LeserclubNatürlich war der Mond angebissen. Sie hatten nur die kleine 5-Watt-Funzel angeschaltet, als der alte Kommissar sich wie ein schlechtes Gewissen in ihre Wohnung drängte. Oder wuchtete. Es kam wohl auf die Perspektive an. Und aus dem Sessel, in dem Herr L. gesessen hatte, als der Alte kam, hatte er bestenfalls eine verwirrende Untersicht auf ein kantiges Gesicht, dem – so betrachtet – die Vertraulichkeit fehlte.

Aber darüber grübelte er erst später. Als ihm vom langen Sitzen im Sessel das Kreuz wehtat und seine Mascha, statt den Abend für beendet zu erklären, was ja sonst ihre Aufgabe war, den schweren Rotwein aus der Anrichte holte, der ein wenig nach Waldboden roch und schmeckte, und zwei Gläser einfüllte und L. dabei kaum eines Blickes würdigte. Als hätte er mal wieder etwas falsch gemacht!

Frauen, rebellierte sein ratloses Gewissen. Ein bisschen Stöhnen gewährte er sich. Aber aus Erfahrung wusste er, dass es bei Mascha meist eher sehr allgemeine Vorwürfe an die Männerwelt an sich waren, die sie natürlich auf ihn projizierte. Es war ja sonst keiner da, der mit breiter Brust und schmerzendem Kreuz alle Sünden Adams an diesem Abend auf sich nehmen konnte.

„Kannst du mir – BITTESCHÖN – sagen, was das jetzt war?“

Kein Liebster dazu, kein Brummbärchen dazu. Also gut. Es würde schwerer werden. Dabei sehnte er sich eigentlich nach einem kleinen Kuscheln in Bettfedern. Oder einem großen. Aber das hatte wohl Adam schon erlebt, wie Eva reagiert, wenn er sich doof stellte: „Was, bitteschön, ist das hier, MEIN LIEBER ADAM!?“

„Eine Paradiesfrucht? Ein Geburtstagsgeschenk? Ein Liebesbeweis?“

Wahrscheinlich war da ein paar Minuten lang der Teufel los im Paradies und hat sich im Laub des Baumes der Weisheit scheckig gelacht. Und die beiden noch angespornt, auf dass Eva so richtig zeigte, was in ihr steckte. Na ja, bis Adam herzhaft hineinbiss.

Den Rest kennen alle.

„Darf ich raten“, fragte L.

„Nein.“

„Aber ich kann nur raten. Und das, was ich als armer, unter der Last meiner Tage ächzender Mann …“

„Gib nicht so an. Ich habe dich bis jetzt immer gut durchgepäppelt. Also: Was war das?“

„Ein Warnschuss?“

„Lüg mich nicht an!“

„Ich versuche nur zu raten, Mausezähnchen“, sagte L. Und versuchte dann etwas hausherrlicher zu klingen: „Denn ich WEISS ES NICHT…“

„Was weißt du nicht?“

„Du warst doch selbst dabei. Du hast es selbst gehört. Sie haben ihm die Wohnung auf den Kopf gestellt. Und das WAR EINE WARNUNG. Ein Schreckschuss. So ungefähr wie: ‚Wenn du nicht aufhörst mit Stöbern, zeigen wir dir, zu was wir fähig sind …‘“

„Glaub ich nicht.“

„Wieso nicht?“

Vorm Fenster raschelten und knisterten wie üblich die Äste der Bäume, ein Wind schwang sich da etwas gelangweilt von Ast zu Ast. Zu einem ansonsten völlig ereignislosen Tag gehört natürlich auch ein ereignisloser Wind. Der auch manchmal ein bisschen Laub an die Fensterscheibe warf. Vielleicht prasselte es auch. Wolken zogen bedeutungsschwanger über die Firste. Mittendrin hing der Mond. Angeknabbert. Das verrieten wir ja schon.

Und L. versuchte, sein schwirrendes Köpfchen noch einmal ein wenig zum Arbeiten anzuregen. Denn was die innere und die äußerliche Logik betraf, war ihm seine Lieblingsmascha immer ein Stück voraus. Und wo er nur einen verängstigten alten Mann sah, der wie in alten schwarz-weißen Spion-Filmen den düsteren Nachrichtenüberbringer spielte, sah Mascha den Falschspieler. Den L. beim besten Willen nicht sehen könnte.

„Wenn der es auch nur ein bisschen ernst gemeint hätte, dann hätte er euch zusammengetrommelt, die ganze Bande von Edelfedern und Sensationsfotografen, auch deinen lieben Kollegen Lemur, der Frauen immer genau so fotografiert, als würden sie gerade aus dem Schlafzimmer kommen …“

Dazu fiel L. zwar was ein. Aber das sagte er nicht.

„Wolltest du mich unterbrechen?“

Na ja, sie war noch immer in ihrer Ich-beiß-dich-gleich-Rolle.

„Bestimmt nicht, o …“

„DU NIMMST MICH NICHT ERNST!!!“

„Nnn … nein.“

„Was denn?“

„Natürlich nehm ich dich ernst. Und natürlich kann ich mir gut vorstellen, wie dieser alte Mann mit seiner alten Schnüfflervisage … nur: Wohin? Wohin hätte er unsere ganze Meute …“

„… von Hyänen …“

„Sag das nicht noch mal.“

„Hyänen.“

„Ich seh mich aber nicht …“

„Wen interessiert das, liebster Peter Pan? Glaubst du, auch nur einer von den braven Leuten da draußen glaubt, dass ihr keine Hyänen seid?“

„Aber ich hab nicht …“

„Schön für mich.“

Kurzes Schweigen. Der Wein schmeckte zwar nach Wald, aber er verbreitete auch so eine gewisse Stimmung wie kurz nach Dunkelheit, wenn man sich als einsamer Wanderer noch heimelig fühlt, aber noch nicht verloren und verirrt.

„Aber wohin dann?“

„Zu seinem Kumpel von Polizeipräsident, diesem Weichei, das er damals, als alle noch überzeugte Genossen waren, selbst ausgebildet hat, hat er doch erzählt, oder? Bevor alles anders kam und sie ihn abgestellt haben als kleinen Kriminaler.“

„Du meinst, er wäre selber …“

„Bestimmt.“

„Und er würde sich rächen …“

„Vielleicht nicht, mein Herzchen. Irgendwie ist er da wie du, so ein kleines, trauriges Bärchen, das sich immer wünscht, die anderen würden genauso freundlich und ehrlich sein … und .. „

„Also schnurstracks ins Präsidium?“

„Nein. Da hätten euch schon die Pförtner aufgehalten und ihr hättet blöde dagestanden, bis irgendwann einer rausgekommen wäre und euch gesagt hätte, dass ihr euch verziehen sollt …“

„Also dann?“

„Ich jedenfalls hätte euch direkt vor dieses hässliche, spießige Hexenhaus geführt, in dem der Kerl wohnt. Das hätte ich getan. Und ich hätte eine verdammte Flüstertüte mitgenommen und den Herrn Ordensträger vor seiner ganzen schniefigen Nachbarschaft gefragt, was verdammt noch mal er sich einbildet, ohne Grund und Gerichtsbeschluss einfach in die WOHNUNG UNBESCHOLTENER MENSCHEN EINZUDRINGEN! Ob er noch alle Latten am Zaun …“

„Du fluchst ja, Mausezähnchen!“

„Ich bin ja auch ein bisschen wütend. Schmeckt dir der Wein wenigstens?“

„Nicht die Bohne. Aber mach nur weiter. Ich versteh das nämlich nicht. Ich habe nicht deine w…“

„Was?“

„Deine weibliche Intuition. Leg los.“

„Ach, und du machst dir selbst keine Gedanken? Dir kam das moschusduftende Männlein nicht komisch vor, wie es dastand mit einer Trauerkloßmiene und sich die GANZE ZEIT DAS LACHEN verkniffen hat?”

„Das hab ich – ehrlich – nicht so gesehen. Ich bin …“

„Ich weiß. Du bist nur ein armer …“

„Nicht kitzeln, ich komm ja nicht zum Denken.“

„Wäre ja auch was Neues. Was bleibt also übrig?“

„Keine Warnung?“

„Doch, irgendwie schon.“

„Aber was anderes. Lass mich raten …“

„Du sollst nicht raten. Du sollst deinen verdammten harten Männerschädel ZUM DENKEN BENUTZEN!“

„Aber bitte nicht die Wohnung anzünden!“

„Das ist das falsche Buch. Weiter.“

„Ich soll mich warm anziehen, wenn ich rausgehe? Lieber den Hinterausgang nehmen? Überall verdächtige Männer mit Schlapphüten?“

„Könnte was dran sein.“

„Oder rothaarige Spioninnen pirschen sich ..“

„Jetzt reicht’s. Willst du mich …“

„Na ja, gehört nicht viel dazu. Ich hab dich ja schon auf dem Arm. Aber ich stecke fest. Keine Schlapphüte. Keine rothaarigen …?“

„Bursche!“

„Was dann?“

„Ich kann mich irren, mein Lieber.“

„Glaub ich nicht.“

„Gefühle sind nur Gefühle.“

„Aber nicht bei Frauen.“

„Was!?“

„Genau das. Also: Wovor soll ich mich hüten?“

„Sie haben seine Wohnung nicht wirklich auf den Kopf gestellt. Das hat er extra betont. Sie haben ihn gewarnt. Aber sie haben nicht mal richtig gesucht. Also geht es nicht um das, was er weiß oder auch nicht weiß und wer nun diesen langweiligen Herrn Miller damals umgebracht hat oder auch nicht. Es ist – egal.“

„Wieso soll das egal sein?“

„Weil es die falsche Geschichte ist. Ein Köder, denk ich. Vielleicht, damit jemand die falsche Geschichte erzählt. Oder die richtige Geschichte, aber zum falschen Zeitpunkt? Oder die falsche zum richtigen? Hast du darüber niemals nachgedacht? Dass du für jemanden, der ein kleines bisschen cleverer ist als du, die wichtige Drecksarbeit machen könntest? Dass sie dich mit Fakten füttern, die du natürlich falsch erzählen musst, weil du die richtigen Fragen nicht kennst?“

„Na ja, wenn du mir ins Ohr pustest, kann ich ganz bestimmt nicht denken. Glaub mir das. Ich bin ein Dings …“

„Weiß ich. Aber vielleicht hilft’s ja.“

„Jedenfalls nicht, was meinen Blutdruck betrifft …“

„O doch ..“

An der Stelle wünscht sich bestimmt der eine oder die andere, dass das jetzt fein detailliert auserzählt wird. Aber da nur der angeknabberte Mond durchs Fenster geguckt hat, tun wir einfach so, als wüssten wir davon nichts. Außer dass Maschas Weingedanken bei L. tatsächlich auf fruchtbaren Boden – oder mal so formuliert: in ein aufnahmebereites Gehirn fielen und dort emsig weiterwucherten, während die beiden wechselseitig die Gläser mit dem schweren Wein leerten und sonst so Dinge anstellten.

Und in gewisser Weise ist es ja auch erleichternd, wenn man sich in mehreren Verschlingungen der Einsicht nähert, dass man tatsächlich nichts, wirklich nichts für gegeben nehmen darf und selbst in den Dickschädeln alter Polizeier ein Funke Mitgefühl mit der Welt im Speziellen und manchen jüngeren Mitmenschen im Allgemeinen lebendig zu sein scheint. Ein winziges, mitfühlendes Flämmchen, das man sonst von Vollzugsbeamten eher nicht erwarten darf. Und so könnte die Botschaft dieses abendlichen Besuchs auch durchaus gelautet haben: Verbeiß dich nicht. Es ist nicht dein Spiel, auch wenn du das glaubst, weil das dein Job ist, das zu glauben. Damit rechnen sie ja. Und morgen bist du derjenige, der im Fegefeuer steht …

„Fegefeuer, was redest du da von Fegefeuer?“

„Nichts, Schatzi.“

„Dann bleib bitte bei der Sache.“

Vielleicht so: Ihnen ist dein Leben egal. Aber dir sollte es vielleicht nicht egal sein. Das war, möglicherweise, MEIN FEHLER. Ich bin ein alter Spürhund und vergesse manchmal, dass dies komische Leben auch weitergeht, wenn ich meinen letzten Fall nie gelöst bekomme. Wer kann schon mit einem ungelösten Rätsel leben. Können Sie das, Herr L.?

Und da hörten sich L.s Gedanken schon beinah an, als hätte sie der Alte selbst ausgesprochen. Was er eindeutig nicht hatte und was L. natürlich restlos verwirrte, sodass dann auch der Rest aus der Rotweinflasche dran glauben musste und einige Kleidungsstücke ganz sicher morgen eine Rotweinfleckbehandlung brauchen würden. Aber nicht mehr an diesem Abend.

Nicht mehr nach Maschas wiederholten Ermahnungen, er solle, VERFLIXT NOCH MAL, bei der Sache bleiben!

Und manchmal gibt es eben nur eine Sache, die getan werden muss.

Und wer dabei auf gedanklichen Abwegen wandelt, gehört den Rest der Nacht auf die Couch im Wohnzimmer verbannt. Also raffte sich L. zusammen, nahm sich aber fest vor, nicht zu vergessen, was er an diesem Abend vielleicht begriffen hatte.

Die Erde drehte sich weiter. Und eine Katze schaute nachdenklich den riesigen Käse am Himmel an.

Die ganze Serie „Und was passiert jetzt?“

 

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar