In klassischen Märchen gibt es die Fee, die den Glücklichen drei Wünsche frei gibt. Und die Beschenkten bringen es in der Regel fertig, so viel Blödsinn zu wünschen, dass der dritte Wunsch meistens nur noch dazu dient, den Bockmist der ersten beiden Wünsche wieder rückgängig zu machen. Und dabei klingen die ersten Wünsche meistens ganz logisch, manchmal auch einfach unersättlich, aber menschlich. Aber wie wir alle wissen, lernen wir aus Märchen gar nichts. Aber wie wäre es, wenn man das Märchen einmal anders erzählt?

Mit einer Fee, die den Auserwählten nur einen einzigen Wunsch erfüllt. Wobei offen ist, warum sie nur einen Wunsch erfüllen kann. Oder ob das nicht pädagogische Absicht ist: „Sie selbst behauptet, sie wolle nur einen Wunsch erfüllen, um die Menschen zu lehren, dass sie auf ihre Wünsche acht geben.“ So begründet Jens-Fietje Dwars das Muster seiner Ein-Wunsch-Fee-Geschichten, von denen er in diesem Band 18 Stück gesammelt hat – plus sechs weitere Märchen, die mit Grimmschen und chinesischen Märchenkonstellationen spielen. Es ist ein Geburtstagsgeschenk, das sich der Autor und Verleger selbst zum 65. Geburtstag gegönnt hat. Eigentlich ein idealer Zeitpunkt. Da hat man ja über die eigenen Wünsche schon ein bisschen was gelernt.

Und damit auch über sich selbst und die Fallen, die uns unsere Wünsche stellen, wenn wir nicht gelernt haben, uns selbst zu bezähmen. Wir sind unersättliche Wesen. Davon erzählt ja schon die Geschichte vom König Midas, die man in verwandelter Form auch unter den Ein-Wunsch-Fee-Märchen wiederfindet. Eine Geschichte über Gier und Dummheit, wie es selbst der Wikipedia-Beitrag bezeichnet.

Man braucht eigentlich nicht mal den dummen König Midas, um zu ahnen: Hier geht es um unsere heutige Gesellschaft. Um Entgrenzungen, Größenwahn und Selbstüberschätzung. Die „Tugenden“ einer Gesellschaft, in der Leute ihre rücksichtslosen Geschäftsmodelle lancieren, die nicht mal über ihre Nasenspitze hinausdenken können und von den Folgen ihres Tuns keinen blassen Schimmer haben. Und die oft genauso handeln wie der „faule Musterschüler“, der siegesgeile Zehnkämpfer, der ruhmestrunkene Baumeister, das eingebildete Erfindergenie oder der Narr, der sich gleich mal Unsterblichkeit wünscht, die in diesen 18 Feen-Märchen auf die Probe gestellt werden. Denn das Angebot eines freien Wunsches ist immer eine Probe.

Das richtige Maß

In den klassischen Märchen sind es ja nicht nur Feen, die Wünsche frei geben, sondern oft auch diverse Märchenkönige. Denn was der Beschenkte sich wünscht, erzählt fast alles über seinen Charakter. Kann er mit den angebotenen Gütern pfleglich umgehen und sich weise beschränken, oder hat er nur Ruhm, Macht und Habgier im Kopf. Das ist ein Aspekt, über den kaum noch einer redet, obwohl er in den meisten europäischen Märchen anklingt: Wie findet der Mensch sein richtiges Maß und damit sein Glück. Und viele dieser Märchen sind wie Warnschilder: Geh hier nicht weiter! Besinne dich!

Was eben auch heißt: Besinne dich auf das, was dich wirklich glücklich macht. Auch wenn du als erfolgreicher Arzt an Krankheiten verzweifelst, die du nicht heilen kannst, oder als Schriftstellerin alle Bücher und Geschichten kennen willst und beim Schreiben das Gefühl hast, dass du sie gar nicht alle aufschreiben kannst. Man merkt: Auch der Autor steckt ein Stück weit in seinen Figuren. Wie sollte es auch anders sein: Im Kopf spuken so allerlei Wünsche, von denen man weiß, dass sie immer Wünsche bleiben werden. Und auch bleiben sollten. Denn das Glück steckt oft genug im Unerfüllten, im Anpacken selbst, in unserer Arbeit am Unvollkommenen.

Perfektion macht unglücklich. Und führt – wie in der Geschichte vom Cleverle – in die Leere. Denn wenn wir uns alle Wünsche einfach so erfüllen können, wo bleibt da noch die Lust am Leben, die Freude an Herausforderungen, das Glück, wenn man sich richtig anstrengen musste für ein gutes Werk und es gelang?
Solche Fragen stecken in den Ein-Wunsch-Fee-Geschichten. Und im Grunde beweist jeder Beschenkte darin, dass er die Konsequenz des einen Wunsches nicht verstanden hat. Jenes Wunsches, der uns heute oft genug als Mantra einer disruptiven Wirtschaft verkauft wird. Da werden die Augen groß, die Ohren spitzen sich, der Speichel läuft. Die Reflexe funktionieren. Obwohl ein kleines bisschen Besinnung uns sagen würden, dass diese Wünsche letztlich tödlich sind.

Ist leider so: Erst Schaden macht klug (Aber nicht immer!)

So gesehen ist natürlich die Experimentalanordnung der Fee ein bisschen falsch. Denn ihre Probanden kommen bei der Wunscherfüllung entweder ganz peinlich ums Leben oder werden todunglücklich. Und da sie auch keinen Wunsch mehr frei haben, das Gewünschte rückgängig zu machen, kommen sie aus ihrem selbstverschuldeten Dilemma auch nicht mehr heraus. Sie lernen also nichts daraus. Und wie wir wissen, lernen auch andere Leute nichts daraus, sondern sagen bestenfalls später: Hab ich doch gleich gewusst. Das musste ja schiefgehen.

Aber eben erst hinterher, wenn der Unersättliche seinen Sturzflug hingelegt hat. Oder einen riesigen Schaden verursacht hat, für den dann niemand verantwortlich sein will. Natürlich geht es nicht anders: Diese Märchen erzählen von unserer Gegenwart, von unserer Besessenheit, immer mehr zu wollen, rücksichtslos drauflos zu handeln, ohne die Folgen unseres Tuns zu bedenken. Wir leben im Jetzt. Und da unsere Wünsche so riesig sind, kommt uns das, was wir haben, mickrig und schäbig vor. Als hätten wir die Märchen unserer Kindheit vergessen, die davon erzählen, dass das Glück vor unserer Nase hängt und in unseren Händen liegt. Es ist oft unscheinbar, ein bisschen aschenputtelig, nichts für Hochglanzmagazine.

Doch die Hochglanz-Welt blendet uns, macht uns närrisch und blind für die Dinge, die die Welt uns tatsächlich schenkt. Nur die falschen, lügenhaften Märchen malen uns die Welt in rosaroten Farben, erklärt uns der Autor im Nachwort, das er gleich tapfer mit „Alles ist möglich“ überschrieben hat. „Die wahren Märchen begleiten uns ein Leben lang. Sie zeigen die Welt, wie sie ist: voller Licht und Finsternis, zum Lachen und zum Weinen.” Das Gute wird nur erkennbar, weil es auch das Böse gibt, schreibt er. Und benennt Gier, Neid und Berechnung, jene „Tugenden“ die heute den „Markt“ regieren und die Politik. Und letztlich auch das Handeln der kleinen und nicht ganz so kleinen Leute, die nicht mehr wissen, woran sie sind, weil ihnen Midas- und Krösus-Geschichten vor die Nase gehalten werden, während sie sich für ihr kleines Glück täglich abrackern. Und das kleine Glück nicht mehr sehen, weil die Maßstäbe völlig verzerrt sind und alle sich mit Krösus und seinen Nachahmern vergleichen.

Und dabei nicht sehen, dass die größte Chance, die ihnen die Fee gibt, die ist, den einen Wunsch auszuschlagen. Denn sie sagt es den Beschenkten ja ins Gesicht, dass sie sie bewundert dafür, was sie tun und leisten. Sie stecken längst mittendrin in dem, was man sich als Glück im Leben schaffen kann. Und hadern doch, sind unzufrieden und wollen nicht nur noch mehr, sondern alles.

Einsame Gestalten

Folgerichtig hat man kein Mitleid mit ihnen, wenn der Märchenerzähler sie allesamt schrecklich scheitern lässt. Selbst den schmucken Burschen, der sich nichts anderes zu wünschen weiß als Unsterblichkeit und ewige Jugend. Wobei einem die Logik sagt: Das sind eigentlich zwei Wünsche. Aber man weiß ja: Beides muss scheitern. Und beides ist heute Traum närrischer Milliardäre, die ihr Geld in lauter Maschinen und Techniken zu Jungbleiben stecken. So gierig auf eine Sonderrolle als ewig junger Mensch, das man erst beim zweiten Hingucken merkt, wie einsam diese Typen sind. Und wie leer ihre Welt ist.

Sie sind wie die Welle in „Schwipp & Schwapp“, die immer gieriger und größer wird, nur um am Ende als krachende Sturzflut ans Ufer zu brechen und alles unter sich zu begraben. Auch das spürt man in den Märchen von Dwars: Die leise Angst vor der Rücksichtslosigkeit all dieser Typen, die in unserer Gesellschaft die Entgrenzung und die Gier verkörpern, die ihre eigenen Wünsche absolut setzen und dabei auch über Leichen gehen. Sie sind die Albträume unserer Gegenwart, die bösen Geister, die uns blenden. Uns so betrachtet stimmt nicht ganz, dass man diese Typen und ihre miesen Eigenschaften tatsächlich braucht, damit das Gute erst begreiflich wird. Denn genau dem widersprechen ja diese Feen-Märchen: Sie erzählen von unserer Blindheit für das Gute, das wir erworben haben, das scheinbar nichts mehr wert ist, wenn uns jemand den Millionen-Lottogewinn anbietet.

Wobei das Lotto-Spiel wohl am ehesten beschreibt, wie wir unsere Erwartungen ins Maßlose schreiben und denken, ein fetter Gewinn würde unser Leben dann auf einmal in ein einziges Glück verwandeln. So gesehen sind diese Feen-Märchen eine Erinnerung daran, dass zum Glück auch die Klugheit gehört, all das wertzuschätzen, was uns tatsächlich geschenkt wird. Oft ganz selbstlos, weil Menschen uns lieben. Oft genug auch, weil wir uns dafür anstrengen mussten. Und genau davon erzählen ja selbst die griechischen Sagen: Dass es diese Blindheit ist für das, was uns das Leben schenkt, die uns verführbar macht durch Rattenfänger aller Art.

Ins Bockshorn

Es ist ein Märchenbuch, das wohl nicht nur eine Art kleine Lebensbilanz des Autors ist, sondern auch eine augenzwinkernde Betrachtung der Zeit, in der wir leben und uns von falschen Träumen und Wünschen tagtäglich ins Bockshorn jagen lassen. Ohne zu merken, dass wir das Wichtigste im Leben übersehen, ignorieren oder einfach nicht für das nehmen, was es letztlich ist: Ein mehr oder weniger großer Haufen erfüllter Wünsche, die uns alle sagen, dass wir am Leben sind. Und dass wir anderen nicht unwichtig sind, um es einmal vorsichtig zu formulieren.

„Wenn Ihr einer Fee begegnet und sie euch sagt, dass Ihr nur einen einzigen Wunsch frei habt, dann solltet Ihr Euch gut überlegen, was Ihr Euch wünscht“, schreibt Jens-Fietje Dwars. Und damit fängt das Verhängnis wohl schon an. Denn das Wünschen ist die Prüfung, nicht der erfüllte Wunsch. Und wenn wir nicht wirklich wissen, was wir uns tatsächlich wünschen (und die 18 in diesen Märchen Beschenkten wissen es ganz offensichtlich nicht), wünscht man sich immer das Falsche. Aber dazu sind Märchen ja da, um uns daran zu erinnern. Daran hat sich in den letzten Jahrhunderten nichts geändert. Und das eigentlich Märchenhafte ist am Ende vielleicht, wenn wir der guten Fee ein Küsschen geben und „Dankeschön“ sagen und sie bitten, keinen Wunsch wünschen zu müssen. Man würde sonst – wie das meistens ist – in Umständen landen, in die man nie im Leben hineingeraten wollte.

Wem das passiert ist, der weiß, wovon diese Märchen erzählen.

Jens-Fietje Dwars „Die Ein-Wunsch-Fee und andere Märchen für Kinder von 9 bis 99“, Edition Ornament im quartus-Verlag, Bucha bei Jena 2025, 20 Euro

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