So muss man das wohl machen, wenn der Job ganz offiziell mit 65 Jahren endet, der Kopf einem aber sagt, dass man gar keine Lust aufs Ruhigstellen hat. Das klingt auch in der Geschichte an, die dem Erzählungsband von Angelika Arend den Titel gegeben hat: Was fängt man eigentlich mit achtzig Jahren an? Lässt man sich einfach von jüngeren Leuten ausladen, weil die denken, dass alte Leute nur noch ins Pflegeheim gehören? Wie dumm sind wir eigentlich alle geworden?

Wie verfestigt sind die platten Bilder fantasieloser Politiker eigentlich in unseren Köpfen, die uns per TV tagtäglich ihre realitätsfremden Vorstellungen davon, wie Menschen so sind, in die Ohren predigen? Wählen wir eigentlich nur noch die dümmsten Leute in politische Verantwortung, weil wir mittlerweile gewohnt sind, dass Gedankenfaulheit eine Tugend ist?

Sorry. Ja: Der Erzählband, den Angelika Arend jetzt veröffentlicht hat, ist nicht so wütend. Nicht einmal die erwähnte Geschichte über die ganz selbstverständliche Altersdiskriminierung in akademischen Kreisen, wo es ein Ex-Kollege der Autorin für selbstverständlich hält, dass man die just in den Ruhestand verabschiedete Anglistin und Germanistin nicht mehr zu Buchprojekten und Lesungen einlädt, weil sie ja nun alt ist.

Ratsch.

Man spürt es richtig, wie da die Schere im Kopf zuschnappt. Rente und Ruhestand gleich unberechenbar und senil. Angelika Arend erzählt diesen Vorfall sogar mit Humor und mit Verständnis. Und auch, wie sie mit weiblicher Hartnäckigkeit versucht, die Borniertheit ihrer „jüngeren“ Kollegen aufzubrechen und ihnen klarzumachen, dass das Ausscheiden aus dem Berufsleben nicht bedeutet, dass der Mensch auf einmal blöd und tatterig wird. Heute schon mal gar nicht, wo sich gerade Menschen aus akademischen Berufen oft bis ins 80. Lebensjahr und darüber auch körperlich fit halten.

Die beharrlichen Vorurteile in unseren Köpfen

Es stimmt schon: Die westlichen Gesellschaften müssen sich allesamt Gedanken machen, ob sie am starren Renteneintrittsalter festhalten. Oder ob sie ein Berufsleben endlich einmal vom Menschen her denken und von der simplen Tatsache her, dass die meisten Menschen nicht arbeiten gehen, um Geld zu verdienen. Das auch. Aber gerade Ostdeutsche haben es bitter erfahren, dass Arbeit viel mehr ist – nämlich gesellschaftliche Teilhabe, Freundeskreis, Herausforderung, Selbstverwirklichung, Anerkennung.

Die auf einmal alle weg sind, wenn die Arbeit weg ist.

Klar, das ist in vielen heutigen Bullshit-Jobs nicht mehr so. Aber auch das hängt mit einem falschen Denken über Arbeit, Motivation und Lebenserfüllung zusammen. Aber wer erwartet das ausgerechnet von Leuten, die BWL studiert haben, dass sie das wissen?

Angelika Arend ist selbst ein Kind aus dem Osten, auch wenn ihre Familie noch in den 1950er Jahren den Weg in den Westen gesucht hat. Davon erzählt gleich die erste Geschichte im Band: „Das Dummchen aus der DDR“. Der Titel verrät es schon: Es ist ebenfalls eine Geschichte über Diskriminierung und Vorurteile. Und darüber, dass westdeutsche Arroganz und Ignoranz keineswegs erst mit dem Ossi-Bashing der 1990er Jahre begannen, sondern schon vor 70 Jahren in manchen Teilen Deutschlands gehegt und gepflegt wurden.

Man ahnt in dieser Geschichte, wie sehr die Diskriminierung Ostdeutscher mit ganz anderen, viel älteren Diskriminierungen zu tun hat. Darin waren die Deutschen schon 100 Jahre früher gut. Borniertheit gehört ganz offensichtlich zu den Werten, die die Deutschen schon immer gepflegt haben.

Was auch ein Grund dafür war, dass die Autorin nach den teilweise hanebüchenen Erfahrungen an westdeutschen Schulen ihre Ausbildungskarriere in England fortsetzte und später nach Kanada ging – mit exzellenten Studienabschlüssen. Dort wurde sie dann Professor of German an der Universität Victoria, wo sie dann auch 2007 emeritiert wurde.

Wie Kinder ihre Eltern „erziehen“

Dass auch Kanada ein Land ist, in dem alte Vorurteile überleben konnten, schildert sie in der Geschichte „Lehrjahre der Eltern“. Eine Geschichte, die regelrecht zu Herzen geht, weil sie davon erzählt, wie Kinder ihren in alten Vorstellungen festklemmenden Vater nach und nach dazu bringen einzugestehen, dass all seine schönen Sprüche über „andere Menschen“ nichts waren als Vorurteile. Die Denkfaulheiten eines alt gewordenen Professors, der für sich selbst nie hinterfragt hat, weshalb er eigentlich über Menschen mit anderen sexuellen Neigungen und anderen Hautfarben so verklemmt und verbiestert dachte.

Aber wie erzieht man so einen alte, aber doch irgendwie geliebten Stoffel? Man serviert ihm die Vielfalt der eigenen Lebensvorstellungen eine nach der anderen, Stück für Stück. Und am Ende sind es die Kinder der Kinder, die den alten Mann aufweichen und ihn an seinen tiefsten Gefühlen anrühren.

Da kann er nicht mehr anders. Und es liest sich genauso, als wäre auch das eine tatsächlich erlebte Geschichte, die Angelika Arend hier aufnimmt in die eigenen Lebenserzählungen. Genauso wie die Geschichte „Schwester ist Schwerster“, die von einer Familie erzählt, in der eine sture und egoistische Schwester fast alles zerstört, was den Umgang mit ihren Schwestern noch möglich zu machen schien.

Dabei hatten alle drei Schwestern ihren Berufs- und Lebenswunsch verwirklicht. Doch sie gingen alle anders damit um. Die eine fordernd und nur auf sich bezogen, die nächste um Ausgleich bemüht – die dritte aber stets zum Zurückstecken gezwungen, weil jede Begegnung mit der fordernden Schwester zum Konflikt wurde.

Auch das so eine Geschichte, die viele Familien erleben. Und daran verzweifeln, weil einfach kein Weg zu einer einvernehmlichen Lösung kommt. Es gibt sie ja wirklich: Menschen, die nie aus ihrer Suppe von Vorurteilen und Rücksichtslosigkeit herauskommen. Die glauben, immer müssten sich alle anderen nach ihnen richten. Und die dann, wenn das Leben ihr Pläne vereitelt, die Schuld immer wieder bei anderen suchen.

Menschen, denen jede Gelassenheit fehlt. Und jedes Gefühl für ihre Mitmenschen.

Oxymoron

So, wie es wohl auch dem Direktor der Schule geht in der Geschichte „Schwarze und weiße Schafe“. Klar: Der Titel sagt es schon. Auch hier geht es um Vorurteile. Eigentlich um zwei Jungen auf dem Schulhof, die sich nach einer Rüpelei gegenseitig beleidigen. Wobei es wohl die schönste Beleidigung ist, wenn man von einem Knirps gesagt bekommt, man sei ein Oxymoron.

Was im Englischen schon ein bisschen anders klingt, wenn man allein das Wort Moron versteht. Aber das Problem in der Geschichte ist eigentlich der Direktor, der seinen fein unterdrückten Rassismus einfach hinter einer Anweisung versteckt, ohne sich wirklich für den Streit der Jungen und das, was vorgefallen ist, zu interessieren. Das kommt einem auch wieder recht bekannt vor.

Oder ist das einfach heutig und modern – Folge eine ganz und gar nicht guten Veränderung der westlichen Gesellschaften, in der der eingehegte Rassismus und all seine verwandten Diskriminierungen wieder zum politischen Tagesgeschäft geworden sind? Also das Klima wieder bestimmen – vergiften wäre ja völlig untertrieben. Als wären alle unsere schlechten Eigenschaften wieder losgelassen, weil Enthemmung und Radikalisierung zum politischen Normal geworden sind?

Die Frage stellt ja Angelika Arend – vielleicht sogar unbeabsichtigt – mit all den in diesem Band versammelten Erzählungen, die allesamt dicht an der Wirklichkeit entlang erzählt sind. So auch in „Mühen der Mütter“, einer Geschichte, in der eine liebevoll sich bemühende Großmutter erzählt, wie sie an der Verbissenheit und Gefühllosigkeit ihrer Schwiegertochter scheitert.

Es liest sich, als wäre die Konstellation aus der Geschichte „Gebranntes Kind“ einfach auf den Kopf gestellt, in der die Suche einer jungen Frau im Deutschland der 1960er Jahre nach der Liebe fürs Leben geschildert wird, die am Ende an dem autoritären „Nein“ der möglichen Schwiegereltern scheitert, weil die junge Dame nicht standesgemäß ist.

Und das in einer Welt, in der sich die jungen Männer längst in allen Spielarten austoben. Die schöne „freie Liebe“ galt ja eigentlich nur für Männer. Junge Frauen hatten sich bitteschön keusch und sittsam bis zur Ehe zu erhalten. Nur um dann, wenn sie ins Milieu der Schwiegereltern nicht passten, höflichst abserviert zu werden.

Wobei die Geschichte auch die Schattenseiten dessen anrührt, was Mann so als „freie Liebe“ verstand (und oft bis heute auch so versteht) – und das war letztlich vor allem die Bereitwilligkeit und Willigkeit der Frau als Sexualobjekt.

Brüchige Freiheit

Man merkt schon, wie die Autorin mit ihrer achtzigjährigen Lebenserfahrung in diesen scheinbar ganz einfachen Geschichten über Liebe, Familie, Anerkennung das ganze zwielichtige 20. Jahrhundert hinterfragt, letztlich die Brüchigkeit unserer diversen gern gepriesene Freiheiten, unter denen immer auch die alten Vorurteile und Diskriminierungen noch älterer Jahrhunderte glommen.

All die Selbstgerechtigkeiten, die heute wieder auftrumpfen, befördert von rücksichtslosen Männern, die vor allem eins begriffen haben: Dass diese Diskriminierungen Macht verschaffen. Macht über Schwächere und Verfügungsgewalt über Schwächere, mit denen man dann machen kann, was man will.

Es stimmt schon: In einigen dieser Geschichten steckt eine Prise Wut. Berechtigte Wut einer erfahrenen Frau, die weiß, wie schwer es manchmal ist, Liebe zu finden und Anerkennung zu bekommen. Und die aber auch gelernt hat, wie schnell gedankenlose Menschen in (scheinbaren) Machtpositionen dazu neigen, alle alten Vorurteile wieder zu entzünden und ihre Macht gegen Schwächere gedankenlos auszuleben.

Und da denkt man beim Anblick des Covers mit dem gewaltigen Baum, dass es in einem Buch mit so einem Titel eigentlich eher um Altersweisheit oder Kamellen von früher gehen müsste. Aber nicht um Geschichten, die die Autorin auch in ihrem hohen Alter noch aufregen und umtreiben. Ihr wahrscheinlich auch viele schlaflose Nächte bereitet haben, auch als sorgende Oma, die nicht begreift, warum sie für ihre Hilfsbereitschaft auf einmal Missmut und Frustration erlebt.

Nach dem Happyend

Aber auch das kennen ja viele Großeltern. Die Zeiten, dass die Eltern für die Kinder die „richtigen Ehepartner“ auswählten, sind ja lange vorbei. Die Kinder sind frei in ihren Entscheidungen. Und wer die Liebe kennt, weiß, dass sie oft auch zu unheimlich schwierigen Konstellationen führt – die manche dann mit aller Kraft verteidigen. Andere zerbrechen daran. Es ist eben auch das wirkliche Leben, das sich immer wieder einmischt und das die eigentlichen Dramen oft erst nach dem Happyend beginnen lässt.

Aber Angelika Arend versucht sich eines Urteils zu enthalten, baut etwas auf, was nicht bei allen Autor/-innen eine Tugend ist: den Versuch eines Verständnisses auch für die Menschen, die ihrer Umgebung nicht guttun. Manchmal hat man einfach den Schlüssel zu diesem Verhalten nicht in der Hand. Und manchmal muss man sich dann auch als liebende Großeltern zu schützen lernen, weil man es nicht ändern kann.

Ein Stück Ohnmacht, das wir wohl alle irgendwann in unseren Beziehungen erfahren. Auch das gehört zum Lernstoff des Lebens. So gesehen ist das ein Buch, das vielen Leserinnen und Lesern aus dem Herzen sprechen dürfte. Und da und dort das Gefühl vermitteln könnte, dass sie mit ihren verwirrenden Lebenserfahrungen nicht allein sind.

Auch wenn einem Fernsehen und Politik jeden Tag etwas anderes erzählen. Aber auch das gehört zur Irritation im Leben: Dass einem die „professionellen“ Märchenerzähler meistens mit Vorstellungen begegnen, die mit dem wirklichen Leben hienieden nicht viel zu tun haben.

Und Angelika Arend hat eben ihren Ruhestand nicht nur genutzt, um ein paar jüngeren Kollegen den Kopf zu waschen. Sie ist auch extra wieder nach Deutschland gekommen, um wieder Kontakt zur heutigen deutschen Sprache zu finden, die sich – und das schreibt eine gestandene Germanistin – seit ihrer Emigration nach Kanada sehr verändert hat.

Und das hat damit zu tun, dass sie selbst schreiben wollte – Erzählungen wie in „Der Himmel aber ist immer blau“ und Gedichte wie in „Sotto voce“. Und dieser Band nun zeigt, dass es immer noch etwas zu erzählen gibt, aus dem man lernen kann. Und das passiert uns allen. Ein Leben lang. Und oft genug merken wir gar nicht, in was für Lebensabenteuern wir alle stecken.

Angelika Arend „Eine Frau von achtzig Jahren“ Mitteldeutscher Verlag, Halle 2025, 16 Euro.

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