Das Leben ist voller Poesie. Auch wenn es hart ist und einem die Leiden des Körpers manchmal den Tag vergällen. Aber man darf sich davon nicht einschüchtern lassen. So lebt und schreibt ja Jan Kuhlbrodt, der sein Leben gerade in der „Chemnitzer Trilogie“ poetisch verarbeitet hat. Der darin enthaltene Band „Krüppelpassion“ erhielt 2023 den Alfred-Döblin-Preis. Aber Jan Kuhlbrodt lebt auch noch in einer durch und durch kreativen Familie.
Seine Lebensgefährtin Martina Hefter hat 2024 für „Hey, guten Morgen, wie geht es Dir?“ den Deutschen Buchpreis bekommen, ein Buch, in dem sie das Leben mit einem an den Rollstuhl gefesselten Dichter fiktionalisiert. Und zwei begabte Töchter gibt es auch noch: Maria, die in der Leipziger Theaterszene aktiv ist, und Sofia, die Malerei, Zeichnung und Literatur studiert.
Mit den beiden hat sich Jan Kuhlbrodt nun zusammengetan, um einen gemeinsamen Gedichtband zu gestalten, einen Band, in dem die Gedichte mit Zeichnungen in den Dialog treten und sichtbar werden lassen, wie sehr das Schreiben poetischer Texte mit Bildern zu tun hat. Bildern, die uns eigentlich jeden Tag begegnen.
Gedanken auf Abwegen
Doch dass darin Poesie steckt, das merken nur die Menschen, die den Blick des Dichters verinnerlicht haben. Ein Blick, der im ganz Alltäglichen das Staunenswerte wahrnimmt. Auch das Traumhafte. Vielleicht bekommen deshalb in der Regel Dichter die Ehrengräber und die Erinnerungstafeln an die Häuser, in denen sie wohnten: Sie erinnern uns daran, dass das Leben nicht aus Stress, Ehrgeiz, Perfektion und steter Rufbereitschaft besteht, lauter Dinge, die uns überhaupt nicht innerlich berühren.
Aber eine Krähe auf dem Baum kann das schon, oder die Gleise hinter der S-Bahn-Station, die uns ja zeigen: da geht es weiter. „Die hinter Buschwerk verschwinden / Zähes Kraut, Schotter. Das Land / Wird immer wieder bevölkert. / Wurzeln graben sich ein neben Wurzeln …“
Daneben eine Zeichnung mit Telegrafenmasten, die sich in der Ferne verlieren. Und nun auch bildlich zeigen, wie wir immer auch das Ferne mitdenken, die offenen Wege, das Mögliche, das sich ergibt, wenn wir uns vom Ort wegbewegen. Denn genau das läuft in unseren Köpfen ab. Die einen verdrängen es, tun so, als würden sie nie ins Abschweifen geraten. Dichter lassen diese Gedanken zu Gedichten werden: „Gestammel Gesumm Hummeln und Grillen / Die man nicht sieht die aber laut sind …“
Was sich übrigens nicht zuordnen lässt. Welche Texte sind von Jan Kuhlbrodt, welche von seinen Töchtern? Dass sie das poetische Sehen von ihm gelernt haben, ist hingegen unübersehbar. Die Bilder sind konkret, richtig zum Anfassen. Hier wird nicht geschwärmt. Hier geht es um das ganz und gar nicht banale Leben, das sich mitten im Text durchaus auch mit strengen Mutterworten zurückmelden kann. So wie in „Wir wurden mit Rucksack geboren“, ein Gedicht, das eigentlich vom Trampen in exotische Länder erzählt: „Und wusstest du, Mutter, / Dort unten, die Daker / Kannten die Schrift nicht. – Gleich Junge!“
Den Gedanken folgen
Man sieht sie regelrecht vor sich, wie sie geschäftig zwischen Tisch und Herd unterwegs ist, um den Kindern ein ordentliches Essen vorzusetzen. Und der Junge träumt von Reisen ins Ferne.
Und lässt er sich nicht abbringen. Manchmal schaffen es Mütter nicht, ihre Kinder vom Träumen abzubringen. Oder vom Tagträumen, was etwas anderes ist. Denn unser Gehirn will beschäftigt sein. Und die Narren hängen sich dann über ihre Spielkonsolen und verdaddeln den Tag. Und die Dichter folgen den abschweifenden Gedanken.
Gehen ihnen nach, weil sie wissen: So entdeckt man ein Stück Welt. Und ihre Vielfalt, die uns in der Regel durch die Lappen geht im täglichen Eilen. Dabei geht es ja ums Festhalten und Wahrnehmen: „Es beruhigte mich, dass die Brüche in dieser Geschichte / Sich nicht mit dem Zeitstrahl synchonisiert fanden …“ („Zeit“)
So leben wir doch: unsynchronisiert. Manchmal gefühlt völlig daneben, im falschen Tag, am falschen Ort. Vielleicht sogar gleich am Leipziger Auwald, dem in diesem Buch ein ganzer Gedichtzyklus gewidmet ist. Nüchterner als alle Leipziger Holzwirtschaftsberichte.
Denn wer immerzu jubelt, sieht die Wirklichkeit nicht. Die so borstige, lehmige, unprätentiöse, die uns dennoch in ihren Bann zieht, gerade weil sie so uneitel daherkommt: „Wer wollte angesichts dieser krautigen Ufer / Am Fluss von Gestade sprechen? /Zeitfluss und Zeitsaum. Wann etwas begann / Ist immer nur Hypothese.“
Und während die Autorin, der Autor da steht und Zeit fließen sieht durch die Gewässer im Auwald, hecheln „Olympioniken im Kanu“ vorbei. Alles ist gleichzeitig. Und dennoch schieben sich die Zeitebenen übereinander.
Das Vergangene, das mögliche Kommende. Und die Realität einer kleinen Familie, die sich in Leipzig verwurzelt hat: „Wir zogen in diesen Stadtteil vor allem der Kinder wegen / Eisvögel, Gimpel, Spaziergänger, hin und wieder ein Reh.“ Dann kommt auch noch der Bärlauch dazwischen. Aber Poesie entsteht schon dann, wenn man die unpassenden Teile nicht ausblendet, sondern mit einbezieht in das Bild. Erst dadurch wird es dicht, lebendig und so schön verwirrend, wie gute Gedichte nun einmal sind.
Ein anderes Land
Gedichte zeigen uns unsere irritierende Welt, so, wie wir sie tatsächlich empfinden. Nur halten wir die Bilder selten fest. Laufen los, den Kopf schon am Ziel, die Gegenwart als Schatten in den Augenwinkeln. Aber in den Gedichten in diesem Band wird genau das wieder eingefangen: „Man geht hindurch, so bald man das Haus verlässt, / Durch ein anders Land.“ („Das Unwirkliche“)
Hier sind es treibende Pappelsamen, die die Stadt in eine unwirkliche Welt verwandeln. Manchmal sind es auch richtige Schneeflocken… Und parallel dazu: Erinnerungen an verschwundene Kindheiten und ihre verblassten Bilder.
Wir leben immer in verschiedenen Zeitschichten zugleich. Ein Bild genügt, und schon blättert sich die erinnerte Geschichte auf – Kindheit, die Erzählung der Großmutter, der Krieg. Und dabei scheint es anfangs so harmlos: „Eine einsame Eskorte hockte in den Gräsern am Bahndamm / Ein Trupp Fotografen, als erwarte er ein seltenes Tier …“
Das seltene Tier ist eine Dampflok. Aber der Kopf hat schon die Note vorgegeben: Eskorte, Trupp, Vorhut … Die Dampflok erinnert an Zeiten, in denen „Menschenmaterial“ an die Fronten und in die Vernichtungslager gefahren wurde. Unsere Sprache kennt Falltüren. Bilder erzählen Geschichten. Nichts ist harmlos. Und das Erinnern sorgt dafür, dass die Szene sich tief in die Vergangenheit öffnet: „Die Geschichte eine Verrates den jeder am anderen begeht. / Weit in der Ferne krähen die Hähne.“
Sprache und Schuld
Fast logisch, dass der Band mit einem Kapitel mit dem „Titel „…anderen Augen (nach Kleist)“ endet. Denn bei Kleist geht es um Sprache. „Kleists Medium Sprache. Die Handlung / Auch hier nur nach der Sprache durch / Sprache. Denn den Tatsachen misstraut / Man gründlich …“ Kleists Penthesilea wird hier zum Anknüpfungspunkt für Überlegungen, wo menschliche Haltung in die Straftat kippt, wo der Mensch sich schuldig macht, weil er handelt wie ein Mensch.
Von Träumen und Gefühlen getrieben. Und mit Godard geht es dann in „Das Reale“ erst recht um die Frage: Was sehen wir wirklich? Was haben wir gesehen? Und was war und ist Illusion? Können wir das benennen oder bleiben wir ratlos zurück in Bildern, in die wir etwas hineininterpretieren, was nie geschehen ist?
Und manche sind ja sehr beharrlich, das Hineininterpretierte für das wirklich Geschehene zu behaupten. Aber: Das ist das Gegenteil von Poesie. Und so lesen sich die „Godard“-Texte wie eine Auseinandersetzung vor einem unsichtbaren Gericht, wo die fälschlich Angeklagte dem so von sich Überzeugten beweisen muss, dass nie geschehen ist, was er behauptet.
Das kann auch Dichterinnen und Dichter zum Wahnsinn treiben. Denn ihr Stoff ist das, was geschehen ist. In all seiner Widersprüchlichkeit. Aber sie stülpen der Welt nicht ihre Behauptungen über. Lieber nehmen sie ihre Leserinnen und Leser an der Hand und nehmen sie mit in die vielen Wirklichkeiten, in denen wir tatsächlich unterwegs sind.
Manchmal nicht wissend, wie uns geschieht. Manchmal wie verirrt, irritiert von einer Welt, die uns selbst mit flatternder Wäsche im Wind zeigen kann, dass Leben eigentlich all das Seltsame ist, was wir nie ganz verstehen.
Das uns aber träumen, staunen und erschrecken lässt. Einfach darüber, dass es da ist. Und so schwer einzufangen in Worten: „Worte bestehen aus Luft …“ Aber auch aus Tinte, wenn einer sie aufschreibt, bevor die Bilder verblassen. Oder Bilder zeichnet, die wie skizzenhaft festhalten, woraus eben gerade ein Gedicht geworden ist.
Jan Kuhlbrodt, Maria Hefter, Sofia Hefter „Wäsche im Wind und Polizisten“ Gans Verlag, Berlin 2025, 22 Euro.
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