So läuft die Zeit ab. Für manche Leute ganz still und friedlich. Für andere mit Krach und Feuerwerk. Und für die nächsten mit tränenden Augen und Kopfschmerzen. Manche stoßen sachte mit ihren Sektgläsern an und wünschen sich nur eins: Dass im neuen Jahr die Vernunft wieder mehr Platz bekommt in den Köpfen. Aber um das zuzulassen, braucht es Gelassenheit. Eine Eigenschaft, welche die meisten Bewohner dieser Zeitinsel nicht haben. Oder sich nicht zutrauen.

Jene Gelassenheit, die man bekommt, wenn man sich endlich wieder von den Bildschirmen löst, die einen berieseln, erschrecken, permanent in Spannung halten. Sodass wir die Köpfe nicht wenden können und aufatmen. Nachdenken darüber, worum es in unserem Leben eigentlich geht. Und was wir darin eigentlich mögen und wünschen.

Ohne diese Jahreswechsel-Wünsche-Orgien, die nur noch die Autoren all der dämlichen Texte über „Wünsche fürs neue Jahr“ glauben. Kein Mensch geht so ins neue Jahr, auch wenn sich das die Fitness-Studios so gern ausmalen. Die meisten Leute sind am 31. Dezember um 23:59 Uhr einfach froh, dass sie wieder ein Jahr leidlich überlebt, ihren Job behalten haben und die Wohnung bezahlen konnten. Und sogar noch Geld übrig blieb für den Kartoffelsalat, die Würstchen und den Sekt.

Unsertwegen

Und dass sie nicht allein aus dem Fenster gucken, wenn irgendwo jemand die Sekunden herunterzählt bis zur Null. Und dass die Menschen, mit denen man anstößt und die man ans Herz drückt, tatsächlich unsertwegen da sind. Weil sie einen tatsächlich mögen und durchs halbe Land gefahren sind, um mit einem einfach auf den Moment anzustoßen, in dem das letzte Kalenderblatt fällt. Und alles den Blick weitet auf ein neues Jahr, in dem man eigentlich nur so of wie möglich so miteinander sein möchte.

Und offen sein möchte für alles, was einem das Leben schenkt. Einfach so. Mal abgesehen davon, dass das Leben sowieso ein einzigartiges Geschenk ist. Und sowieso viel zu kurz. Weil wir so im Hamsterrad beschäftigt sind, dass wir gar nicht mehr sehen, was wirklich wichtig ist und das Herz erwärmt.

Sodass man dann durchaus erstaunt auf den neuen Kalender schaut, der einen vielleicht genau dazu einlädt: Die Welt da draußen, die Stadt da draußen wieder und wieder mit offenen Augen wahrzunehmen. Eine Einladung, jederzeit Hut und Mantel schnappen zu können, um durch die Stadt zu laufen, in der man irgendwie lebt. Und die man doch kaum noch wahrnimmt, wenn man durch die drängenden Forderungen der Tage jagt. Ohne aufzublicken. Ohne innezuhalten. Ohne Luft zu schnappen und die Augen zu öffnen.

Die stillen Seiten der Stadt

Und das kann durchaus ein kleiner Tischkalender sein, wie ihn der Sax-Verlag auch in diesem Jahr wieder aufgelegt hat – mit lauter durchsonnten Fotos der manchmal gar nicht quirligen Stadt Leipzig. Mit lauter Ecken, in denen man einfach mal im eiligen Hasten innehält, die Nase in die Sonne hält und schaut. Zuschaut, wie die Zeit fließt. Manchmal schnell, manchmal ganz langsam. Und irgendetwas bestätigt einem im Hinterkopf: „Du bis jetzt hier. Das ist dein Moment.“

Sagen Sie sich das mal. Sie werden merken, was es verändert.

Ob nun am zugefrorenen Karl-Heine-Kanal oder am nicht zugefrorenen Elstermühlgraben. Ob beim ersten Knospentreiben im Clara-Zetkin-Park oder mit den ersten Blüten am Thomashaus am Dittrichring. Der eine bleibt da stehen und zückt sein Smartphone, um das festzuhalten und zu teilen. Und der andere steht einfach da und merkt: Jetzt ist jetzt.

Ob beim Blick in den lichten Innenhof des Grassi-Museums oder beim Blick hinüber zum Riverboat am Karl-Heine-Kanal. Es gibt ja all diese Orte, an denen man sich ausklinken kann aus der Hektik des Alltags. An denen man spüren kann, dass man da ist. Und dass es im Leben eigentlich die ganze Zeit darum geht: zu spüren, dass man da ist.

In die Welt geworfen, mit all seinen Wünschen und Erwartungen. Von denen die wichtigsten alle mit Menschen zu tu haben, die wir mögen, die uns guttun und die wir schon am ersten Tag des Jahres wieder vermissen, wenn sie schon wieder abreisen mussten. Vielleicht einen dieser kleinen Kalender in der Reisetasche, damit sie an uns denken da in der Ferne. Und auch an sich selbst.

Die Flüchtigkeit eines Jahres

Denn nichts ist schneller fort als ein ganzes Jahr, in dem wir nicht gemerkt haben, dass wir da waren.

Vielleicht hilft Ihnen ja das, was wir mit der Leipziger Zeitung so treiben, wo wir uns ja bemühen, den Blick für das Jetzt zu schärfen. Und diese seltsam unfertige Stadt, die nie zur Ruhe kommt. Ab und zu genau daran zu denken, an das, was Ihnen wirklich wichtig ist. Das kann auch diese Stadt mit ihren sonnigen Ecken sein, an denen man stutzt und stehen bleibt und merkt, wie man mitsamt der Stadt durch die Zeit schwimmt.

Das Gläseranstoßen ist nur ein Moment. Und wer den Anderen dabei in die Augen schaut, merkt, dass es allen genauso geht. Man spürt für einen Moment, wie alles fließt. Und dass jeder Moment, den wir wirklich mit unseren Sinnen wahrnehmen, ein Geschenk ist.

Vielleicht ist es das, was wir uns wünschen sollten fürs nächste Jahr: aufmerksamer zu sein auf all das, was uns wirklich lebendig macht.

„Tischkalender Leipzig 2026“, Sax-Verlag, Beucha und Markkleeberg 2025, 5,95 Euro.

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