LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug aus Ausgabe 38Wenn heute wieder vom „Elster-Saale-Kanal“ als angeblich wichtiges Projekt hier und da die Rede ist, zeigt ein Blick ins Jahr 1891 und die damaligen Berichte der Leipziger „Westend-Zeitung“ den Beginn eines Jahrhundertscheiterns. Doch im Leipziger Westen wähnt man sich bereits damals im Besitz eines großen Plans für die Binnen-Schifffahrt bis an den Hamburger Hafen. Unbekannt dürfte sein, dass man dabei damals noch mit den Gohlisern konkurrierte. Lindenau hingegen erhält in dieser Zeit das heute bekannte Gesicht – ein Bauboom setzt ein. Auch die heute noch bekannte Vermischung von Journalismus und Werbung ist schon damals zu beobachten. Doch wenigstens erfährt man nun so wenigstens rückblickend einen heißen Weihnachtsgeschenktipp.

Der Westen Leipzigs freut sich in diesem Dezember 1891 erst einmal auf ein anstehendes gesellschaftliches Ereignis, heutzutage gern Event genannt. „Der ‚sächsische Radfahrerbund‘, der sich bekanntlich über das ganze Königreich Sachsen erstreckt und in stetigem Wachstum begriffen ist, dem übrigens auch eine große Zahl Radfahrer von Leipzig angehören, veranstaltet am 28. Februar 1892 in der Alberthalle des Krystallpalastes den Kampf um die Meisterschaft von Europa im Kunstfahren auf dem hohen Zweirad und um die Meisterschaft von Deutschland auf dem niederen Zweirad. Außerdem werden Reigen und Gruppenfahrten stattfinden, und werden die besten Kräfte der Welt im Einzelkunstfahren auftreten. Das Fest verspricht alles bis jetzt Dagewesene an künstlerischen Leistungen zu übertreffen.“

Mit Sicherheit. Die Länge mancher Satzgebilde heutige Lesegewohnheiten jedoch auch.

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Im neuen Westen der Stadt kocht die Stimmung hoch, es geht um die Durchsetzung einer bis heute laufenden Durchsetzung eines (damit) Zweijahrhundertprojektes: So richtig ist der Wert eines „Elster-Saale-Kanals“ auch 1891 nicht allen beizubringen gewesen. Der Elster-Saale-Kanal-Verein hat ein Obergutachten des Oberbaudirektors Franzius in Bremen erhalten, der sich gegen den Bau ausspricht und stattdessen den Weg über einen Hafen im Norden Leipzig Richtung Wallwitzhafen vorschlägt, um von dort nach Barby und schließlich nach Hamburg zu kommen. Das Match lautet also Gohlis gegen Plagwitz-Lindenau – und es wird erbittert geführt.

Man argumentiert mit den Kosten. Laut Lindenauer Verein würden diese für die Wallwitzhafener Strecke „um mindestens 15 Mill. Mark“ teurer sein. Das Argument, die Strecke über Elster und Saale nach Hamburg sei doppelt so lang wie über Wallwitzhafen, weist man zurück. „Somit beträgt der Gesamtunterschied zwischen beiden Wasserverbindungen nur 58 km“, argumentiert der Verein, nachdem er die Entfernung in der Zeitung noch einmal genauestens dargelegt hat. Allerdings müssen die Kanalfreunde bereits einräumen, dass die Fracht 7,25 Pf. pro 100 kg mehr kosten würde, als über Wallwitzhafen. Aber: Dafür wäre der Elster-Saale-Kanal schleusenlos und die Kosten für die Wasserbeschaffung würden alles wieder aufwiegen. Und auch der Standort in Lindenau sei aufgrund „seiner natürlichen Beschaffenheit und günstigen Lage in der Nähe der Stadt und der Industrie“ eigentlich alternativlos.

„Für die großartige Industrie von Plagwitz-Lindenau und Umgegend würde die Benutzung des Kanals im Norden der Stadt ganz ausgeschlossen sein, da ein Landtransport von 1 ½ Stunden die Ersparnisse der Wasserfracht illusorisch machen würden.“ Außerdem gehöre der Stadt das Areal in Lindenau schon, das in Gohlis müsse erst gekauft werden. „In den Schlussbetrachtungen kommt die ‚Erwiderung‘ dahin, daß demnach von einer billigeren Stellung der Frachten auf der Elbe keine Rede sein kann und daß der Elster-Saale-Kanal, als große Wasserstraße ausgeführt, Leipzig zu einem Binnenhafen ersten Ranges machen wird. Möge darum die Kanalfrage bei der günstigen Stimmung der sächsischen und preußischen Staatsregierung für den Elster-Saale-Kanal nicht eine nochmalige Verschleppung erfahren.“

So ist das mit den Stimmungen, manche halten sich lange. Aber eine Verschleppung ist es immerhin nicht geworden, zumindest ist nicht bekannt, dass sinnvolle Bauten in Leipzig 125 Jahre lang verschleppt werden können.

Die Industrialisierung ist in vollem Gange in Plagwitz. Man produziert Druckamaturen für den Bau des Suezkanals in der Firma Schumann & Koeppe, Leipzig-Plagwitz. Bild von 1890. Quelle: Wikipedia / gemeinfrei
Die Industrialisierung ist in vollem Gange in Plagwitz. Man produziert Druckarmaturen für den Bau des Suezkanals in der Firma Schumann & Koeppe, Leipzig-Plagwitz. Bild von 1890. Quelle: Wikipedia / gemeinfrei

Eine kurze Meldung, die nachdenklich macht. Wie schon im Osten Leipzigs im Jahr 1886 zu konstatieren war, ist die Suizidrate in dieser Zeit sehr hoch. Freimütig berichtet die Westend-Zeitung: „Im Monat November sind hier 14 Selbstmorde vorgekommen, 9 männliche und 5 weibliche Personen.“

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Baulich verändert sich etwas in Lindenau. Die alte Häuserschaft wird im begonnenen Jahrzehnt zu weiten Teilen neuen Mietkasernen weichen. Lindenau erhält das Gesicht, was man bis heute kennt, eine wichtige Meldung findet sich in feinstem Amtsdeutsch in der Westend-Zeitung: „Da Einsprüche gegen die Pläne des Rates, betreffend Feststellung der Fluchtlinie der Kaiser Wilhelm-Straße (heutige Endersstraße) in Lindenau von der Turner- (heute Guthsmuthsstraße) bis zur Lützenerstraße und der Angerstraße von der Demmering bis zur Leipziger Straße nicht erhoben worden sind, gelten dieselben nunmehr für alle neuen Bauten und Regulierungen der Straße für rechtskräftig.“

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Der Kanalbau durchzieht die gesamte „Westend-Zeitung“. Am 2. Dezember sollte Oberbauinspektor Franzius aus Bremen selbst den Lindenauern Rede und Antwort stehen, kam aber nicht. „Der für den Abend und das Thema erwählte Referent, Herr Oberbaudirektor Franzius in Bremen, war leider durch Krankheit am Erscheinen verhindert.“ Was er wohl hatte? Drücketismus vielleicht? Franzius wird in der Folge als „erster Sachverständiger Deutschlands auf dem Gebiete des Kanalbaus“ bezeichnet.

Statt Franzius sprach Professor Dr. Hasse, Direktor des statistischen Amtes zu Leipzig. Und somit bekam er die Unwirschheit der Einheimischen zu diesem Thema zu spüren. In der längeren Debatte besonders aktiv „Die Herren Dr. Ferd. Goetz und Regierungsbaumeister Paul Goetz.“

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Schon gewusst? „Das schönste Weihnachtsgeschenk ist eine wirklich gute Nähmaschine. Dieselbe kauft man, wie vielfach anerkannt, am besten und billigsten und unter gewissenhafter fachmännischer Garantie in dem seit 16 Jahren bestehenden Nähmaschinen-Spezial-Geschäft von Carl Winkler, Mechaniker, Peterstraße 15“. Mancher hätte zum Fest wohl lieber einen Kanal versprochen bekommen. Das Mischen von Textanzeigen und wirklichen journalistischen Inhalten war, wie am Beispiel zu sehen, eine bereits damals weit verbreitete Unsitte in den kostenfreien Blättern.

Bereits erschienene Zeitreisen durch Leipzig auf L-IZ.de

Der Leipziger Osten im Jahr 1886

Der Leipziger Westen im Jahr 1886

Leipzig am Vorabend des I. Weltkrieges 1914

Einblicke in die Jüdische Geschichte Leipzigs 1880 bis 1938

Alle Zeitreisen auf einen Blick

Die Zeitreise in den Leipziger Westen (Teil 1): Ein Dezember im Jahr 1891

Die Zeitreise in den Leipziger Westen (Teil 1): Ein Dezember im Jahr 1891

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