Vielleicht wird das einmal anders, wenn Europa sich ändert und die Länder im Osten und Südosten nicht mehr wie niedliche kleine Anhängsel betrachtet werden, wo zwar die Landschaften ganz nett sind, aber eigentlich keiner leben will. Wo die jungen Leute nur einen Traum haben: Nichts wie weg hier. So ging es auch Dean, den Boris Matić hier auf die Reise schickt in das Land seiner Geburt, das denselben Geburtstag hat wie er selbst – den 1. März 1992.
Das war der Tag, an dem die Bevölkerung von Bosnien und Herzegowina in einer Volksabstimmung ihre Unabhängigkeit erklärte. Ein Tag, der freilich auch der Beginn einer Katastrophe war – denn die serbische Minderheit gründete postwendend eine eigene Republik und ein dreijähriger Krieg mit über 100.000 Toten war die Folge.
Die belagerte und zerstörte Hauptstadt Sarajevo wurde geradezu zum Symbol dieses Krieges, der ja nur einer der vielen ethnischen Kriege war, die das zerfallende Jugoslawien heimsuchten. Erst der Vertrag von Dayton 1995 beendete diesen Krieg. Der freilich in den Erinnerungen der Bewohner dieses kleinen Landes noch immer lebendig ist.
Der Ort der Geburt
In der Zeit, in der Boris Matić seinen Helden auf die Reise schickt, ist noch keine Rede von einem möglichen Beitritt zur EU. Die Wirtschaft liegt am Boden. Wer dageblieben ist, hat zu kämpfen. Und eigentlich hatte Dean gar nicht vor, so bald wieder in das Land zu reisen, mit dem ihn eigentlich nicht mehr viel verbindet. Er lebt seit Jahren in Berlin, wo er Philosophie studiert. Ein ganz offensichtlich ziemlich nutzloses Fach, wenn man damit irgendwie Geld verdienen will im Leben. Seinen Lebensunterhalt verdient er mit Kellnern in Berliner Bars. Und trotzdem will er in Deutschland bleiben und die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben.
Was anfangs ganz einfach aussah. Aber dann stellte sich heraus: Die Staatsbürgerschaft in seinem Pass ist nicht die richtige. Die ganze Zeit hatte er gedacht, dass er ein gebürtiger Kroate wäre. Aber sein Geburtsort Vrelo liegt in Bosnien und Herzegowina. Also braucht er eine dort bezeugte Geburtsurkunde und eine Urkunde für seine dortige Staatsbürgerschaft, um aus dieser überhaupt entlassen zu werden.
Eigentlich ein simpler Akt, den er an einem Freitag im dortigen Meldeamt vollziehen lassen kann. Aber sein Problem ist auch: Er hat eigentlich keine richtigen Pläne. Auch diese Reise hat er eigentlich eher nachlässig angetreten, sich natürlich darauf verlassend, dass seine Verwandten ihn in Vrelo beherbergen. Dann würde er einfach aufs Rathaus gehen, Stempel abholen, fertig. Aber als er sich nach einer alkoholhaltigen Nacht auf die Socken macht, ist das Rathaus natürlich schon geschlossen. Er hat ein ganzes Wochenende vor sich, für das er natürlich keine Pläne hat.
Familienbande
Aber wer eine solche Familie hat, ist nicht verloren. Im Grunde zeichnet Boris Matić ein kleines Land mit einer unverwüstliche Freundlichkeit. Selbst der in der Fremde Verschollene, der nicht mal im Traum daran denkt, wieder nach Vrelo zurückzukehren, wird herzlich aufgenommen. Es ist im Grunde ein Roman über ein Phänomen, das nicht nur die gebeutelten Länder des ehemaligen Jugoslawien betrifft: Denn was Dean erlebt, erleben auch viele andere junge Nestflüchtlinge, wenn sie in ihre ländlichen Heimaten zurückkehren. Auch in Deutschlands verlorenen Landschaften ist das so.
Denn die Phänomene ähneln sich, wenn die einstigen Fabriken, die der Bevölkerung Brot und einen kleinen Wohlstand ermöglichten, geschlossen sind. Wenn die Jugend weggezogen ist und die Alten noch da sind. Vielleicht nicht so herzlich und robust wie die Onkel, Tanten und Cousins, die Dean auf seiner Reise trifft. Herumgefahren in uralten Autos.
Aber sie lassen ihn ihre Freude spüren, dass er zu Besuch ist. Und gleichzeitig kommen ihm Erinnerungen an seine letzten Reisen hoch, an eine Hochzeit, auf der er sich ein paar wohlverdiente Hiebe einhandelte, und an das Begräbnis der Großmutter, die in ihrer Bedürfnislosigkeit immer der Mittelpunkt der ganzen Familie gewesen war. Ihr Grab besucht er an diesem Wochenende, auch ihr leer stehendes Haus.
Und wieder gerät er in alte Träume und Erinnerungen. Denn sicher ist er sich seiner Rolle überhaupt nicht. Auf Fragen nach dem Sinn seines Studiums und seinen Zukunftsplänen weicht er aus, gibt flapsige Antworten. Denn er merkt ja, wie seltsam es auf seine Verwandten wirken muss, wenn er da oben im reichen Berlin seine Chancen nicht nutzt und sich eine richtige Zukunft aufbaut.
Er hat sich eine Rolle zugelegt, die er auch am Schluss der Reise nicht ablegen wird, wenn er mit seinem Onkel noch einmal die Schauplätze des Krieges in Sarajevo besichtigt. „Ich hörte genau zu, überzeugt davon, dass ich charakterfest und mental stark wirken wollte. Wie ein Militärstratege wollte ich mir vorkommen, wie jemand, der diese Angelegenheiten verstanden hatte und eine fundierte Meinung dazu besitzt. Weiß der Henker wieso, ich wollte Stärke ausstrahlen.“
Im Lärm der Metropole
Es ist eine Rolle, die so viele Kinder sich zulegen. Wer in die Fremde geht, darf keine Schwäche zeigen. Der muss den Dagebliebenen Vorbild sein, Mut machen und beweisen, dass er seine Chancen zu nutzen weiß. Er wird bewundert. Und steckt gleichzeitig im Widerspruch mit den eigenen Vorstellungen vom Leben. Auch wenn dieser Dean nicht wirklich weiß, was er will.
Außer, dass er in Berlin leben will, einer Stadt, die ihm bei der Rückkehr mit der alten Hektik begegnet. Als wollten sich die Bewohner der Stadt mit aller Verbissenheit die Langeweile vertreiben. Als gäbe es in dieser Stadt keinen Grund, sich zu besinnen und das Leben einfach so zu genießen. Als wäre Wohlstand überhaupt nichts, was man einfach genießen kann.
Womit sich dieses hektische Berlin deutlich von der – vielleicht auch nur oberflächlichen – Gelassenheit der Menschen in jenem Ländchen unterscheidet, in dem nicht einmal richtig klar ist, wie die Sprache heißt, die dort gesprochen wird. Serbokroatisch? Bosnisch? Oft genug fehlen Dean die richtigen Worte, merkt er, dass er nicht wirklich mehr dazu gehört. Und doch nicht loskommt davon.
Es ist ein Roman über die Rast- und Ruhelosigkeit im heutigen Europa, in dem Millionen Menschen aus ihrer Heimat aufgebrochen sind, um anderswo ihren Traum von einem anderen Leben zu erfüllen. Und trotzdem nicht loskommen. Denn der Imperativ, dass man sein Leben im Griff haben sollte, wissen sollte, was man will, den hat Dean verinnerlicht. Und liegt damit selbst im Clinch, reagiert geradezu heftig, wenn dieser wunde Punkt auch nur angetippt wird.
Das Ergebnis: Ein Erzähler, der sein eigenes Agieren permanent beobachtet und analysiert. Der also nicht bei sich ist, nicht wirklich. Und selbst den Menschen, die ihn mit Herzlichkeit aufnehmen, immer mit Distanz begegnet. Sogar mit einem gewissen Misstrauen. Denn dass sie hinter seine Fassade schauen, das will er eigentlich verhindern. Er gibt sich flapsig und unberührt.
So wird das letztlich die Geschichte einer Entfremdung, die gar nicht mit dem Land der Geburt beginnt, sondern mit dem Fortgegangenen selbst. Wer fortgeht, verliert seine Wurzeln nicht – auch wenn er aus Berliner Perspektive mit einer gewissen Herablassung auf das kleine, heruntergewirtschaftete Land schaut. Als wenn die Dagebliebenen schuld daran wären, dass es so aussieht.
Ein Erzähler auf Distanz
Aber tatsächlich trifft ihn diese Wiederbegegnung bis ins Herz. Denn dass er in den Geburtsregistern von Vrelo nicht existieren könnte, das haut ihn vom Stuhl. Es ist eine Szene, in der sich alle Widersprüche ballen, die Dean beim Erzählen versucht, ja nicht zu berühren. Er ist doch der Coole, der alles im Griff hat!
Aber so ist das Leben nicht. Auch nicht das im hektischen und ruppigen Norden. Wo man zwar schnell lernt, die Rolle zu spielen, die scheinbar von einem erwartet wird – ein harter, abgefuckter Individualismus, für den das heutige ruppige Berlin geradezu als Synonym steht. Aber in diesem völlig entfesselten Ego-Spiel findet niemand wirklich Trost, Halt und Erdung.
Dean kehrt zwar am Ende – zutiefst erleichtert – in dieses lärmende Berlin zurück. Aber man merkt, dass diesem Dean immer etwas fehlen wird in dieser Stadt, die ihn verschlucken wird wie Millionen Andere: „Meine Freude übers Ankommen war größer als die Freude über den Ort selbst. Mir wurde wieder heiß vor lauter Geschäften, Lärm und Menschen. Der große gemeinsame Kampf gegen die Langeweile und für Aufmerksamkeit“, stellt er lakonisch fest.
Nachdem er just aus jenem Stückchen Erde zurückgekehrt ist, in dem er die ganze Zeit im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Einer geradezu selbstverständlichen Aufmerksamkeit, die man in den überdrehten Metropolen unserer Gegenwart schon lange nicht mehr findet. Und auch nicht finden kann. Im Grunde flüchtet Dean wieder in die Anonymität: „Ein weiterer Deutscher unter Millionen anderen, doch einer von Millionen anderen.“
Als entkäme er so den Erinnerungen und der Vergangenheit. Was einem doch irgendwie vertraut vorkommt, denn das betrifft nicht nur die Menschen, die aus dem einstigen Jugoslawien nach Deutschland geflohen sind, um hier ein Leben in Frieden zu suchen. Das betrifft auch die Millionen, die aus den deutschen Provinzen abgewandert sind – dem Job, dem Einkommen, den Träumen hinterher. Nur um in Städten voller Anonymität und Hektik zu landen. Und etwas zu vermissen, was sie eigentlich für immer hinter sich lassen wollten.
Boris Matić „Deans Reise“ Edition Überland, Leipzig 2025, 22 Euro.
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