Leipzig ist keine märchenhafte Stadt. Zum Glück. Wer Märchen erleben will, fährt lieber auf der deutschen Märchenstraße. Aber hat nicht wenigstens Leipzigs Vergangenheit ein bisschen Märchenhaftes? Gab es hier nicht auch die emsig spinnenden Großmütter, die den Enkeln Geschichten von Rittern, Prinzessinnen, Nixen und Drachen erzählten? Oder sollte man neue Märchen erzählen? So wie es Ingrid Annel hier tut, mit Rückgriff auf einige der bekannten Leipziger Sagen?

Eine nicht unbegründete Frage in einer Zeit, in der die Kinder mit Kunst-Geschichten à la Disney aufwachsen, mit Comic-Figuren, die locker jeden Bösewicht platt machen. Aber Märchen erfüllen eine völlig andere Funktion. Denn sie stellen immer die entscheidende Frage, über die Kinder schon früh anfangen sollten nachzudenken: Wie würdest du handeln?

Also auch: Was für ein Mensch möchtest du sein?

Denn vor dieser Wahl stehen alle Heldinnen und Helden in den Märchen. Auch viele in den Sagen. Obgleich Sagen oft nur der Versuch des Volkes sind, Dinge mit einer guten Geschichte zu verbinden, die sowieso zum rätselhaften Repertoire einer Stadt gehören – so wie das Hufeisen an der Nikolaikirche oder der Name der Heiligen Brücke über den Elstermühlgraben. Beide kommen vor in Ingrid Annels neu erzählten Leipzig-Märchen.

Träume von Schätzen

Die sie auch mit einem Verständnis für die kleinen Zuhörer erzählt, die natürlich mit gutem Recht nicht einverstanden sein müssen mit dem Ausgang von Geschichten. Auch das gehört zur Kernfrage der Märchen: Muss man sich ein trauriges Ende gefallen lassen, nur weil es zur Moral eines tiefgläubigen fernen Jahrhunderts passt?

Wurden Märchen und Sagen damals nicht geradezu auf die Moral mit dem Zeigefinger hin erzählt – nach dem Motto: Werde nur ja nicht eigensinnig, Kind! Füge dich in die Regeln der streng gegliederten Gesellschaft ein und strebe nicht nach Dingen, die dir nicht zustehen.

So wie die armen Müllersburschen und Bauernsöhne, die in geisterhaften Nächten ausziehen, um einen geheimnisvollen Schatz zu heben. Den es aber nicht ohne Bedingungen gibt – denn meist wachen Kobolde und andere Geister über die vergrabenen Schätze. Wer sich nicht an die Regeln hält, verliert alles und stirbt trotzdem bettelarm – so wie der Tagelöhner Wenzel in „Der Glanz des Goldes und der Klang des Glöckchens“.

Das Gold verpflichtet ihn, ein Leben lang Geld nur für gute Zwecke auszugeben – aber nicht für sich. Denn Tagelöhner wissen das. Daran hat sich in den letzten Jahrhunderten nichts geändert: Was den Reichen zusteht, steht den armen Wichten noch lange nicht zu – selbst wenn sie einen Schatz finden. Ihnen wird also früh schon beigebracht, dass sie selbstlos zu sein haben, bescheiden und genügsam.

Dann funktioniert diese Gesellschaft, in der die Reichen deshalb froh und munter in ihrem Reichtum leben können, weil die Armen zur Selbstlosigkeit erzogen wurden.

Lass dich nicht erwischen

So kindgerecht sich Annels Märchen lesen – sie haben mit dem Kern einer Gesellschaft zu tun, die bis heute blind ist für die eigene Verlogenheit. Das heißt dann manchmal „Hartz IV“ oder „Bürgergeld macht faul“. Die Sprüche sind noch genau dieselben, wie sie die armen Handwerksgesellen und Müllerburschen damals zu hören bekamen, als Märchen noch zur Kinderstube gehörten.

Denn auch die Großmütter wussten: Wenn der Junge sich anlegt mit den Mächtigen, wird er unglücklich werden. Da kennen sie keine Gnade. Und etliche Märchen in diesem Buch erzählen davon, wie Geld auch als Verlockung und Strafe eingesetzt wurde. Scheinbar von Gespenstern und anderen irrlichternden Mächten. Aber auch so kann man vom Unsagbaren in einer Welt sprechen, in der man den feinen Herren am besten keinen Vorwand gibt, einem zu zeigen, welche Macht ihnen das Geld gibt.

Und deswegen heißt es bis heute (auch wenn’s nicht mehr im Goldrahmen in der guten Stube hängt): „Üb immer Treu und Redlichkeit.“ Und: „Schuster bleib bei deinem Leisten“.

Und lass dich nicht bei falscher Gier erwischen – so wie die vornehme Frau von Hahn in „Der Lohn des Wassermannes“. Es ist eine der Wassermanngeschichten, die es früher in Leipzig zuhauf gab, weil Leipzig nun einmal eine Stadt am Wasser war. Und die Flüsse nahmen regelmäßig ihre Opfer. Wahrscheinlich nicht, weil der Nix sie holte.

Aber wie erklärt man sich, wenn immer wieder arme Leute in den Flüssen verschwinden? Vielleicht gar all die jungen Mädchen, die ungewollt und unbedacht schwanger wurden? Auch das Schicksal Gretchens aus dem „Faust“ hat sich in Leipzig dutzendfach zugetragen.

Verkauf deine Seele nicht

Obwohl Goethe aus Leipzig vor allem die Szenen in Auerbachs Keller mitgenommen hat, die den Keller längst zur Legende gemacht haben. Auch diese Szene mit den übermütigen Studenten ist eine voller Moral: Leg dich nicht mit dem Teufel an. Der haut dich allemal übers Ohr. Und am Ende holt er deine Seele.

Deswegen sind so viele alte Sagen auch voller Teufel, denen die armen Leute ihre Seele versprechen, wenn sie nur aus ihrer Not herauskommen. Was meistens gut geht in diesen Geschichten – so wie in „Die teuflische Eule“. Aber nur, weil der arme Johannes ein cleveres Mädchen gefunden hat, das weiß, wie man dem Teufel ein Schnippchen schlägt. Einzige Zutat: ein schöner Kohlkopf.

Diese Seelenverkäuferei an den Teufel ist natürlich zutiefst christlich und gehört auf den ersten Blick einer vergangenen Zeit an. Aber wenn man es recht bedenkt, dann ist gerade das ja nach wie vor eine Grunderfahrung im Leben: Es gibt genug wohlfeile Angebote, bei denen einem Leute „in vornehmer Kleidung“ den ganzen Glanz der Welt versprechen, aber eigentlich nur den Vertrag unterzeichnet haben wollen, mit dem man ihnen seine Seele verkauft. Und damit seine Freiheit.

Sage niemand, dass moderne Konzerne nicht genau so agieren.

Es geht immer um Geld. Aber nicht um das von Bertram, Johannes oder Leonhard, die des Nachts von unverhofften Reichtümern träumen. Sondern nur um ihr eigenes, das sich mehren soll. Auf Teufel komm raus.

Falsche Träume

Etliche dieser Märchen erzählen also vom falschen Glanz und dem glücklichen Geheiltwerden von all dieser falschen Verlockung. Und davon, dass das Glück nicht in einem Topf voller Goldtaler liegt, sondern manchmal einfach lächelnd am benachbarten Marktstand steht. Oder – wie in „Der Lohn des Wassermanns“ – in selbstloser Hilfe besteht.

Wobei es nicht wirklich klug ist, wie man in „Die Nixe auf dem Markt“ erlebt, jedem Mädchen mit nassen Rocksäumen hinterherzulaufen. Auch wenn es so verlockend ist. Genauso wie das Zaubernkönnen, von dem heute ganze Hollywood-Serien leben. Und die scheppernden Träume einiger hochbejubelter Apostel der modernen Wirtschaftswelt, denen es völlig egal ist, ob ihre schönen neuen Angebote die Welt zerstören oder die Menschen am Ende ärmer und unglücklicher machen.

So ein Zauberbuch gibt es in „Ein magisches Buch und ein schreckliches Donnerwetter“. Das Donnerwetter ist am Ende heilsam. Wenn auch nur für die beteiligten Studenten.

Märchen bleiben ja deshalb jung, weil immer wieder lauter neue Tölpel, Verführer, Leichtgläubige und Nimmersatte zur Welt kommen, die den Leuten falsche Versprechen unterbreiten, goldene Paradiese verheißen und ihnen falsche Träume verlaufen.

Manchmal sehnt man sich ja danach, dass sich dann auch mal wieder eine Type wie Till Eulenspiegel nach Leipzig verirrt und die reichen Säcke mit seinem Schabernack ärgert. Dazu hat Ingrid Annel die tatsächlich existierende Eulenspiegel-Szene aus dem Volksbuch kindgerecht neu erzählt: „Till Eulenspiegel und der falsche Hase“.

Reale Orte

Karten im Umschlag des Buches zeigen, wo die einzelnen Geschichten handeln. Man kann die Orte also mit den Kindern aufsuchen. Zum Beispiel die Thomaskirche, wo man das Grabmal des Ritters Harras besichtigen kann, die Heilige Brücke oder auch den Markt, wo Eulenspiegel seinen Streich durchzog. Auch Auerbachs Keller ist noch da – Faust, Mephisto und die Studenten stehen sogar draußen vorm Eingang.

Und Goethe spaziert über den Naschmarkt, als könnte er kein Wässerchen trüben. Das Hufeisen hängt wohl vergittert an der Nikolaikirche und auch den Marienbrunnen gibt es, wo einst die wundertätige Quelle Jakob und Grete half, dem Johannishospital zu entkommen.

Man erkennt einige der prägenden Leipziger Sagen wieder, mit denen sich einst die erzählenden Großmütter die Dinge erklärten, die in ihrer Stadt immer schon seltsam erschienen. Man spürt aber auch den Wunsch der Erzählerin, die Geschichten so zu erzählen, dass sich auch die Kinder von heute hineinfühlen können und identifizieren können mit den jungen Frauen und Männern, die ja auch nichts anderes wollten, als ihr Glück zu finden im Leben.

Und das Glück liegt nun einmal nicht im Geld. Es liegt in einem selbst, in Tugenden, die auch heute noch gelten. Nicht weil man dafür Orden bekommt von Herren „in vornehmen Anzügen“. Sondern deshalb, weil man damit Menschen glücklich macht. Und sich selbst auch. Da stören dann auch maulende Geister in der Burg nicht. Wer sich vom Gold nicht blenden lässt, sieht, wo der Zauber faul ist. Und dass der eigentliche Schatz einen gerade neckt, mit Worten wie: „Du schaust aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“

Es lohnt sich, aufmerksam zu sein und sich nicht von jedem faulen Versprechen zum Narren machen zu lassen.

Ingrid Annel Das Leipziger Märchenbuch Marzellen Verlag, Köln 2023, 14,95 Euro.

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