Die Weltliteratur ist voller Geschichten, in denen die Protagonisten Doppelgängern begegnen und dabei meistens ziemlich entsetzliche Dinge erleben. Die berühmteste ist wohl Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“. Das Verwirrende ist in der Regel, dass die Helden der Geschichten dabei ihr eigenes Spiegelbild zu sehen bekommen – und nicht nur erschrocken feststellen, was ihr finsterer Doppelgänger alles anrichtet, sondern auch, wie vertraut ihnen das alles ist. Denn das Abgründige schlummert ja auch in ihnen selbst. In uns allen. Was auch Naomi Klein verstehen lernen musste, als sie sich mit ihrer Doppelgängerin konfrontiert sah.

Die heißt Naomi Wolf und war einmal auch für Naomi Klein ein großes Vorbild in der Zeit, als Wolf noch engagierte feministische Bücher wie „Der Mythos Schönheit“ veröffentlichte. In ihrem Buch „Wie zerstört man eine Demokratie“ von 2007 zeigte sie sich auch als Warnerin vor der Zerstörung der Demokratie. Doch der Bruch kam 2019, als ihrem Buch „Outrages: Sex, Censorship, and the Criminalization of Love“ grundlegende Recherchefehler nachgewiesen wurden. Was auch die Recherchen zu ihren früheren Büchern infrage stellte.

Eine glänzende Karriere zerbrach vor aller Augen. Und dann tauchte sie in der Corona-Zeit auf einmal in diversen Medien aus der rechten Blase auf und kritisierte die Corona-Maßnahmen. Längst ist sie zum Stargast in den Sendungen von Steve Bannon geworden, wo sie Verschwörungstheorien verbreitet, mit einer Überzeugung, als wäre all das, was sie da erzählt, tatsächlich die Wirklichkeit.

Und eigentlich hätte das Naomi Klein nicht weiter tangieren müssen, würde sie – vor allem in den„Social Media“ – nicht immer wieder mit ihrer Namensverwandten verwechselt werden. Was schon einmal das erste Problem zeigte: Wie leicht es sein kann, mit einer anderen Person verwechselt zu werden, die in diesem Fall nicht nur den gleichen Vornamen hat, sondern auch eine engagierte Vorgeschichte im linksliberalen Teil der Gesellschaft.

Und das mit Argumenten, die teilweise aus Naomi Kleins eigenen großen Büchern zu stammen scheinen – aus „No Logo“ oder „Die Schock-Strategie“, beides Bücher, die die destruktive und disruptive Wirklichkeit des modernen Kapitalismus beschreiben.

Der Schock als Zustand

Und auf einmal sitzt „die andere Naomi“ da mit Steve Bannon und redet auch die ganze Zeit über Schock, zeigt sich entsetzt. Nur ist Schock bei ihr keine Beschreibung eines disruptiven Vorgangs, sondern ein Zustand, den sie immer wieder beschwört. „Wolf beschreibt ihren psychischen Zustand regelmäßig mit dem Wort ‚Entsetzen‘ …“ Man taucht mit Naomi Klein Stück für Stück ein in die Funktionsweise rechtspopulistischer und verschwörungstheoretischer Blasen.

Denn sie hat sich alles – während Corona gab es dazu ja in der kanadischen Einöde alle Zeit der Welt – pfundweise in sich reingezogen, sich alle diese Sendungen mit Naomi Wolf angeschaut, war fasziniert und verwirrt. Denn nach und nach merkte sie ja, dass das alles tatsächlich funktioniert.

Denn diese Art medialer Erhitzung hat System, sie ist – Bannon hat es selbst mehrfach so formuliert – darauf angelegt, die Zuschauer in Panik und Alarmbereitschaft zu versetzen, sie regelrecht in die Spiegelwelt zu entführen, in der alles auf dem Kopf steht. Eine Welt, die Naomi Klein direkt an „Alice im Wunderland“ erinnert, an den „Sprung ins Kaninchenloch“.

Ist man erst einmal hineingesprungen, eingetaucht in die Welt der „alternativen Medien“ (wie sie sich ja selbst bezeichnen), dann erscheint alles, was in der wirklichen Welt passiert, als falsch, steckt man auf einmal in einer völlig anderen Logik, einer zutiefst verqueren Logik, in der es – eigentlich genauso wie in der Welt von Alice – keinen Stillstand gibt, keinen Ruhepol.

Denn das Entsetzen ist allgegenwärtig. Man muss ständig rennen, um auf der Stelle zu bleiben. Ist ständig außer sich. Und füttert das eigene Außersichsein, indem man – regelrecht süchtig – immer wieder an die Quelle der Panik zurückkehrt und sich immer neue Bestätigung holt, dass man da draußen in der realen Welt belogen und betrogen wird und alles ganz anders ist.

Das Ergebnis dieser Art „alternativer“ Medienmache: „Der Effekt der Verschwörungskultur ist das Gegenteil von Ruhe, sie zielt darauf ab, Panik zu verbreiten.“

Plattformen für die Spiegelwelt

Und die „Social Media“ sind der ideale Nährboden für diese permanente Panikmache, die die Nutzer ins Rasen bringt, sie mit immer neuen noch schlimmeren Mutmaßungen und Gerüchten konfrontiert und sie damit regelrecht festnagelt mit dem Blick auf die finstere Gefahr im Dunkeln. Weshalb einem diese Menschen so seltsam vorkommen, wenn man ihnen und ihren Erzählungen in der Wirklichkeit begegnet.

Natürlich sind sie verführbar – genau mit diesen Erzählungen. Angst macht verführbar. Damit machen auch in Deutschland längst mehrere Parteien Politik und man sitzt vorm Bildschirm und fasst sich an den Kopf: In welcher Welt leben die eigentlich?

Aber genau das ist beabsichtigt. Denn eines kann die rechtsradikale Blase überhaupt nicht gebrauchen: Menschen, die in sich in Ruhe und überlegt entscheiden. „Während ein Schock zu Identitätsverlust führt, ist Ruhe der Zustand, in dem wir in uns selbst zurückkehren“, schreibt Naomi Klein. Nachdem sie sich auch mit dieser seltsamen Parallele beschäftigt hat: ihrer eigenen Schock-Analyse in „Die Schock-Strategie“ und dem, was Bannon und Co. da nun seit Jahren systematisch in den „alternativen“ Medien anstellen.

Aber sie gesteht ihrer „Doppelgängerin“ auch zu, dass sie selbst die Dinge falsch verstanden hat. Denn das „Leben im Kaninchenloch“ hat natürlich immer eine reale Grundlage. Den für Verschwörungstheorien sind Menschen ja tatsächlich deshalb empfänglich, weil es reale Verschwörungen gibt. Nur eben nicht die, die sich Leute wie Bannon ausgedacht haben und behaupten.

Denn tatsächlich erleben nicht nur die Amerikaner ganz reale Ohnmacht, wenn sie ihr Leben und das goldglänzende Versprechen betrachten, das jeder vom Tellerwäscher zum Millionär werden könnte. Was sich für die Mehrheit nie verwirklicht. Auch in Deutschland erleben es die meisten als ein Versprechen, das nie eingelöst wird – während die Politiker der neoliberalen Fraktion einem ständig einreden, man müsse sich nur mehr anstrengen, Überstunden leisten, Leistung zeigen, dann hätte man auch mehr Geld im Portemonnaie.

Falsche Versprechen

Obwohl alle wissen, dass das nicht stimmt. Dass Leistung sich nicht wirklich lohnt und dass ein Erfolg im Leben direkt vom Status und dem Geld der Eltern abhängt. Der Kapitalismus erfüllt seine Aufstiegsversprechen nicht. Und das hat auch damit zu tun, dass es tatsächlich (meist unsichtbare) Spieler gibt, die deutlich mehr Einfluss auf die Politik, haben als alle Wählermehrheiten.

Natürlich sind das die gewaltigen Konzerne, die ihre finanzielle und ihre Marktmacht nutzen, Gesetzgebungen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Und die Fakenews in die Welt setzen, mit Lobbyisten in die Kabinette einmarschieren und dafür sorgen, dass es ganz bestimmt keine Gesetze gegen ihr oft genug kriminelles Treiben gibt (man denke an Monsanto, an die Abgasmanipulationen der Autokonzerne, an die Lügen der Tabakindustrie, die Lügen der Ölkonzerne usw.)

Aber statt diese Fehlentwicklungen der kapitalistischen Gesellschaft zu benennen oder gar zu beseitigen, haben sich auch die Linksliberalen (nicht nur in den USA) auf das Märchen eingelassen, jeder wäre seines Glückes Schmied. Wenn er sich nur mehr anstrengen würde.

Ein Märchen, das keineswegs nur von rechten Politikern behauptet wird, sondern weit bis in die linke Mitte hinein: „Wolf glaubte fest an das Versprechen der liberalen Meritokratie: Wenn man den Menschen die erforderlichen Mittel in die Hand gebe, könnten sie als Individuen aufsteigen. Die Entwicklung universeller Programme, die allen ein besseres Leben garantieren, ist nicht vorgesehen.“

Und tatsächlich gibt es diese Aufsteiger/-innen. Naomi Wolf war ja selbst eine. Bis ihre miserablen Recherchen aufflogen und sie die Verdammnis des Milieus erlebte, das sie bis dahin bewundert hatte. Der hart erkämpfte Aufstieg endete mit einer totalen Demütigung. Und irgendwie scheint es auch Naomi Klein nicht ganz unverständlich, dass Naomi Wolf dann die Gelegenheit nutzte, in der Steve Bannon-Welt das wiederzufinden, was ihr verloren gegangen war: das Gefühl, dazuzugehören und akzeptiert zu sein. Ein ganz tief verwurzeltes menschliches Bedürfnis.

Falsche Aufmerksamkeiten

Aber der ausufernde Konsum all der Bannon-Sendungen machte Naomi Klein noch etwas deutlich: Dass die Maschinerie der Panikmache einen Zweck verfolgt. Einen mehrfachen Zweck, denn schon früh hat Bannon verkündet: „Ich will alles zum Einsturz bringen und das komplette heutige Establishment zerstören.“ Eine Strategie, die Donald Trump und ein Großteil der Republikaner übernommen hat. Und mit der auch sämtliche rechtspopulistischen Parteien agieren.

Und dahinter steckt überall auch das „große Geld“: „In der Spiegelwelt lenken Verschwörungstheorien die Aufmerksamkeit von den Milliardären ab, die die Netzwerke der Falschinformation finanzieren, aber auch von der Wirtschaftspolitik – Deregulierung, Privatisierung, Austerität – , die in der neoliberalen Ära auf so verheerende Weise für eine ungleiche Verteilung des Reichtums gesorgt hat.“

Das klingt einfach und sachlich und zeigt Naomi Klein wieder als die scharfsichtige Kritikerin der modernen, neoliberalen Welt.

Aber ihr Besuch im Spiegelland hat ihr auch gezeigt, wie gefährdet Identitäten in einer Welt sind, in der die großen Plattformen geradezu dazu anregen, sich eine andere, schönere, von möglichst vielen geliebte Zweit-Identität zuzulegen. Einen digitalen Doppelgänger, der dann ein Eigenleben entfaltet, das man nicht mehr wirklich kontrollieren kann. Eine neue Welt voller Identitäten, von denen man gar nicht weiß, ob dahinter überhaupt noch reale Persönlichkeiten stecken.

Oder was die Ab-Bilder mit ihren Erzeugern tatsächlich zu tun haben. Ein Thema, das Naomi Klein im Kapitel „Entselbstung“ sehr selbstkritisch unter die Lupe nimmt. Denn diese Entselbstung im digitalen Raum hat ihre beängstigenden Spiegelungen wieder in einer zunehmend in Ab-Bilder gespaltenen Wirklichkeit. Es ist kein Buch zum Aufatmen, eher eines, in dem Naomi Klein ihre eigene Betroffenheit mit den Leserinnen und Lesern teilt.

Und am Ende eigentlich auf eine Botschaft hinauswill, die wir auch viel zu oft vergessen, weil auch uns die Geschichten von der permanenten Selbst-Verwirklichung im Kopf stecken: Dass das wirklich Gute und Lebendige erstens hier draußen in der simplen Wirklichkeit entsteht und zweitens nur im Miteinander mit anderen, wirklichen Menschen. Nur hier lassen sich Liebe, Nähe, Verständnis erleben, entstehen starke und tragende Gefühle. Und können wir miteinander Lösungen finden für die wirklichen Fehlentwicklungen in unserer Welt.

Es geht um Solidarität, wie Naomi Klein feststellt: „Es ist an der Zeit, unseren persönlichen Schmerz und unsere Ichbezogenheit ein wenig in den Hintergrund treten zu lassen und uns den vielen unterschiedlichen Formen der Verbundenheit und Verwandtschaft mit all jenen zuzuwenden, die den Kräften der Vernichtung und Ausrottung und deren Vorstellungen von Reinheit und Perfektion entgegentreten wollen.“

Naomi Klein„Doppelgänger“ S. Fischer, Frankfurt 2024, 29 Euro.

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