Aktuell streiten sich ja die Kommentatoren der groรen Zeitungen, wer da schuld ist am Debakel in Thรผringen im Besonderen und am anschwellenden Populismus weltweit im Allgemeinen. Dabei zeigt sich oft in blรผhender Einfalt, wer in seiner eingeรผbten Denkblase festhรคngt und damit gleich noch in die Oberlehrerpose rutscht, und wer wenigstens noch so frei ist im Kopf, die Motive der Wรคhler verstehen zu wollen, die zu seltsamen Wahlergebnissen fรผhren.
Ein schรถnes Exemplar alten Denkens in rechts-links demonstrierte ja Josef Joffe in seinem โZeitโ-Kommentar zu den jรผngsten Vorwahlen der Demokraten in den USA, in dem er der SPD gleich mal den Absturz in die Einprozentigkeit verheiรt, wenn sie wieder so radikal werden wollte wie โLinksauรenstรผrmer wie Bernie Sanders oder Elizabeth Warren (Political Correctness plus Sozialismus)โ.
Das wรคre eine echte รberraschung, wenn nun ausgerechnet Prรคsidentschasftskandidaten der Demokraten linker sein sollten als die SPD. Auch wenn das, was sie im Wahlkampf erzรคhlen, wie das radikale Gegenbild zu Trumps Populismus aussieht (den Joffe dann wohl eher mit AfD-Hรถcke vergleicht). Aber er kriegt sein eingeรผbtes โMitteโ-Bild nicht aus dem Kopf, die Lebenslรผge unserer bรผrgerlichen Parteien, die nicht wirklich begreifen wollen, dass Wรคhler eben nicht (nur) nach Parteienspektrum wรคhlen, sondern auch nach Inhalten und Visionen.
Aber bรผrgerliche Kommentatoren zitieren ja immer dann, wenn sie Diskussionen รผber mรถgliche Alternativen lรคcherlich machen wollen, den SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt, der 1980 in einem โSpiegelโ-Beitrag zu Willy Brandt sagte: โWer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.โ
Und dann? Wie ging die Geschichte weiter? Jeder Journalist weiร doch, dass es zu so einem Satz eine Vor- und Nachgeschichte geben muss. Beim NDR findet man dann das Zitat, das das Zitat von 1980 einordnet: โEs war eine pampige Antwort auf eine dusselige Frage.โ
Also zurรผck zu Joffe, der nach einem langen Ausflug zu Trump, Sanders, Warren und der SPD zu der Einsicht kommt: โWie wรคrโs mit ,respektierenโ, um solche Wรคhler den Rattenfรคngern zu entfremden? โ Jedenfalls gilt nach Trumps Freispruch: Wer von links Verachtung sรคt, kriegt es von rechts doppelt zurรผck โ und umgekehrt. Der Gewinner ist die Polarisierung, die noch keinem Gemeinwesen gutgetan hat. Rot, Schwarz und Gelb (Beileid an Lindner) sollten Trump nicht imitieren, aber doch kรผhl analysieren, warum die US-Demokraten mit ihrem Linkskurs gegen den Schreckensmann gescheitert sind. Berlin ist nicht Weimar, wo KPD und NSDAP 1932 die Mehrheit im Reichstag an sich rissen. Hier wird die Regierungsmacht noch immer in der Mitte erobert.โ
Er hat sein Links und Rechts also immer noch im Kopf.
Parallel kommt in der โFrankfurter Rundschauโ Viktor Funk zu einem vรถllig anderen Ergebnis. Er sieht das Problem in einer vรถllig entkernten โMitteโ, die sich (siehe CDU und FDP) nur noch dadurch abzugrenzen versucht, dass sie die โpolitischen Rรคnderโ dรคmonisiert.
Viktor Funk: โWenn so etwas wie eine neue ,Mitteโ entstehen soll, dann kann das kein geografischer Punkt auf der politischen Landkarte sein, dann brauchen wir vielleicht auch einen neuen Begriff. Was entstehen kann, das muss eine auf Humanitรคt und Solidaritรคt, auf Kooperation und gegenseitigen Respekt ausgerichtete Basis dieser Gesellschaft werden. Eine Basis, auf der Menschen sich individuell entwickeln kรถnnen โ nicht eine Mitte, die sie mit รngsten kleinhรคlt und mit Mythen einnebelt.โ
Ist die wirtschaftliche Misere schuld?
Und auch am Institut fรผr Wirtschaftsforschung Halle (IWH) macht man sich jetzt Gedanken darรผber, wie es kommt, dass die Wรคhler der visionslosen โMitteโ immer mehr das Vertrauen entziehen.
Hat das Erstarken von populistischen Parteien รถkonomische Ursachen? Diese brisante Frage will das Leibniz-Institut fรผr Wirtschaftsforschung Halle (IWH) ab sofort federfรผhrend zusammen mit Forschenden aus England, Schottland und Tschechien untersuchen. Die VolkswagenStiftung fรถrdert das interdisziplinรคre Projekt fรผr vier Jahre mit knapp einer Million Euro.
Denn das Phรคnomen ist ja in allen Staaten des Westens zu beobachten.
Ob der Siegeszug der Brexit-Befรผrworter, rechtspopulistische Regierungen in Osteuropa oder die Wahlerfolge der AfD in Deutschland: Der Aufschwung von Populisten trifft Europas Demokratien im Kern und setzt die Europรคische Union unter Druck. Fรผr die Ursachen dieses Phรคnomens gibt es unterschiedliche Erklรคrungsansรคtze. Das Leibniz-Institut fรผr Wirtschaftsforschung Halle (IWH) untersucht jetzt in einem neuen Forschungsprojekt, inwiefern รถkonomische Faktoren die Zustimmung zu populistischer Politik beeinflussen.
Das IWH leitet zu diesem Zweck ab diesem Jahr ein internationales und interdisziplinรคres Projektteam. Zu diesem gehรถren Forschende der Wirtschafts- und Politikwissenschaften der Universitรคten von Nottingham (England) und Glasgow (Schottland) sowie des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag. Die Volkswagen-Stiftung fรถrdert das Vorhaben fรผr vier Jahre mit fast einer Million Euro. Es steht unter dem Titel โEuropas populistische Parteien im Aufwind: die dunkle Seite von Globalisierung und technologischem Wandel?โ.
Das Ruhigstellen mit Subventionen klappt nicht mehr
Die Globalisierung hat zwar allgemein den Wohlstand gesteigert, aber in vielen Regionen Europas auch zu Arbeitslosigkeit, Lohnungleichheit, Abwanderung und dadurch รberalterung gefรผhrt. Das IWH und seine Partner untersuchen nun, ob diese รถkonomischen Lasten Mitursache fรผr den Aufschwung von Populisten sind. Eine aufwendige Kausalanalyse soll zeigen, inwiefern wirtschaftliche Hรคrten zu Wรคhlerstimmen fรผr populistische Parteien fรผhren.
Um belastbare Ergebnisse zu erhalten, wollen die Forschenden die Zusammenhรคnge fรผr mehrere Lรคnder Europas analysieren. Dabei sollen insbesondere auch Staaten Mittel- und Osteuropas einbezogen werden.
Das Forschungsprojekt will eine Debatte bereichern, in der Populismus vor allem als kulturelle Gegenreaktion auf Liberalisierung, offene Grenzen und Migration gedeutet wird. Darรผber hinaus kรถnnten die Ergebnisse zu wichtigen Empfehlungen an die Politik fรผhren, sagt Projektkoordinator Steffen Mรผller, Leiter der IWH-Abteilung Strukturwandel und Produktivitรคt.
โWenn Subventionen verteilt werden, geht es der Politik oft darum, die Menschen in wirtschaftlich abgehรคngten Regionen kurzfristig zu beruhigen. Dahinter steht die Vermutung, dass wirtschaftliche Probleme die Hauptursache fรผr die Wahl antidemokratischer und populistischer Parteien sind und dass Geld vom Staat diese Wahlentscheidung beeinflussen kann. Beide Vermutungen sind fragwรผrdig und wissenschaftlich nicht ausreichend abgesichert.โ
Mรผller und sein Team wollen deshalb zum Beispiel untersuchen, ob EU-Fรถrdermittel in strukturschwachen Regionen dort die Stimmenanteile fรผr europaskeptische Parteien verringern.
Das TINA-Problem
Man merkt: Die IWH-Forscher stecken in ihrem betriebswirtschaftlichen Denken fest. Fast kann man schon die Fragen voraussagen, die am Ende des Projekts stehen werden: Welche Rolle spielen eigentlich die Arten der Subventionen und wer davon profitiert? Welche Rolle spielen demografische Faktoren? Welche Rolle spielen die modernen Medien?
Und welche Rolle spielt eigentlich das Gefรผhl in einer Gesellschaft, dass ein anderes Wirtschaften als unmรถglich gilt und das aktuelle als โalternativlosโ?
Kann es sein, dass die westlichen Gesellschaften mittlerweile unter dem TINA-Syndrom leiden? Dem Gefรผhl, eingesperrt zu sein in das von Maggie Thatcher einst geprรคgte โThere is no alternativeโ (TINA)? Und dass Menschen so einen Zustand als Hรถlle empfinden und darin auch zu den verzweifelsten Taten fรคhig sind?
Muss man den Hallenser Wirtschaftsforschern also auch ein paar Sozialpsychologen an die Seite stellen?
Ich befรผrchte: Ja.
Steilvorlage fรผr die AfD โ eine politikwissenschaftliche Einordnung
Steilvorlage fรผr die AfD โ eine politikwissenschaftliche Einordnung
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