anrühren und auch niemandem erzählen können, dass etwas wichtig genug ist, dass es erzählt werden müsste.

Die Fußballgeschichte der Anderen

Übrigens auch im Nachhinein. Denn Dieckmanns Buch ist auch ein Plädoyer für den Fußball im Osten, für seine großen Legenden und Erfolge, die es trotz allem gab. Und auch wenn die Fernsehzuschauer im Osten, wenn sie dann endlich leistungsfähige Fernsehapparate hatten, begeistert die Bundesliga verfolgten und ihre Favoriten im Westen hatten, lebte auch der DDR-Fußball von Geschichten aus Sieg und Niederlage, aus Animositäten, Mitfiebern und der Bewunderung für Kicker, die sich mit ihren Clubs in die Herzen der Anhänger spielten.

Eben auch Typen wie Peter Ducke, der mit Jena dreimal DDR-Meister wurde und bei den Olympischen Spiele 1972 in München Bronze mit der Nationalauswahl gewann.

Und man merkt Dieckmanns Ärger über die Arroganz der Westdeutschen und auch des DFB gegenüber der ostdeutschen Fußballgeschichte. „Je älter ich werde, desto stärker begreife ich Fußball als Gefäß der Volksgeschichte“, schreibt er. „Die des Ostens ist vom Vergessen bedroht …“ Nicht nur, weil der DFB die Fußballgeschichte der DDR als etwas behandelt, was nicht zur deutschen Fußballgeschichte gehört.

Auch im Fußball kamen ab 1990 dieselben Mechanismen zum Tragen, die seither auch andere Teile der ostdeutschen Geschichte marginalisiert haben, weil sie nicht ins westdeutsche Verständnis vom „Mir san mir“ passen.

„Vier Jahrzehnte floß der Strom der deutschen Nationalgeschichte geteilt“, stellt Dieckmann fest. Und zeigt dann pointiert, wo bis heute der Hund begraben liegt: „1999 erhielt ich einen Anruf von Rudi Michel. Der DFB werde 100 Jahre alt und wolle zu diesem Jubiläum einen Prachtband publizieren. Freilich enthalte das deutsche Fußballjahrhundert zwei problematische Kapitel. Ich dachte: Die Nazizeit, und welches noch? Michel sagte: Das Saarland und die DDR. Letztere möge ich übernehmen.“

An dieser Haltung hat sich bis heute nichts geändert. Der Westen definiert den Osten als Problemfall.

Klassentreffen in der Vierten Liga

Ein Osten, der in auch in der Bundesliga kaum eine Chance hat, weil im Grunde kein Club das Geld hat, mit den Budgets westdeutscher Clubs mitzuhalten, wenn man vom Sondermodell RB Leipzig absieht oder dem kurzen Frühling von Union Berlin, das aktuell quasi die ostdeutschen Fahnen in der obersten Liga vertritt. Talentierte Nachwuchsfußballer werden von Scouts frühzeitig sondiert und für finanzstarke Clubs im Westen geordert. Sodass sich die alten Traditionsmannschaften im Grunde in der Regionalliga Nordost treffen: Cottbus, Zwickau, Jena, Erfurt, Lok, Chemie …

Geld bestimmt eben auch im Fußball, wer oben mitspielen darf (und kann), und wer nicht. Wobei sich eben auch längst als Märchen herausgestellt hat, dass Profifußball die Stärke der regionalen Wirtschaft abbilde. Spitzenfußballclubs sind Investorenmodelle, die Dieckmann auch gefühlsmäßig kaltlassen.

„Andererseits tauge ich schwerlich zum Fan eines Fußballligisten. Mein Fußball ist keine Ware der Unterhaltungsindustrie. Er riecht nach Gras, Bratwurst und Getränk.“ Man ahnt: Da gibt es auch mehr zu erzählen, weil nicht die Presseabteilung des Clubs steuert, wie über die rundum optimierte Profimannschaft zu berichten ist. Da ist noch nicht alles clean gemacht und dem neugierigen Journalisten begegnen noch richtige Leute mit Ecken und Kanten, Schrammen, Blessuren und krummen Biografien.

Und eben auch die alten Herren, die man in seiner Jugend so bewundert hat, Typen wie Peter Ducke, die sich ganz berechtigterweise verarscht vorkommen durften, wenn sie bei einem Besuch im Münchner Olympiastadion 2004 von einem Franz Beckenbauer gefragt wurden: „Na, habt’s ihr hier schon mal gespielt?“

Haben sie. In der Zwischenrunde der Olympischen Spiele besiegte die DDR-Mannschaft damals die BRD-Auswahl mit 3:2.

Die westdeutsche Brille

Die Wahrnehmung des Ostens ist nun einmal auch ein ganz zentrales mediales Problem. „Deutsche Öffentlichkeit ist westdeutsche Öffentlichkeit“, stellt Christoph Dieckmann auch aus jahrelanger journalistischer Arbeit für die „Zeit“ fest.

„Nationale Medien sind westdeutsche Medien. Nationale Debatten, von ihnen entfacht, sind westdeutsche Debatten, manchmal mit einer Ost-Stimme garniert. Der deutsche Begriff von Normalität bezeichnet das westdeutsch Normale. Die aufgerufenen Geschichtserfahrungen sind die der alten Bundesrepublik.“

Und so lange sich das nicht ändert, wird der Osten immer wieder als Projektionsraum für das Andere, das Fremde und Nicht-Dazugehörende benutzt. Und manchmal darf einer aus dem Osten auch in der Bundesliga schreiben. Und wird natürlich immer dann um neue Beiträge gefragt, wenn einem in der Chefetage auffällt, dass man schon lange nichts mehr über den Osten geschrieben hat.

Da ähnelt das Schicksal eines Journalisten durchaus dem diverser ostdeutscher Fußballspieler, die den Sprung in einen westdeutschen Bundesligaverein schaffen.

Christoph Dieckmann „Peter Ducke. Der Stern von Jena und ich“ Voland & Quist, Berlin und Dresden 2024, 12 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar