Wer Heinrich Manns „Der Untertan“ liest, bekommt nicht nur ein Pickelhauben-Bild vom Wilhelminischen Kaiserreich. Da irrt die Hamburger Historikerin Hedwig Richter, wenn sie ausgerechnet dieses Buch verantwortlich macht dafür, dass ein falsches Bild dieser Zeit bis heute die Sicht vieler deutscher Historiker auf den Wilhelminismus durchdringt und verfälscht.

„Der an der Schullektüre von Heinrich Manns ‚Untertan‘ gereifte öffentliche Diskurs durchdringt dabei den wissenschaftlichen“, schreibt Hedwig Richter in ihrem F.A.Z.-Beitrag „Wir Untertanen“. Eine Überschrift, die doppeldeutig ist. Meint sie damit die Interpretation der Historiker, die das Deutsche Kaiserreich mit seinem Sonderweg zur direkten Startrampe in das NS-Reich machen? Oder meint sie uns Deutsche von heute?

Und wenn die Schullektüre und die damit verbundenen Interpretationen so ein Bild erzeugen, dann darf man die Art, wie „Der Untertan“ in unseren Schulen interpretiert wird, hinterfragen. Dann scheint da von Tucholskys bis heute gültiger Analyse nichts vermittelt zu werden. Dann wird das Buch so gelesen, wie „ZDF History“ Geschichte inszeniert: als Kostümschinken.

Das hat nicht mal Diederich Heßling verdient, den Tucholsky ja als einen Typus beschreibt. Einen Typus, der sich willig beherrschen ließ, wenn er nur herrschen durfte.

Sage keiner, dass es diesen Typus heute nicht mehr gibt. Er ist bereitwillig zu allem bereit, was ihm gesagt und angewiesen wird. Und er zeigt seine Macht, wenn er merkt, dass er anderen wehtun kann und klarmachen, dass er jetzt der Stärkere ist. Und dazu zählen nicht nur übergriffige Feldwebel oder Innenminister. Dazu zählen auch Bankberater, die den eigenen Kunden beibiegen, wie machtlos sie sind, wenn die Bank eine Forderung hat, dazu zählen manchmal BAMF-Mitarbeiter, Jobcenter-Mitarbeiter, Ministerialbeamte und Amtsleiter.

Und was Hedwig Richter wahrscheinlich überlesen oder seit der Schullektüre vergessen hat: Heinrich Mann zeichnet in diesem Buch eine Reihe aufmüpfiger Frauengestalten. Denn die Frauen in diesem typischen kleinen Netzig haben ein Problem, und das war um 1900 in Deutschland noch überall die Regel: Sie waren den Männern in der Familie vormundschaftlich unterstellt.

Diederich in seiner Rolle als „Ernährer der Familie“ ist der Vormund seiner beiden Schwestern und seiner Mutter – und er benimmt sich auch so – und zwar rabiat, überfordert, unberechenbar und oft genug auch schäbig. Denn er bestimmt, was bezahlt wird. Die Frauen sind wirtschaftlich von den Männern abhängig. Zumindest in Diederichs kleinbürgerlichen Kreisen.

Dass Heinrich Mann eine ganz andere Gesellschaftsschicht mit viel mehr Respekt und Verständnis schildert, hat Hedwig Richter vielleicht auch vergessen: Das sind die Arbeiter und Arbeiterinnen. Mit denen Diederich zwar immer herrschsüchtig und gefühllos umgeht. Aber tatsächlich fürchtet er sich sogar vor diesen von ihm so kläglich bezahlten Menschen, insbesondere vor seinem Maschinenmeister Napoleon Fischer. Und das sind sogar faszinierende Szenen, weil sie zeigen, wie tief die Angst des Kleinbürgertums vor der Sozialdemokratie damals war.

Und ich setze noch einen drauf, da Hedwig Richter ja so die Moderne in der Wilhelminischen Ära betont: Der aufschäumende Nationalismus und der Chauvinismus, aus dem später der Faschismus werden würde, haben ihre Wurzeln genau hier – in der Panik des Kleinbürgertums vor einer anderen, aus Diederichs Sicht anarchischen Gesellschaft, in der die armen Leute, die jetzt noch Befehlen gehorchen müssen, auf einmal dieselben Rechte haben wie sie selbst. Auch das ist heute noch da. Der Faschismus war (und da waren wir, glaube ich, auch in der Analyse schon mal weiter) von Anfang an eine Bewegung gegen die Moderne, eine anti-emanzipative Bewegung.

Sehr sauber ablesbar an der Rolle der Frau.

Und Diederich bekommt es nach dem Gerichtsprozess, in dem die Dinge für ihn scheinbar ganz wundersam eine Wendung nahmen, mit einer ganzen Reihe aufmüpfiger Frauen zu tun, die jede auf ihre Weise um ihre eigene Selbstbestimmung kämpfen. Das geht schon bei Diederichs Schwestern Magda und Emmi los, denen sehr bewusst ist, dass es bei ihrer Verheiratung immer um Geld gehen wird.

Das geht bei Guste Daimchen weiter, die nun, da scheinbar die liberale Seite in Netzig ausgespielt zu haben scheint, Diederich in seiner kleinen Fabrik besucht und austestet, wie ihre Chancen stehen. Diederich wirft sie zwar beim Besuch des Lumpenlagers in heftiger Inbrunst hinter die Lumpen. Aber so weit ist Guste mit ihm noch lange nicht. So etwas verbittet sie sich. Und der Leser sieht zu, wie eine doch sehr selbstbewusste Frau hier die Regeln setzt und sich auch gegen diesen unbeherrschten Wüterich zu halten weiß.

Es gibt in Netzig zwar keine Suffragetten-Bewegung. Aber es gibt sichtlich einige Frauen, die wissen, wie sie sich Freiräume erkämpfen können.

Wobei noch nicht so recht klar ist, was mit der schönen Frau des verurteilten Fabrikanten Lauer ist. Ist sie tatsächlich gleich nach der Verhaftung ihres Mannes ausgerechnet mit dem Untersuchungsrichter Fritzsche nach Venedig gefahren? Die Klatschmäuler in Netzig jedenfalls zerreißen sich die Mäuler.

Und wir erfahren jetzt auch, dass es nicht die Frauen sind, die in diesem Nest die größten Klatschbasen sind, sondern die Männer. Solche ach so moralisch hochstehenden Männer wie Diederich Heßling, der sich nicht zu fein ist, sogar Gerüchte über Guste Daimchen zu streuen. Nur tut er das gar nicht zufällig, sondern mit Absicht. Männer wie Diederich setzen auch Gerüchte als Machtmittel ein.

Und einen gewaltigen Hebel bekommt er ganz zufällig in die Hand. Denn bei seinen einsamen abendlichen Spazierrunden ertappt er ausgerechnet den strengen Assessor Jadassohn beim heimlichen Treffen mit Pastorstocher Käthchen Zillich. Und weil er meint, unbedingt dabei bleiben zu müssen, erlebt er selbst dieses Käthchen als selbstbewusste, lebenslustige Frau. Auf einmal lässt sie die gesellschaftliche Maske fallen und zeigt sich als ein weibliches Wesen, das das Leben genießen und ohne die ganzen verlogenen Sittsamkeitsregeln leben möchte.

Für Diederich eigentlich der Abgrund: Er sitzt dabei, säuft fleißig mit und verurteilt Käthchen in Gedanken schon mal für alle Zeiten.

Man sieht ihn in seiner ganzen verlogenen Männlichkeit – denn in Wirklichkeit fasziniert ihn dieses neue Käthchen, das er da kennenlernt. Denn bislang kannte er ja nur die brave Pastorentochter. Die Letztere hätte er in den Himmel gelobt, die andere aber frappiert ihn. Und so begegnen wir diesem verdrehten Mannsbild immer wieder.

Wenn Guste Daimchen selbstbewusst wird und ihm klarmacht, dass sie selbst entscheidet, ob er sie kriegt oder nicht, wird er zum strengen Sittenrichter und verachtet sie. Und als er im Gespräch mit seinen Schwestern merkt, dass hinter ihrem braven Verhalten genau dieselbe selbstbewusste Lust am Leben steckt, wird ihm angst und bange. Abgründe tun sich vor ihm auf.

Wir haben es die ganze Zeit mit diesem sich selbst belügenden kleinen Bürger zu tun, der nach außen prahlerisch von Sitte und Anstand schwadroniert, inwenig aber in lauter Angst vor der Freiheit und den emanzipierten Frauen lebt.

Sage einer, dass das mit 1918 abgeschlossen war. Ich denke nicht. Wir stecken in einer genauso widersprüchlichen Zeit, in der die lebenscheuenden Moralapostel die Familienpolitik bestimmen wollen und sich mit derselben Heimtücke an allem abarbeiten, was wir heute als emanzipative Freiheit erleben. Nur nennt es der siegreiche neue Siegfried nicht mehr so, da würde man ihn ja ertappen. Er nennt es „Multikulti“.

Und unsereinem geht es wie Heinrich Mann, der sich (unausgesprochen) die ganze Zeit die Frage stellt: Wie kann der Mensch so sein? Er versucht ja die ganze Zeit herauszufinden, wie sein Diederich Heßling wirklich tickt.

Ist das nur ein kleinliches Vorteilsdenken, bei dem er alle seine Beziehungen in der Gesellschaft nach dem Geld- und Nutzwert beurteilt? Stellenweise mutet das so an, so wie an dem Tag, als eine seiner Arbeiterinnen mit dem Arm in eine Maschine gerät. Wieder versucht er Napoleon Fischer zum Kumpan zu machen und mit ihm über den Preis dieses Unglücks zu feilschen, ob er denn nun den Arbeitslohn für neun oder zwölf Wochen Krankenhaus weiter ausbezahlt.

Er hält es geradezu für Heimtücke, als Fischer nur andeutet, dem Mädchen könnte Entschädigung zustehen. Und er wird nicht einmal verständnisvoller, als Fischer ihm sagt, dass das Mädchen erst 14 ist und den Lebensunterhalt für die Familie verdienen muss. Mehr als „So sieht sie aber gar nicht aus“ zu sagen, bringt er nicht fertig.

Da weiß man dann wieder, warum man dieses Buch immer mit riesigen Widerständen gelesen hat. Denn dieser Typus, wie ihn Tucholsky nennt, ist abgrundtief schäbig. Man möchte eigentlich nicht immer dabei sein, wenn er wieder einmal einen schwächeren Menschen grundlos schikaniert, egal, ob es seine Schwestern, seine Mutter oder seine Arbeiter sind.

Möglich, dass auch Heinrich Mann hier gegen innere Widerstände anarbeitete. Jedenfalls spart er nichts aus, zeigt auf diesen Seiten, wie verständnislos Diederich mit den Frauen umgeht. Mit allen. Und man ahnt auch so ein bisschen, warum diese Kleinbürger so sehr am alten Familienmodell festgehalten haben und immer noch festhalten.

Denn es funktioniert nicht über die Liebe. Es funktioniert auch nicht mit selbstbewussten oder gar selbstständigen Frauen. Die halten solche Zustände nicht aus. Es funktioniert nur, wenn der „deutsche Mann“ wieder das unangefochtene Oberhaupt der „deutschen Familie“ ist und vor allem über das Geld verfügt und bestimmt. Wenn das Geld bestimmt, welche Heiraten zur gesellschaftlichen Norm werden, haben Liebe, Emanzipation und Selbstbestimmung dabei nichts zu suchen.

Und solange so ein Familienbild auch die Politik bestimmt, leben wir in einem Land der Untertanen und lauter Diederiche erzählen uns, was moralisch zu sein hat und was nicht. Das versteckt sich nämlich auch hinter dem ganzen Geschwätz von „unseren Werten“. Da kommt der ganze kleingeistige Moralismus wieder zur Sprache und geriert sich, als hätte das tagblinde Huhn ein Korn gefunden.

Ach so, ja: In Wirklichkeit machen diese Szenen so wütend, weil sie so genau und unverblümt sind. Das ist schon eine Kunst als Autor, seinen Helden derart nackt zu zeigen und dennoch nicht zu verwerfen. Wir sind ja erst in der Hälfte es Buches. Und noch wissen wir nicht, was Diederichs Gerüchtestreuen jetzt für Dramen anrichtet.

Das „Untertan-Projekt“.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar