Wenn man seit 15 Jahren auch über die Ergebnisse all der PISA- und anderen Tests schreibt und gleichzeitig über die sächsische Bildungspolitik, dann droht man irgendwann unweigerlich zum Zyniker zu werden. Aber der am Dienstag, 3. Dezember, veröffentlichte OECD-Bericht zur PISA-Studie 2018 zeigt natürlich auch, dass falsches Bildungsdenken nicht nur in Deutschland seine Anhänger hat.

Denn mehrere Länder hatten – nachdem sie auf den ersten PISA-Vergleich vor 20 Jahren reagiert haben – spürbare Steigerungen in allen geprüften Bereichen erzielt. Auch Deutschland. Doch seit drei Jahren gehen die erreichten Werte zurück. Denn Deutschland hat sich vor allem auf die eh schon leistungsstärkeren Schüler konzentriert, gleichzeitig aber die Lernbedingungen für die nicht so Leistungsstarken verschlechtert. Denn hierher gehört das ganze Thema Lehrermangel, das sich in den letzten Jahren erst aufgeschaukelt hat.

Bis 2009 hatte Sachsen kein Problem beim Bestand an Lehrerinnen und Lehrern, sah aber den Abgang überproportional vieler Pädagogen in den Ruhestand vor sich. Und statt darauf zu reagieren und vorsorglich junge Lehrkräfte zu binden, ließ man das Abschmelzen zu, arbeitete sogar viel zu lange mit völlig unzureichenden Schülerprognosen und leistete es sich bis über das Jahr 2014 hinaus, Bewerbungen hier ausgebildeter junger Pädagogen abzulehnen.

Die verantwortlichen Kultusminister der Union redeten das Problem klein, taten sogar dann noch so, als sei das nur ein vorübergehendes Problem, als an sämtlichen Schulen die Ausfallstunden drastisch zunahmen. Man operierte mit lauter Notfallpaketen, griff dann aus Verzweiflung auf lauter Quereinsteiger zurück.

Und unter dem Lehrermangel leiden auch in Sachsen zuallererst die Oberschulen, genau jene Schulen, an denen die Kinder aus den sogenannten sozial benachteiligten Familien landen.

Das Denken ist nicht allein sachsen-typisch. Es zeigt überall in Deutschland seine Wirkung.

„In Deutschland erzielten die Schülerinnen und Schüler mit günstigem sozioökonomischem Hintergrund beim PISA-Lesekompetenztest 2018 im Schnitt 113 Punkte mehr als die sozioökonomisch benachteiligten Schüler“, fasst es die OECD zusammen. „Damit war der Abstand zwischen diesen beiden Gruppen größer als im OECD-Durchschnitt (89 Punkte). Er war auch etwas größer als im Jahr 2009, als er sich auf 104 Punkte belaufen hatte (gegenüber 87 Punkten im OECD-Durchschnitt).“

Das heißt nun einmal im Klartext: Die Leistungen der „schwächeren“ Schüler haben sich verschlechtert, während die eh schon guten Schüler noch besser geworden sind. Das nennt man Elitenförderung.

Entwicklung der PISA-Kompetenzen deutscher Schüler im Zeitvergleich. Grafik: OECD
Entwicklung der PISA-Kompetenzen deutscher Schüler im Zeitvergleich. Grafik: OECD

Nur hat diese Art Förderung der Kinder aus gut betuchten Elternhäusern eben ihre Grenzen. Man kann den Leistungsanstieg so nicht grenzenlos puschen, wenn man nicht gleichzeitig die Lernbedingungen für alle Kinder verbessert, die von Haus aus nicht so gute Startbedingungen haben. Denn sie sind ja nicht wirklich leistungsschwächer. Das moderne Schulsystem ist ein Kompetenz-System. Und die wichtigste Kompetenz, das stellt auch die OECD fest, ist die Lesekompetenz. Die aber hat sich vor allem bei Jungen aus „bildungsfernen“ Familien deutlich verschlechtert.

Wenn Kinder aber die Sprache, in der sie lernen, nicht beherrschen, nicht gern lesen und deshalb auch den Schlüssel zur Problemlösung nicht finden, dann sacken sie schon in den ersten Schuljahren ab, erreichen (ohne Förderung) nicht das Basis-Level ihrer Mitschüler aus bevorteilten Elternhäusern.

„Menschen mit niedrigen Basiskompetenzen laufen heute mehr denn je Gefahr, ausgegrenzt zu werden“, erklärte OECD-Vizegeneralsekretär Ludger Schuknecht bei der Vorstellung der Studie in Berlin. „Die PISA-Ergebnisse sind deshalb eine dringende Aufforderung, in der Schule niemanden zurückzulassen, sondern allen Schülerinnen und Schülern die Kompetenzen zu vermitteln, die sie brauchen, um in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts zu bestehen.“

Das würde nämlich bedeuten: Mehr und bessere Lehrer in die Schwerpunktschulen, mehr Unterstützung für Kinder, die nicht die nötigen Basiskompetenzen schon mitbringen.

Aber das Gegenteil passiert in Deutschland, stellt die OECD fest: „Auffällig ist außerdem, dass Schulleiterinnen und Schulleiter in Deutschland deutlich häufiger über eine mangelnde Ausstattung mit Personal und Sachmitteln klagen als ihre Kolleginnen und Kollegen im OECD-Schnitt. Gleichzeitig sind sozioökonomisch benachteiligte Schulen stärker mit Personalmangel konfrontiert als sozioökonomisch begünstigte Schulen.“

Da hat die PISA-Studie das deutsche Schulsystem genau da erwischt, wo sich die deutschen Kultusminister gegenseitig die Taschen vollhauen: Es ist ungerecht, elitär und es sortiert junge Menschen schon früh aus, zeigt ihnen allein schon mit den Lernbedingungen die Rote Karte fürs Leben. Dieses elitäre Denken sitzt so tief in unserer Bildungspolitik, dass man durchaus das Gefühl haben darf, dass das Absicht ist, dass sich hier die aus gut betuchten Elternhäusern stammenden Spitzenpolitiker die Konkurrenz frühzeitig vom Hals schaffen und (vielleicht sogar unbewusst) lauter Barrieren einbauen, die verhindern, dass die Kinder aus eh schon benachteiligten Familien jemals dieselben Chancen bekommen wie die aus gutverdienenden Elternhäusern.

Die Mahnung der OECD: „Chancengerechtigkeit bleibt eine der Herausforderungen für das deutsche Bildungssystem. So hat sich in Deutschland seit der letzten PISA-Studie mit Leseschwerpunkt (2009) beim Leseverständnis die Abhängigkeit der Leistung von der Herkunft noch verstärkt.“

Die OECD vermutet zwar: „Ein Teil der jüngsten Entwicklung der durchschnittlichen Leseleistungen könnte auf die veränderte demografische Struktur der Schülerpopulation (in Bezug auf Geschlecht, Migrationshintergrund, Geburtsquartal) zurückzuführen sein. 5 Punkte des Leistungsrückgangs, der zwischen 2015 und 2018 im Bereich Lesekompetenz beobachtet wurde, sind Veränderungen des demografischen Profils der Schüler in diesem Zeitraum zuzuschreiben.“

Aber sie schränkt den Befund gleich wieder ein: „Die demografischen Veränderungen können jedoch nur einen geringen Teil der umfassenderen negativen Trends erklären, die seit 2012 in Mathematik und Naturwissenschaften zu beobachten sind.“

Und das hat auch aus OECD-Sicht eindeutig mit der frühen Auslese im Schulsystem zu tun: „Deutschland weist eine stärkere Konzentration leistungsschwacher und leistungsstarker Schüler an bestimmten Schulen auf, als dies im OECD-Durchschnitt der Fall ist. Grund dafür ist die frühe Selektion und Aufteilung auf verschiedene Schultypen.“

Das ist genau die sächsische Diskussion um das (längere) gemeinsame Lernen.

Und die aussortierten Kinder landen dann oft genug noch an Schulen, wo die Lernbedingungen deutlich schlechter sind, wie die OECD feststellt: „In Deutschland berichten die Schulleitungen über größere Personal-und Ausstattungsmängel als im OECD-Durchschnitt, und sozioökonomisch benachteiligte Schulen sind offenbar häufiger mit Personalmangel konfrontiert als sozioökonomisch begünstigte Schulen. In Deutschland sind 70 % der Schülerinnen und Schüler in benachteiligten Schulen laut Angaben der Schulleitungen zumindest bis zu einem gewissen Grad von Unterrichtsbeeinträchtigungen durch Lehrkräftemangel betroffen. Unter den Schülerinnen und Schülern begünstigter Schulen gilt dies nur für 34 %. Im OECD-Durchschnitt belaufen sich die entsprechenden Anteile auf 34 % bzw. 18 %.“

Das ist nicht nur elitär und ungerecht. Es sorgt dafür, dass die betroffenen Kinder (vor allem die Jungen) früh schon Gefühle des Es-lohnt-sich-nicht, des Benachteiligtseins fürs Leben ausbilden. So produziert Deutschland genau die Probleme, die die lernfaulen Eliten dann wieder beklagen, weil sie einfach nicht begreifen wollen, wie Integration eigentlich funktioniert. Mit Aussortieren und Benachteiligen jedenfalls nicht.

Und warum ist Lesekompetenz (die man nun einmal in den ersten Schuljahren erwirbt) so verflixt wichtig? Die OECD dazu: „Leistungsschwache Schüler sind in den Naturwissenschaften nicht in der Lage, auf Basis von Alltagswissen Daten zu interpretieren und valide wissenschaftliche Schlussfolgerungen zu ziehen. In Mathematik sind sie nicht in der Lage, den ungefähren Preis eines Gegenstands in einer anderen Währung anzugeben oder die Entfernung zwischen zwei Punkten über verschiedene Routen zu vergleichen. Beim Lesen haben sie Schwierigkeiten, die zentrale Idee eines Textes zu erfassen.“

Und wer dann genauer hinschaut sieht: Es ist nicht der Migrationshintergrund, der bei der „Leistungs“-Auslese den größeren Ausschlag gibt, sondern der soziale Hintergrund der Kinder, die dann eben sehr früh und sehr klar erfahren, wie das elitäre Bildungssystem in Deutschland für sie funktioniert.

Die in Zahlen gegossene Bilanz für die Ungerechtigkeit in Sachsens Bildungssystem

Die in Zahlen gegossene Bilanz für die Ungerechtigkeit in Sachsens Bildungssystem

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