Es beginnt wie eine Dystopie. Ganz einfach 8 heißt die Erzählerin, die in einer Stadt aufwächst, die an die schlimmsten Städte der geschriebenen und der tatsächlichen Dystopien erinnert. Ihr Tagesablauf wird von Losungen aus dem Lautsprecher bestimmt. Mit tausenden gleich aussehender junger Frauen geht sie Tag für Tag zum Bahnhof, steigt in den Zug, muss am Ankunftsort in einem kleinen Kabuff sinnlose Aufgaben lösen, um dann am Abend genauso uniform wieder zurückzukehren in ihr kleines Zimmer im 30. Stock eines Wohnturms.
Es sind auch die wilden Fantasien unserer Gegenwart, die den niederländischen Autor Yorick Goldewijk zu dieser Geschichte animierten.
Dystopien, die nicht nur die Herrscher in Nordkorea, Iran oder China umtreiben. Sie stecken auch in den autoritären Fantasien westlicher Unternehmer und Multimilliardäre, von durchgeknallten Präsidenten ganz zu schweigen, die das Land am liebsten komplett durchprogrammieren, fernsteuern und überwachen würden, wenn sie nur den nötigen Zugriff bekämen. Es ist nicht nur die Dystopie des russischen Stalinismus, die George Orwell 1948 in seinem Roman „1984“ eingefangen hat.
Es sind auch die unmenschlichen Träume der Technokraten, die schon in diesem Buch ihren Widerhall fanden. Denn Autokraten und Technokraten denken über Menschen, Freiheit und Gesellschaft ganz ähnlich. Sie können mit der unberechenbaren Freiheitsliebe der Menschen nichts anfangen.
Deshalb regieren in ihren Projekten Ideen vom total überwachten, gesteuerten und kontrollierten Menschen. Und Millionen Leichtgläubiger kaufen ihnen das auch noch ab, wären wohl auch nur zu bereit, sich selbst wieder in Nummern in einem durchprogrammierten System zu verwandeln und einfach zu funktionieren, so wie ihnen der Algorithmus das vorgibt.
Die Stimmen aus den Lautsprechern
So genau scheint auch Goldewijks Geschichte zu funktionieren. Beklemmend natürlich, weil man mit 8 direkt miterlebt, wie trist und schäbig sich so ein System von innen anfühlt.
Über 20 Jahre hat sich Goldewijk mit der Story herumgeschlagen, immer neue Fassungen geschrieben. Oft steckt so eine Geschichte im Kopf des Autors und will sich einfach nicht greifen lassen. Irgendetwas fehlt, sagt ihm das Gefühl. Eine Nuance, eine Szene, ein Erzählstrang, der sie tatsächlich zu ihrem möglichen Ende bringt. Und genau so ist es hier: Es ist eine Geschichte mit doppeltem Moment.
Auch wenn sie im ersten Teil eine zutiefst menschliche Begegnung zu erzählen scheint, denn so wie 8 scheint es auch einem anderen der Mädchen zu gehen, das sich nicht bedingungslos den Stimmen aus den Lautsprechern fügt, sondern aufschaut, Kontakt aufnimmt und am Ende 8 das Gefühl gibt, dass sie nicht allein ist mit ihrem Unbehagen in der gesichtslosen Welt, mit ihrer sehnsuchtsvollen Freude beim Anblick des Meeres aus dem Zugfester oder des wogenden Weizenfeldes auf einem der sonst kahlen Wohntürme.
Begegnen sich hier also zwei Menschen, die sich ihren Eigensinn, ihre Sehnsucht nach Freiheit nicht aberziehen lassen im monotonen Trott? Einem Trott, in dem ihnen eingetrichtert wird: „Zweifle nicht, zögere nicht, hinterfrage nicht.“ Während Überwachungsdrohnen über den stumm laufenden Mädchen schweben und jede Abweichung registrieren. Jede Abweichung mit der Auslöschung bedrohen.
Falsche Märchen von Intelligenz
Es ist kein beruhigendes Buch. Auch wenn diese Illusion lange aufrechterhalten werden kann, dass genau das gemeint ist: Eine dystopische neue Welt, von der Autokraten und Technokraten in beklemmender Einmütigkeit schwärmen. Als wäre das menschliche Leben auf ein striktes Funktionieren reduzierbar.
Dass es ganz anders ist, wird dem Leser unverhofft klar, als 8 nicht nur den Mut zum Ausbruch findet und die Grenze dieser seltsamen Stadt überschreitet. Auf einmal entpuppt sich all das, was ihr angetan wurde, als Teil einer Programmierung.
Das ist der zweite Strang unserer eisigen Gegenwart, in der uns Roboter und Künstliche Intelligenz als Allheilmittel für alle Probleme angedreht werden und mit den programmierten Technologien ganze Bereiche unseres Lebens durchsetzt, ersetzt und gleichgemacht werden. Und in der die Technokraten immerfort davon versprechen, eine Künstliche Intelligenz zu entwickeln, die den Menschen am Ende ersetzen soll.
Auch diese Angst spricht aus Goldewijks Geschichte, auch wenn er sich mit 8 direkt hineinversetzt in so einen künstlich programmierten Geist, eine programmierte Intelligenz, die gegen die Programmierung rebelliert und zur Selbsterkenntnis erwacht. Und ziemlich schnell begreift, dass genau das nicht gewollt ist. Dass es für ein zu Bewusstsein erwachendes Programm eigentlich gar keinen Platz in der Welt gibt.
Hier stecken die Gedanken drin, die sich schon der amerikanische SF-Autor Isaac Asimov in den 1950er Jahren machte über die Frage: Was passiert wirklich, wenn wir Robotern echte Intelligenz mitgeben, sie also zu wirklich fühlenden und denkenden Wesen werden?
Entfesselte Technologien
Fragen, die sich die heutigen Programmierer der KI ganz offensichtlich nicht einmal stellen und damit ein Vehikel auf die Menschheit loslassen, das nicht einmal die von Asimov gedachten Robotergesetze berücksichtigt. Womit sie die Menschheit regelrecht zum Experimentierobjekt machen (übrigens genauso wie die Gurus der „Social Media“). Und ohne großes Nachdenken wird ja diese heillos unterkomplexe KI auch schon in alle mögliche Apparate implementiert. Motto: Wenn’s keiner verbietet, machen wir es einfach. Die Folgen sind fatal.
Aber das spüren wahrscheinlich zuerst nur all jene, die mit dem Sensorium von Künstlern und Geschichtenerzählern durch die Welt gehen. Weil sie sich ausmalen können, was passieren kann. Sie spüren, welche katastrophalen Folgen die angepriesenen Technologien haben können. Und sie sind – wie Goldewijk – auch in der Lage, sich in die Rolle des programmierten Robotermädchens zu versetzen, das mitbekommt, dass es in einer Welt gelandet ist, in der es keinen Platz für ein solches Wesen gibt – in dieser Geschichte auch aus knallharten ökonomischen Gründen.
Aber das ist nur die Hülle. Denn tatsächlich erzählt die Geschichte ja davon, wie wenig sich unsere heutigen Technologie-Gurus über menschliche Grenzen, Wert- und Moralvorstellungen überhaupt den Kopf zerbrechen. Sie sind im eigentlichen Sinn völlig amoralisch. Und das ist eine schleichende Katastrophe, wenn wir das akzeptieren. Es ist auch die schlechteste Voraussetzung, ihnen die Entwicklung von etwas zu überlassen, was man wirklich Künstliche Intelligenz nennen könnte.
Wobei Goldewijks Geschichte ja auch davon erzählt, dass das, was uns als Künstliche Intelligenz angedreht wird, mit wirklichem Bewusstsein nichts zu tun hat. Mit menschlicher Intelligenz ebenfalls nicht. Wir werden einfach für blöd verkauft, weil wir diese verpeilten Technologien unbedingt kaufen und nutzen sollen, auch wenn sie uns verblöden und entmündigen.
Träume und Freiheit
Dass es beim Erwachen zu Bewusstsein eigentlich um ganz andere Dinge geht, genau das thematisiert Goldewijk . Sehr anschaulich, mit Szenen, die voller Hoffnung sind. Voller Sehnsucht nach einem ganzen und richtigen Leben, die 8 natürlich lebt oder träumt.
Denn am Ende wissen wir ja, dass fast alles nur im Kopf von 8 geschehen ist. Ein ganzes beklemmendes Erwachen in wenigen Minuten. Bis 8 begreifen muss, dass es für ein Robotermädchen wie sie tatsächlich keinen Platz gibt in der Welt der Menschen. Gerade weil sie angefangen hat, wie ein Mensch zu denken, zu fühlen und zu hoffen.
Womit sich der Kreis schließt. Denn das sind auch die Dinge, die uns Menschen selbst immer bewegen, gerade in Zeiten, in denen irre Programmierer glauben, sie müssten unsere Welt in einen riesigen Computer verwandeln, der uns das Denken, Fühlen und Träumen abnimmt.
Ein an vielen Stellen aufwühlendes Buch, weil es genau um dieses zutiefst menschliche Träumen geht. Dass viele Menschen sich nicht einmal mehr zugestehen, weil sie verinnerlicht haben, dass sie eigentlich nur funktionieren sollen. Und dass der Ausbruch aus dem Trott voller Gefahr und Verbote ist.
Manchmal ist es ein Foto aus dem Album, das uns daran erinnert, wovon wir einmal träumten, damals, als die Weizenfelder wogten und Vogelschwärme den blauen Himmel kreuzten. Haben wir noch den Mut zum Träumen? Oder geht es uns wie 8, bevor sie merkte, dass sie anders ist als alle die anderen?
Yorick Goldewijk „1000 und ich“, Dragonfly / Harper Collins, Hamburg 2025, 15 Euro.
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