Als die Stadträt/-innen am 14. Dezember durch die Wandelhalle zum Ratssaal kamen, erwartete sie der stumme Protest Leipziger Kinder- und Jugendsozialarbeiter/-innen. Dass es dabei nicht nur um die laufenden Verhandlungen zum Doppelhaushalt 2023/24 ging, wurde bereits mit Blick auf die erschreckenden Fakten aus dem neuen „Sozialreport 2022“ klar. Schweigende Mitarbeiter/-innen von der Villa, dem Haus Steinstraße und weiteren freien Trägereinrichtungen hatten sie einfach mal groß und sichtbar auf Schilder geschrieben.

Es ist eine leise Entwicklung, die sich in einem Land mit der angeblichen Hauptressource Bildung als Drama im Hintergrund abspielt. Knapp 100.000 Kinder und Jugendliche unter 25 Jahre (97.642) leben derzeit unter den ca. 600.000 Einwohnern der Stadt Leipzig, sie sind das, was man die Zukunft einer Gemeinde nennen könnte.

Und die beginnt ja meist bei den ganz Kleinen, denen der „Sozialreport“ attestierte, dass sich bei den letzten Schulaufnahmeuntersuchungen ganze 34 Prozent auffällig schwer damit taten, ihrem Alter gerecht mit der deutschen Sprache umzugehen. 9,5 Prozent erwiesen sich dabei als nicht einschulungsbefähigt, wie auch auf einigen der Schilder zu lesen war.

Zusammengelegt bedeutet dies zudem, dass etwa 25 Prozent aller Grundschüler ab Klasse 1 hinterherhängen und hier bereits eine stärkere Förderung benötigen.

Erhalten sie diese nicht, zeigen sich bereits bei der Entscheidung zwischen Gymnasium und Oberschule in der vierten Klasse die ersten Konsequenzen: immer mehr Schüler/-innen stehen da erst bei den Kenntnissen der zweiten Klasse, da die Zeit nicht reichte, um aufzuholen.

Dass dieser erschreckende Befund dann sogar noch stadtweit schwankt, hatte Ulrike Bernard von der Arbeitsgemeinschaft AG Freie Träger der Jugendhilfe gegenüber LZ schon im Vorfeld betont. Im Leipziger Osten wie auch im Stadtteil Grünau läge der Prozentsatz der Kinder mit Sprachproblemen im Vorschuljahr bei sagenhaften 60 Prozent.

Zusammengerechnet sei also „jedes dritte Kind in Leipzig nicht schulfähig“, so Bernard, in den genannten Stadtgebieten jedes zweite.

Dabei mache man es sich wirklich zu leicht, dieses Thema mit migrantischen Hintergründen zu verbinden, stellt die Mitarbeiterin des Hauses Steinstraße klar. Es ginge vor allem um den sozialen und finanziellen Hintergrund der Elternhäuser, ganz gleich welcher Herkunft.

Dass Leipzig im Grunde noch immer eine „arme Stadt“ ist, sieht man unter anderem an einem weiteren Fakt, den die Protestierenden vor dem Ratssaal aus dem „Sozialreport 2022“ zitierten.

Dass 17.300 Leipziger Kinder eine finanzielle Unterstützung für ihr Mittagessen erhalten müssen. 12.507 Kinder (14,8 %) sind auf Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen, jedes sechste Kind in Leipzig lebt in Kinderarmut mit SGB II.

Und wo es schon am Mittagstisch hapert, ist natürlich auch kein Geld für private Nachhilfe vorhanden. Kurz formuliert: reichere Elternhäuser könnten sich gegebenenfalls Nachhilfen leisten, ärmere nicht und genau diese seien auf die Angebote der freien Träger angewiesen.

Kosten oder Investition?

Ein weiteres Dilemma taucht dann auf der anderen Seite der Bildungsskala, am Schulende auf. Hier finden sich 10,2 Prozent der Schulabgänger ohne Abschluss wieder. Mit entsprechenden Folgen für einen möglichen Beruf oder eine Ausbildungsbefähigung, wie nicht zuletzt immer häufiger auch die IHK und die Leipziger Handwerkskammer beklagten.

„Es kann nicht sein, dass wir weiter abwerten, das kann sich keine Gesellschaft leisten“, so Bernard in der Wandelhalle des Rathauses. „Kinder und Jugendliche sind keine Kosten, es sind Investitionen in die Zukunft.“

Vor diesem Hintergrund möchte die Geschäftsleiterin des Hauses Steinstraße auch den gemeinsamen Protest als Auftakt, als Beginn einer grundlegenden Veränderung, weit über das Geld hinaus verstanden wissen.

Doch auch bei dem wird es nun knapper. Zwar sollen ab den Haushaltsjahren 2022 und 2023 zwei Millionen Euro mehr pro Jahr in die freien Kinder- und Jugendhilfehäuser der Stadt Leipzig fließen, doch selbst diese zusätzliche Summe wird der Problemlage nicht gerecht.

Einerseits macht der Preisauftrieb in allen Bereichen auch hier den Fortbestand der Angebote von gemeinsamen Hausaufgaben bis zum Tanznachmittag dennoch schwierig, sogar das Munkeln über einzelne Schließungen ganzer Häuser macht wieder die Runde.

Andererseits läuft gerade ein Bundesprogramm aus, was in Leipzig 70 „Sprach-Kitas“ hervorbrachte und so an eben jenem Punkt ansetzte, wo die Sprachprobleme früh behoben werden könnten. Wenn es denn verstetigt und ausgebaut worden wäre.

Grund für Sorgen also auch im Dezernat von Bürgermeisterin Vicki Felthaus (Grüne). Statt um eine Ausdehnung des als hervorragend eingeschätzten Ansatzes, kämpft man derweil nach LZ-Informationen vor allem auf Landesebene um die Mittel für eine Fortsetzung des Einsatzes von Sprachmittler/-innen in Leipziger Kindergärten.

Noch will man die Hoffnung nicht aufgeben, heißt es gegenüber der LZ aus dem Dezernat. Gleichzeitig verlassen die geschätzten Mitarbeiter/-innen die Arbeitsplätze in den Kitas bereits angesichts der geringen Erfolgsaussichten. Der Druck auf die freien Träger dürfte also noch weiter anwachsen, bei Kindern und Jugendlichen das aufzuholen, was sie von zu Hause an Grundfertigkeiten nicht mehr mitbekommen und was in der Kita nicht mehr korrigiert wird.

Nur mit wem die Aufholjagd im Angesicht von Personalmangel gelingen soll, das fragt sich Ulrike Bernard dann doch noch. Leipzig habe aus ihrer Sicht zu strenge Maßstäbe bei der Auswahl von neuem Personal bei den freien Trägern, ohne ein Studium ginge da nichts. Dass ein Hochschulabschluss allein jedoch noch keine guten Pädagog/-innen macht und manche/r mit Befähigung durchs Raster fällt, weiß sie aus der Praxis.

Die stille Katastrophe rollt also weiter, auch wenn der Stadtrat im Dezember im Jugendhilfeausschuss und im Januar 2023 die jährlichen zwei Millionen im Rahmen des Haushaltes mehr beschließt. Oder dem SPD-Antrag auf nur 800.000 Euro folgt und sie damit weiter verschärft.

Die Alternative zum stummen Protest, dem sich auch so manche Stadträtin anschloss, wäre wohl nur ein grundlegendes Neudenken einer Bildungslandschaft von Kita bis zum Gymnasium, die strukturell und dank Mangelfinanzierung und falschen Effizienzdenkens schon zu lange in die falsche Richtung gelaufen ist.

Und einer konservativen Politiklandschaft, die noch immer an Bildungsmonitore einer INSM glaubt, auch wenn diese mit Bildung nichts zu tun haben.

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Es gibt 2 Kommentare

Liebe Kinder- und Jugendsozialarbeiter/-innen,
leider haben wir schon Milliarden für Kriegsmaterial und für die Subventionierung fossilier Energieträger verballert. Da gibt es für kostenverursachende Kinder und Jugendliche nix mehr, für Rente, Pflege, Bildung und das Gesundheitssystem erst recht nicht.
Sorry, Eure Regierungen aus Berlin und Dresden.
PS: Bitte nicht ankleben (außer gerd stefan).

Im Rathaus zu demonstrieren bringt doch fast gar nichts. Besser ist doch sich vor dem Rathaus am Ring auf einen Radweg für mehr Lehrer in Sachsen und weniger Schulausfall zu kleben. Das müssten wir nun doch schon gelernt haben.

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