Richtige Tiger und andere Raubtiere wird man in Charlotte van der Meles neuem Gedichtband eher nicht finden. Außer in eindrucksvollen grafischen Elementen, mit denen der Gedichtband gestaltet wurde. Er enthält die Gedichte der Leipziger Autorin, die in den Jahren 2024 und 2025 entstanden. Gedichte, die sich wie Tagebucheinträge lesen, Notizen zum Lieben und Verlassen, zu diesen ganzen verzwickten Begegnungen und Nichtbegegnungen, die das Verliebtsein so aufregend und zermürbend machen. Und zur Sprache kommen wollen. Davon lebt ja Poesie.

Und so kommt es, dass Charlotte van der Meles neuer Gedichtband auch eine Auseinandersetzung mit Ludwig Wittgenstein ist, der zwar von Poesie keine Ahnung hatte, aber fette Traktate über die Logik der Sprache schrieb. Manchmal erhellend, oft genug einfach verstörend.

Was nun aber auch wieder an unserem Sprechen liegt und daran, wie wir unsere Sprache nutzen. Und zur Wahrheit gehört: Die meisten befleißigen sich ganz und gar keiner klaren, eindeutigen und lebendigen Sprache, sondern flüchten sich in Schablonen, Phrasen, Sprüche.

Von einer „Harmonie zwischen Gedanken und Wirklichkeit in der Grammtik der Sprache“ kann in der Regel keine Rede sein. Auch wenn Wittgenstein diese Harmonie in der Sprache zu finden vermeinte. Nur: Man muss wohl danach suchen. Denn auf der Hand liegt sie nicht.

Dichterinnen wissen das. Und versuchen diesen Moment doch immer wieder einzufangen, nur um dann doch enttäuscht festzustellen: Die Eindeutigkeiten entziehen sich. „es ist nicht so einfach / in den zwischenräumen / der begrifflichkeit / eine bedeutung zu gewinnen / also definiere ich / an mir herum“, schreibt van der Mele in „rationale liebeserkenntnis“.

Sie ist nun einmal eine Dichterin des 21. Jahrhunderts. Die ganze geballte Naivität der Liebeslyrik des 19. Jahrhunderts ist heute so nicht mehr möglich. Jedenfalls nicht, wenn man überhaupt noch etwas Relevantes über das Lieben, Geliebtwerden und Geliebtwerdenwollen schreiben will. Denn was gibt uns überhaupt erst Sinn und Kontur? Doch wohl erst der Blick der anderen.

Derer, die uns in unverhofften Momenten zeigen, dass sie uns tatsächlich sehen. Und nicht nur die Rolle, die Maske, den Schatten. Denn wer sind wir eigentlich noch, wenn uns niemand sieht und zeigt, dass wir wahrgenommen werden? „die melacholie des fado / macht mir das herz so frei / selten fiel es leichter mir / nicht fremd zu sein“ („allein in einem grauen abend“).

an der abbruchkante des dunkels

Wittgenstein, so merkt man bald, ist nur ein Hilfsgeländer, an dem sich die Dichterin von Kapitel zu Kapitel hangelt. Auch mit seiner Ratlosigkeit, wenn es um die Handhabbarkeit und Deutbarkeit von Sprache geht. Die nun einmal nie eindeutig war, auch wenn sie so gern klassifiziert wurde.

Sprache trägt die Poesie in sich, das Uneindeutige. Denn sie spricht – wenn wir sie tatsächlich ernsthaft nutzen – von uns und unseren Uneindeutigkeiten. Oder halt denen der Liebe, der Nähe und des Verlorenseins, wenn aus der innigen Umarmung auf einmal eine unüberbrückbare Entfernung wird: „welche wege du aber auch gehst / ich warte auf dich / an der abbruchkante des dunkels“ („außen“).

Van der Meles Gedichte lesen sich wie hingetuscht, zarte Pastelle aus der Dämmerung. Allesamt Versuche, die Ferne einzufangen, die sich ganz offensichtlich nicht einfangen lassen will. Stattdessen ihre Souveränität behauptet und sich nicht festpinnen lassen mag.

Da bleibt man – natürlich – auf sich selbst geworfen. Unterhält sich mit dem genauso ratlosen Mond („der mond mal wieder“) oder empfindet das Alleinsein um so heftiger: „als wäre ich zuhaus / als wäre alles nicht so schlimm / …“ („das nachts sind alle du“).

Da darf man sich wiedererkennen in der Suche nach dem großen Gesehenwerden. Dem Gemeintsein, ohne dass Liebe nicht spürbar wird. Und dann fahren sie einfach weg, die so Bewunderten. Und man sitzt da.

Vielleicht in Madrid, vielleicht in einem Café in Paris. Wo sich die Dichterin von der Gestalt einer schnippischen Kellnerin bezaubern lässt. „ich bin von ihrer schnippischkeit gefangen / sie würdigt mich nicht eines blicks / …“ („ein inparisverliebtgedicht“)

So sind wir hin- und hergeworfen. Verlieren die eine, sehen das Blitzen in den Augen der anderen. Liebe lebt von der kleinen Hoffnung, es könnte jederzeit zu einer Begegnung der vierten oder fünften Art kommen. Dem Unerwarteten. Das einen dann verschlingt.

Aber dann sitzt man da, weil die eine alle Verbindungen abgebrochen hat und nicht mehr antwortet: „in dein abgelegtes smartphone / schreib ich tagebuch / eine einbahnstraße ist / die letzte verbindung / zu dir …“ („falsche leise hoffnung“).

der tiger des siebenkreises

Es scheinen zwar ziemlich verwirrende Jahre gewesen zu sein, die Charlotte van der Mele da mit sich und der Liebe erlebt hat. Dabei spürt man oft schon lange vorher, dass die eine schon längst am Aufbrechern ist. Es gibt sie ja: alle diese Flüchtenden, Nicht-Einzufangenden.

Die wir auch selbst sein könnten in unserem unbändigen Drang, uns nicht festbinden zu lassen. So enttäuschen wir einander. „mach dir keine sorgen / wenn du gehst / denn ich / ich war schon längst / allein“. („ganz dir“).

Natürlich weiß man nicht, ob stets von derselben Flüchtigen die Rede ist. Ob man hier die Chronik eines Findens und Wiederverlierens vor sich hat. Die ganze Poesie einer Leidenschaft, die hofft, aufblüht und mitten im Wirbel merkt: Es trägt nicht.

Es bleibt ein Moment, bei dem schon von Anfang an klar war: Er wird nicht dauern. Da taucht übrigens – geradezu randständig – der Tiger auf, der „tiger des siebenkreises“, der die Sprechende warnt, sie solle schnell weit weg gehen („für unica“).

Trotzdem gelingt es Charlotte van der Mele, das Traumhafte ihrer Begegnungen mit der Geliebten, den Cafés, der Traurigkeit einzufangen. Eben weil sie nicht auf die Standardschablonen der romantischen Dichtung zurückgreift, sondern sich selbst zu fassen versucht in all diesen Momenten des Erlebens und Nicht-Erlebens.

Wer kennt sie nicht, diese Momente eine „großen traurigkeit“ („im mittelpunkt“), die einen wie aus dem Nichts übefallen kann, weil wir spüren, dass wir da sind. Und es doch nicht genügt. Dass etwas fehlt.

Die Leichtigkeit zum Beispiel, die sich auftut, wenn wir der Geliebten dann doch wieder begegnen und einen Moment lang alles wieder möglich scheint. „sollen wir noch einmal / von vorn beginnen / fragst du und ich finde / das ist eine gute idee“ („komogenesikerinnen“).

im noch nicht so schlimmen herbst

Mehr ist es eigentlich nicht. Jeder Beginn ist fragil. Und lebt davon, dass zwei sich wahrnehmen. Und annehmen. Möglich, dass das dann doch noch ein leuchtender Herbst wird. Und zum Jahresende das Gefühl, dass nun doch wieder – für ein Weilchen – alles in Ordnung ist: „in einer schachtel liege ich / jetzt unkaputt/ neben zu vielen / offenen wünschen …“ („merry christmas and a happy …“.

Irgendetwas fehlt immer zum perfekten Moment. Und die Wahrheit ist: Es ist gut so. Genauso, dass wir das, was in uns rumort und stürmt, mit Sprache nie endgültig fassen können. Nur für den Moment streifen. Fast. Beinah. Denn schon ein paar Wochen später können wir wieder dasitzen mit leeren Händen.

Zutiefst enttäuscht. Oder einfach nur in Melancholie gestürzt, weil die schöne Hoffnung aus dem November schon wieder zerplatzt ist: „ein leben wollten wir leben / und grau ist der winter / wie mein lavendel im garten / und ich / hoffe nicht mehr / auf einen frühling“ („nackt in erinnerungen“)

So schnell können unsere großen Träume platzen. Am Ende bleibt ein „ohne dich“. Merkt man mit allen Fasern, wie sehr man sich da an eine unerwartete Begegnung geklammert hat, gehofft, geträumt. Wahrscheinlich zu sehr.

Oder doch nicht? Man weiß es nicht recht. Das neue Jahr kommt mit neuen sonnigen Tönen, Sonnenkind und „subversivem Champagner“. Alles ist wieder möglich, so scheint es. Und selbst der Herbst lässt sich an voller Leben, mit einem Eichhörnchen, das die Dichterin beim Nüssesammeln beobachtet. „und ich denke / wie leicht / dass aus der erde / ein garten würde“. („überlegungen im noch nicht so schlimmen herbst“).

Manchmal ist man ja einfach froh, dass einem der Himmel nicht auf den Kopf fällt und eine Begegnung am Bahnsteig ein Beinah ergibt, einen Moment des Sehens und Gesehenwerdens.

„dein irritierter blick / ob meiner blicke / jetzt sitze ich in einem zug / der voll von träumen ist“. („und plötzlich du“) Aber es ist nur ein Moment. Am Ende bleibt die simple Erkenntnis, dass man sich doch so gern in der anderen verloren hätte. Aber es sollte nicht sein. „und du / hast mich aus dir verloren / allein nun eine welt“. („wenn“)

Der nächste Herbst wird also zur Zeit des Bilanzierens, des Ordnens und Akzeptierens. „meine vergänglichkeit trage ich / mit mir herum / wie mein zerbrochensein / aber / ich war schon einmal / wirklich glücklich“. („zusammenfassung“.)

Das ist die leise Begleitmusik, die in diesen Gedichten mitklingt: Dass wir Glück und Liebe überhaupt erst begreifen können, wenn wir spüren, dass alles vergänglich ist. Und wir das Schöne oft erst erfassen, wenn es sich in Erinnerung bringt. Poesie lebt von dieser Erinnerung. Nichts zeigt deutlicher, wie flüchtig alles ist „auf allen wegen nicht zu dir“ („zusammen ein wir“).

charlotte van der mele ein vollgültiger tiger anderort Verlag für Lyrik, Leipzig 2025, 16 Euro.

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