Thüringen ist ein Sagenland. Zumindest war es mal eins, als sich die Leute des abends am warmen Ofen und bei Kerzenschein noch allerlei Geschichten erzählten über das Land, seine Geschichte und die rätselhaften Dinge, die so in der Landschaft herumstehen: Burgen, Felsbrocken, Seen und Berge mit seltsamen Namen. Wo es noch keine wissenschaftliche Forschung gibt, blüht die Fantasie. Und Sagensammler fanden Berge von Geschichten, als sie vor 200 Jahren ans Sammeln gingen. Rechtzeitig vor dem Ende des Sagenzeitalters.
Denn es endete genau an dem Punkt, an dem die industrielle Revolution auch Thüringen erreichte, Eisenbahnen die Städte aus ihrer Abgeschiedenheit holten und moderne Medien wie Zeitungen eine völlig neue Welt der sagenhaften Geschichten entfalteten. Ohne Riesen, Zwerge, Gnomen, Hexen …
Obwohl …
Sie leben immer noch fort in der Fantasie wilder Berichterstattung. Und in der Glorifizierung oder Verteufelung von Politikern und Politikerinnen.
Was in alten Sagenbüchern steht, ist uns also irgendwie doch noch vertraut. Vor allem, weli es meist um Dinge geht, von denen die kleinen Leute immer noch träumen: das große Glück, einen herrlichen Schatz, eine große Liebe oder einfach das Gefühl, dass irgendjemand des Nachts die ganze schwere Arbeit erledigt, von der der Rücken schmerzt und die Füße wehtun.
Wovon Menschen immer träumten
Ingrid Annel hat sich einmal etwas systematischer durch die thüringische Sagenlandschaft gearbeitet. Über 1.000 verschriftliche Sagen soll es geben. Gesammelt an hunderten Orten. Manche habe die lokalen Besonderheiten aufgenommen und die zumeist sehr fantasiereichen Erklärungen, wie einst Riesen und Zwerge die Landschaft formten.
Andere lesen sich wie Märchen im Keim, erzählen also von den Ur-Wünschen der Menschen, aus einem schweren und harten Schicksal vielleicht einmal erlöst zu werden. Durch spendable Zwerge, gütige Waldweiblein, überlistete Teufel, hilfreiche Hausgeister oder was man sich sonst noch so vorstellt in dunklen und windigen Nächten, wenn man so seine Träume träumt von einem leichteren und schöneren Leben.
Und so hat Ingrid Annel die von ihr ausgewählten Sagen in verschiedene Kisten sortiert – eine mit Sagen von Riesen, eine mit Zwergen, eine mit Moosleuten und Waldweiblein usw. Was den Leser natürlich erst einmal mit der Nase darauf stößt, wie reich der Schatz an mythischen Figuren ist, der in den Sagen aus Thüringen zu finden ist.
Samt Hexenspuk, betrogenem Teufel und einer aus alten germanischen Glaubenswelten stammenden Frau Holle, die mal strafend, mal gütig erscheint. Aber die auch gleichzeitig für die Wucht der Naturgewalten steht, denen die Menschen jahrhundertelang wesentlich schutzloser ausgesetzt waren als wir heute.
Aber fast immer sind die Sagen – anders als Märchen – an konkrete Orte gebunden. So wie das Zauberbuch an Tautenhain, diverse Sagen an die Wartburg oder die Geschichten um Kaiser Rotbart an den Kyffhäuser.
Man kann das Sagenland Thüringen tatsächlich bereisen, trifft auf sagenumwobene Seen, Teufelsmauern, träumende arme Wichte in Hermannsgrün oder ein glückliches Paar in Buttstädt, dem der Teufel zwar ein Kind geschenkt hat – aber nach zwei Jahren will er es holen. Und muss erleben, dass ein kleines fröhliches Kind mit nichts aufzuwiegen ist.
Goldene Schätze
Es steckt also auch ganz irdische Lebensfreude in diesen Sagen, der ewige Wunsch, ein erfülltes Leben mit Kindern zu führen, genug zum Essen zu haben und manchmal einfach ein bisschen Glück. Auch wenn das Volk weiß: Wer immerzu nach Schätzen sucht, wird den tatsächlichen Schatz, wenn er vor seiner Nase ist, nicht erkennen und davongehen wie ein Tropf. Vielleicht noch mit ein paar silbernen Pfennigen im Ranzen, die übrig geblieben sind.
Denn die Schätze zerrinnen uns zwischen den Fingern. Unsere Gier ist zwar groß – aber wir können mit dem unverhofften Reichtum nichts anfangen. Da sieht man richtig die Muhme in ihrem Lehnstuhl, wenn die Kerze flackert und sie mit raunender Stimme den Enkeln erklärt, warum sie sich nicht in der Sehnsucht nach goldenen Schätzen verzehren sollen. Dass die tatsächlichen Schätze meist direkt vor ihrer Nase liegen – oder tanzen, wenn es fleißige junge Mädchen sind.
Ist das nun Moral? Alles vergessen und vorbei?
Irgendwie nicht, auch wenn es schwerfällt, dieses sagenhafte Denken in einer irre gewordenen Gegenwart zu verorten, in der die Jagd nach dem schnellen Geld die Norm aller Normen geworden ist. Und alle Welt ständig zum Kaiser rennt, weil man sich nicht beachtet und honoriert genug fühlt. Als wäre ein gelingendes Leben nicht immer noch die Sache eines jeden selbst.
Nur muss man dazu wohl aufhören, ständig von Goldtalern zu träumen. Oder davon, dass alles besser wird, wenn man die fleißigen Helfer in der Mühle vergrämt und vertreibt. Es steckt eine Menge gelebte Weisheit in diesen Sagen, auch wenn man sie oft nicht auf den ersten Blick erkennt. Und auch nicht gleich sieht, wie sehr sie an unseren Sinn für ehrliche Arbeit und respektvollen Umgfang miteinander appellieren.
Und ob Ilsa mit ihren goldenen Schafen (welche die Grafikerin Katrin Kadelke für dieses Buch gezeichnet hat) tatsächlich glücklich geworden ist? Wer weiß das schon? Man kann es nur wünschen, denn nachdem sie glücklich aus der Welt der Zwerge in die Menschenwelt zurückgekehrt ist, verbannte sie ein erzürnter Riese in die Höhlen unter der Burg Kanis, wo sie bis heute die goldenen Schafe hütet.
Aber der Riese kommt einem doch irgendwie bekannt vor. Als wäre er einem im Leben schon mehrfach begegnet. So weit weg von der Wirklichkeit sind die Sagen gar nicht. Unsere Unholde agieren doch ganz ähnlich. Und nur selten begegnet man sagenhaften Geschöpfen, die auf eine kleine Freundlichkeit tatsächlich mit einem Geschenk reagieren, das einen fürs Leben glücklich macht.
Ingrid Annel, Katrin Kadelke„Ilsa und die goldenen Schafe“ Buchverlag für die Frau, Leipzig 2025, 15,95 Euro.
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