Am Ende fragt man sich tatsächlich: Warum hat kein deutscher Verlag diesen letzten Roman von Ken Kesey (1935–2001) über 30 Jahre lang auf Deutsch veröffentlicht? Wollte man nicht? Konnte man nicht? Hat man die Brisanz des Stoffes ignoriert? So, wie man die ganze Zeit die sich aufschaukelnde Klimakrise ignoriert hat? Denn Keseys letzter großer Roman ist ein Hammer, ein Faustschlag ins Gesicht all der Ignoranten, die heute wieder alles tun, um alle Klimaanstrengungen zu untergraben. Milena Adam hat die filmreife Geschichte um das Fischerstädtchen Kuinak in Alaska jetzt endlich ins Deutsche übersetzt.

Die Meisten kennen Ken Kesey durch seinen dann auch mit Jack Nicholson verfilmten Roman „Einer flog über das Kuckucksnest“. Nicht ganz so bekannt ist Keseys Rolle als Musiker, Aussteiger, Aktionskünstler, Guru und lebende Legende, der auf seiner Farm das Leben lebte, das er auch predigte. Eine komplette Absage an das Amerika seiner Zeit.

An einem Ort, weitab von den irren Schauplätzen der Zivilisation. Im Vorwort erzählt Volker Weidermann von einem Besuch auf Kesey Farm im Jahr 1998, drei Jahre vor Keseys Tod. Da hatte Kesey längst beschlossen, kein Buch mehr zu schreiben.

„Sailor Song“ war 1992 erschienen. 1992? Da fand in Rio de Janeiro die berühmte Rio-Konferenz statt, die wie keine vorher und keine nachher thematisierte, wie wir Menschen gerade unseren Planeten und sein Klima zerstören. Lauter konnte man gar nicht warnen. Und Keseys Buch thematisierte genau das. Und zwar mit allen Mitteln der Fabulierlust.

Wenn auch Protest nichts ändert

Denn Kesey wusste, wie man Geschichten erzählt. Gute und starke Geschichten. Und so ein wenig darf man sich in dem „abgehalfterten Ökoterroristen“ Ike Sallas auch die kämpferische Seele Ken Kesey vorstellen, auch wenn Kesey niemals losgeflogen wäre, um mit versprühter Gülle über den verlogenen Festen der Gegenwart gegen die Vergiftung unserer Umwelt mit Pestiziden zu protestieren.

Aber in der Fantasie geht das ja. Da ist Ike Sallas ein cooler, aber verschlossener Mann. Denn sein Kind hat er durch die Folgen des massiven Pestizideinsatzes verloren. Und als er für seine rabiaten Proteste gegen die Geschäftspraktiken der großen Konzerne im Gefängnis landete, verlor er auch seine Frau.

Er ist zwar kein gebrochener Mann – das sind ganz andere Figuren in Keseys Roman – aber er hat abgeschlossen mit dieser verlogenen Welt, in der Politiker die Geschäfte krimineller Großkonzerne besorgen und selbst ein von engagierten Menschen sehr wohl wahrgenommener Protest, wie ihn Sallas auf die Beine gestellt hat, nichts ändert daran, dass die Zerstörung von Umwelt und Klima immer weiter geht.

Kesey muss durchaus ein paar Jahre an diesem turbulenten Roman gearbeitet haben, also schon in den 1980er Jahren, in der von konservativer Ignoranz geprägten Reagan-Ära. Und wer heute behauptet, wir hätten das alles damals noch nicht gewusst, der lügt sich selbst in die Tasche. Wir wussten es. Wir wussten es seit dem Bericht des Club of Rome „Grenzen des Wachstums“ und allen folgenden Berichten.

Wir mussten alle nur unsere Augen aufmachen und zusehen, wie die entfesselte fossile Wirtschaft unseren Planeten Stück für Stück verwüstete. Aber die meisten von uns haben die Augen verschlossen, mit den Schultern gezuckt und lieber den Märchen aus den Konzernen geglaubt, das alles sei nicht schlimm. Wir sollten uns nicht so haben.

Aber schon mit „Einer flog über das Kuckucksnest“ (1962) hatte Kesey gezeigt, dass er nicht bereit war, die Beruhigungspille zu schlucken. Dünnhäutig, sensibel, fantasiebegabt, wie er war, schuf er sich nicht nur die wilde Welt seiner Aussteigertouren mit den Merry Pranksters und dem kunterbunt bemalten Schulbus.

Er verwandelte sein Entsetzen über die Ignoranz einer die Welt verwüstenden Gesellschaft am Ende eben auch in einen Roman, in dem durchaus auch einige gestandene Seebären vorkommen. Auch Ike Sallas fährt mit einem alten Klapperkahn hinaus, um auf Fischjagd zu gehen. Denn in diesem Kuinak irgendwo ganz oben im fernen Alaska gibt es noch Fisch. Anderswo sind die Meere längst leergefischt oder haben sich in Todeszonen verwandelt. Dieses Kuinak liegt in unserer Zukunft, eigentlich aber auch schon in unserer Gegenwart.

Lohnt es sich noch zu kämpfen?

Kesey musste dieses Kuinak eigentlich nicht erfinden. Alle Trends waren in den 1980er Jahren schon sichtbar, damals, als wir alle noch hätten handeln und die Kurve kriegen können. Dass Milena Adam den Roman jetzt mit sichtlicher Lust an der furiosen Sprache Keseys übersetzt hat, schafft ein erstaunliches Phänomen: Es liest sich, als hätte Kesey dieses Buch gerade eben erst geschrieben, hingehauen, um seine Leser noch einmal, ein allerletztes Mal wachzurütteln: Stoppt diesen Wahnsinn! Fallt den Zerstörern unserer Welt endlich in die Arme! – Bildlich gesprochen natürlich.

Auch Ike Sallas hat vom Kämpfen eigentlich die Nase voll, hat sich mit seinem Wohnwagen gerade dieses gottverlassene Nest in Alaska ausgesucht, um hier endlich in Ruhe gelassen zu werden. Daneben stinkt die Müllhalde von Kuinak vor sich hin, eine Herde verwilderter Schweine wühlt in dem stinkenden Unrat. Und eigentlich ist sonst nicht viel los, außer an den Tagen, an denen die Fischerboote hinausfahren, um Nachschub für die Fischfabrik zu holen.

Bis zu dem Tag, an dem ein riesiger, computergesteuerter Segler in den Hafen einläuft und alles verändert. Ein Film soll gedreht werden, eine alte Sage der Eingeborenen verfilmt werden in allerschönster Hollywood-Kitsch-Manier. Nur dass diese Sage weder von den Ureinwohnern stammt, noch besonders alt ist, sondern von einer pensionierten Lehrerin stammt, die sich die Geschichte ausgedacht hat.

Eine Ebene, die die ganze Zeit gegenwärtig ist. Denn auf ganz und gar nicht verbrämte Weise demontiert Kesey hier die systematische Verkitschung der Welt durch die viel zitierte „Traumfabrik“, die eben keine Träume produziert, sondern Kitsch, der auch vor der Verunstaltung der Kulturen und Legenden der Völker nicht haltmacht.

Und um diese Fabel ausgerechnet im noch einigermaßen von den Zerstörungen der Welt verschonten Kuinak zu drehen, wird der ganze Ort umgekrempelt, werden Kulissen und Fassaden vor die eher rustikalen Gebäude des Ortes geklatscht, werden die Einwohner als Wachleute und Statisten rekrutiert und mit rabiaten Methoden Platz geschafft für die Filmleute. Es ist – so betrachtet – auch eine Geschichte über die Zerstörung eines der letzten noch irgendwie halbwegs heilen Orte auf Erden.

Denn die Erde ist zwar schon großflächig kaputt, das Klima ist längst gekippt und statt des kalten, stürmischen Wetters, das man an der Küste Alaskas erwartet, findet man eine überheizte Welt vor, eine meist wie tot daliegende See und im Grunde eine Gemeinschaft, die sich nur noch mit Drogen irgendwie bei Laune hält. Sehr modernen Drogen.

Ike Sallas

In einem dieser knappen, zutiefst sarkastischen Dialoge mit einem obskuren Prediger namens Greener lässt Kesey die verkorkste Wetterlage auf den Punkt bringen. Herzlich willkommen im Jahr 2025, könnte man meinen. Hier ist es dieser Greener, der die Wahrheit ausspricht: „Das Wetter wird sich nicht normalisieren (…) Selbst wenn du das Wort Gottes außer Acht lässt und nur den Wetterbericht liest, solltest du wissen, dass es immer heißer wird! Wir haben uns eine Grube gegraben und sollen in unserem eigenen Feuer zugrunde gehen!“

Steckt in diesem – von der Apokalypse besessenen – Greener nicht auch ein Stück Kesey? Natürlich. Nur dass Greener meint, mit einer Sekte in der Abgeschiedenheit der Berge so eine Art Rettungsinsel zu schaffen (die gleichzeitig wieder an die schlimmsten Varianten utopischer Gemeinschaften erinnert). Dagegen hat Ike Sallas eigentlich gar keine Pläne mehr, außer immer wieder als Retter auszuziehen, wenn einer seiner Freunde in Not gerät. Ein Held wie aus einem Drehbuch, eine Type wie aus einem Roman von Raymond Chandler – ausgekocht, dickfellig, durch seinen Gefängnisaufenthalt erst recht wortkarg und verschlossen geworden.

Würde da nicht mit der Filmcrew auch ein alter Bekannter auftauchen, dem er im Knast vielleicht sogar den Hintern gerettet hat, gleichzeitig der Sohn der selbstbewussten Alice Carmody, mit der Ike immer wieder aneinander gerät. Aber auf eine herzliche und derbe Art, dass man merkt: Die beiden verbindet mehr als nur so eine ruppige Nachbarschaft. Was schon beim Lesen guttut. Endlich mal kein Herz-Schmerz, kein Gesäusel, kein süßer Kitsch aus dem hundertsten Abklatsch einer Hollywood-Romanze.

Ich hab gezeigt, dass ich Romane schreiben kann. So ungefähr hat sich Kesey zu Weidermann geäußert. Da hatte er „Sailor Song“ längst geschrieben. Und diese Aussage beinhaltet auch seine hier einmal mehr demonstrierte Fähigkeit, menschliche Beziehungen so drastisch, rau und kantig zu erzählen, wie sie tatsächlich meistens passieren. Man ahnt, dass Ike und Alice mehr verbindet als ihr rauer Umgangston und ihre stolze Sonderstellung in einer sowieso schon verrückt gewordenen Gemeinschaft aus lauter Underdogs, die selbst genau wissen, dass sie eigentlich nur noch schlechte Karten haben.

In einer kaputten Welt

Wer schlechte Karten hat, der ist aber meistens käuflich. Erst recht, wenn die Filmfirma Millionen bietet, um letztlich ganz Kuinak aufzukaufen und erst zur Filmkulisse und dann gar zum Abenteuer-Park zu machen. Alles nicht mal nur ausgedacht. Denn wie Filme in „unberührten Landschaften“ inszeniert werden, hat Kesey selbst bei einem Filmprojekt in den 1960er Jahren erlebt.

Sein Roman entspinnt sich aus lauter Webfäden der Gegenwart, die Kesey selbst noch erlebt hat und nur noch konsequent in eine nahe liegende Zukunft fortweben musste, in der selbst der letzte Zufluchtsort noch zum Vergnügungspark einer reichen Elite werden soll, die es sich in einer kaputten Welt leisten kann, sich das inszenierte Abenteuer zu kaufen.

Aber nicht alle Menschen sind käuflich. Auch darum geht es in Keseys Geschichte. Selbst Shoola, die junge Frau, die die Hauptfigur in der verfilmten Legende spielen soll, findet sich nicht mit ihrer Rolle ab. Sie merkt, dass es weder um sie noch um ihre Gemeinschaft geht. Nur um ein inszeniertes Bild, das sich dann wieder gut verkaufen lässt in der großen Traum-Produktions-Maschine.

Was aber bleibt? Man überliest es fast in den ruppigen, oft auch verletzenden Dialogen der Protagonisten in Keseys Geschichte. Denn hinter dieser – durchaus seebärischen – Ruppigkeit verbirgt sich auch etwas, was Vertrauen schafft. Die Männer auf den Booten wissen, wie sie miteinander umzugehen haben. Sie akzeptieren einander auch in ihren Verschrobenheiten.

Wichtiger ist, dass man sich aufeinander verlassen kann und nicht wegläuft, wenn es brenzlig wird. Auch wenn es dann meistens Ike Sallas ist, der sich aufmacht, den Hilferufen zu folgen und sich mit der Sturheit eines Mannes, der sich nicht kleinkriegen lässt, in die Rettungsaktionen wirft. Ohne Rücksicht auf sich selbst, als wäre er es wirklich leid, sich in dieser verrückt gewordenen Welt noch zu schonen. Wofür auch? Hat er nicht das Wichtigste längst verloren, was sein Leben ausgemacht hat?

Was Menschen wirklich verbindet

Aber genau in solchen Situationen stellt sich nun einmal die Frage: Ist es das wert? Ist einem wie diesem verschlossenen Sallas irgendetwas überhaupt so viel wert, dass es sich lohnt, dafür auch noch das Letzte zu riskieren?

Es ist, als wäre es genau diese Frage, die Ken Kesey die ganze Zeit umkreist: Wann rafft sich der Mensch auf und geht los, um anderen Menschen aus der Patsche zu helfen? Und was erwartet er dafür? Dieser Sallas jedenfalls erwartet nichts. Und ist gerade deshalb einer, der immer wieder angefunkt wird, wenn es irgendwo brennt. Und in dessen Wohnwagen sogar Alice aufräumt, als er unterwegs ist, obwohl sie doch nichts mit dem Typen verbindet. Oder doch alles?

Die Leser erfahren es nach und nach. Puzzleteil um Puzzleteil – so, wie das Leben spielt und wie Menschen sich finden, die nicht von verkitschten Fernsehsendungen völlig falsche Vorstellungen von Liebe, Nähe und Vertrauen bekommen haben. Die eher gelernt haben, dass es zwischen Menschen immer voller Missverständnissen und Fehlstellen zugeht.

Und man die wirklich verwandten Seelen erst findet, wenn man mit der Nase drauf gestoßen wird. Es ist also – wer Keseys frühere Romane gelesen hat, weiß es – eben auch wieder ein echter Kesey. Mit einer Dramatik, die heutzutage wirklich nicht mehr viele Romane haben. Ohne die üblich gewordenen Seelenerkundungen und Selbst-Diagnosen, aus denen eine Menge Leute „preisverdächtige“ Bücher basteln, aus denen man letztlich immer nur eine Botschaft mitnimmt: Sie trauen sich nicht mehr zu leben.

Brodelnde Aktualität

Während dieser Ike Sallas zwar so tut, als ginge ihn das alles nichts mehr an. Aber eben deshalb immer mittendrin ist, wenn es gefährlich wird und einer gefragt ist, der einfach zupackt und etwas tut. Meist ohne Alkohol als Seelentröster. Weshalb er dann meist derjenige ist, der einen kühlen Kopf bewahrt. Einer, der auch deshalb handeln kann, weil ihn die Verführungen der Filmleute nicht die Bohne interessieren.

Und ist es schon in den frühen Kapiteln dieser Geschichte aus einem Kuinak der nahen Zukunft eigentlich nur noch deprimierend, weil die Welt schon derart kaputtgemacht wurde, dass ihr einstiger Reichtum nur noch Legende ist, sorgt zuletzt auch noch ein blauer Blitz dafür, dass das ganze Schönwettergebilde der Filmleute zerspringt. Vielleicht ein Naturphänomen, das wir so nie erleben werden. Aber selbst die Extreme, die wir erleben werden, werden schlimm genug sein und mehr zerstören als diverse Hollywood-Fata-Morganas.

Keseys Roman hätte schon 1992 eine Warnung sein können. Im Jahr 2025 ist er es umso mehr. Wuchtig und bildhaft erzählt, mit derbem und lebendigem Humor. Und einer ganz und gar nicht stillen Wut auf all jene, die für ihren rücksichtslosen Profit nicht nur Menschenleben opfern, regelrecht über Leichen gehen, sondern unsere Lebensgrundlagen zerstören. Und auch nicht aufhören damit, wenn schon die ersten Katastrophen sichtbar sind.

Ein Buch, wie für das Jahr 2025 geschrieben. Nur werden es die Leute, die unsere Welt verschleudern, natürlich wieder nicht lesen. Und die, die immer den Kopf einziehen, wenn es ums Handeln ginge, auch nicht.

Aber gerade deshalb ein höchst aktueller Roman, der manche Leser verblüffen wird ob seiner brodelnden Aktualität.

Ken Kesey „Seemannslied“ März Verlag, Berlin 2025, 38 Euro.

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