Über Nacht hat es reingeregnet in die Ausstellungsräume. Schlimm ist das nicht, ganz im Gegenteil: In den Pfützen spiegeln sich die bunten Farben der Kunstwerke und durch die Löcher im Dach sieht man den Himmel. Für drei Wochenenden ist das ehemalige Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) Engelsdorf zur Ausstellung geworden. Eingenistet haben sich knapp 80 Künstler*innen, Solisten und Duos im Rahmen der Industriebrachenumgestaltung (ibug), dem „Festival für urbane Kunst“.

Zwei Wochen hatten die Künstler*innen Zeit und Raum für ihre Kunst. Dabei verarbeiteten sie auf knapp 10.000 Quadratmetern rund 300 Spraycans und 1.000 Liter Farbe sowie jede Menge Gips, Beton und andere Materialien. Neben elf Leipziger*innen waren Künstler*innen und Kollektive aus ganz Deutschland vor Ort, zum Beispiel auch das bekannte Adbusting-Kollektiv Dies Irae, und aus anderen Ländern, wie Portugal, Großbritannien, Georgien und Japan. Die weiteste Anreise hatte GABS aus Brasilien.

Bekannt ist GABS für großformatige japanische Motive auf Leinwänden, Verkehrszeichen oder Wänden. Doch nicht nur auf die großen Kunstwerke galt es, bei der ibug zu achten. Die Fülle an Details machte die Ausstellung so spannend wie besonders.

Entstehungsprozess zeichnet die Ausstellung aus

Ob es ein kleiner rosafarbener Pilz ist, der aus der Wand ragt oder eine mit Gras überwachsene Malerrolle neben einem künstlichen Baum. Auch für die Kunstwerke des Leipziger „Ministreetart“-Künstlers André Schmidt brauchte es ein gutes Auge. Überall in der Ausstellung waren seine Miniaturräume versteckt. Teils eingebaut, um ein Loch in der Wand zu füllen. Oder ein Reihenhaus, das sich mit Spiegeln in eine unendliche Siedlung ausdehnt.

Was die ibug so einzigartig macht, ist ihr Entstehungsprozess. 2006 suchte der Künstler Tasso in Meerane nach neuen Entfaltungsmöglichkeiten, heißt es auf der Webseite der Ausstellung. So kam es zur ersten Vereinnahmung von Lost Places, verlassenen Orten wie zum Beispiel Fabrikhalle. Mit der Zeit entwickelte sich daraus ein Festival mit Künstler*innen aus aller Welt.

In Verbindung mit der Architektur der Orte können die verschiedenen Künstler*innen ihre Kreativität mit unterschiedlichsten Materialien und Genres ausleben. Das Verlassene soll wortwörtlich „zu neuem Leben“ erweckt werden. Dabei bot die ibug auch in Leipzig ein Ort für alte und junge Besucher*innen. Eine Hürde bleibt natürlich nach wie vor ein Ticketpreis wie auch in jeder anderen Kunstausstellung, den sich nicht jeder leisten kann oder will.

Dabei regnet es bei der ibug nicht nur durchs Dach. Die Kunstwerke können angefasst werden. Auch für Kinder ist die Ausstellung etwas, weil es viel zu entdecken und keinen Zwang gibt, leise und gesittet durch die Gegend zu laufen. Urheberschaft und Kunst an sich fangen dabei an, sich als starre Kategorien aufzulösen: Wenn der Name der Künstler*in nicht dasteht oder kaum zu erkennen ist oder wenn man sich als Besucher*in irgendwann selbst nicht mehr sicher ist: Gehört das noch dazu? Oder ist das schon vorher dagewesen?

Das RAW Engelsdorf

1903 entstand das Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) als Folge des Neubaus des Hauptbahnhofs und den damit verbundenen Auslagerungen von Nebenanlagen. Unter verschiedenen Staatsunternehmen wurden im RAW Züge instandgesetzt.

Durch die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 und die Bahnreform 1994 verlor das Werk an Bedeutung. Heute ist nur noch ein kleiner Teil in der Hand eines privaten Eisenbahnunternehmens. Der Großteil der Fläche liegt brach oder ist fremdvermietet.

Politischer Anspruch

Cover Leipziger Zeitung Nr. 116, VÖ 31.08.2023. Foto LZ

Als explizit politisch präsentierten sich viele der Werke. Sie thematisieren die Klimakrise und Artenvielfalt, Feminismus und soziale Ungerechtigkeiten. So wurde zum Beispiel ein Raum, eingerichtet wie ein Bad, überwachsen mit Gras. „Save Water – Plant Trees“ steht am Eingang.

Oder die feministische Kunst eine*r Künstler*in mit Signatur CHERTOИ. Ein großformatiges Porträt von Clara Zetkin und mit dem Titel „Revolution ein weibliches Wort“. Progressiv, tolerant und weltoffen präsentiert sich die Ausstellung.

Getragen wird die ibug zu einem großen Teil von einem Team aus ehrenamtlichen Helfer*innen. Damit will das Festival auf seine Ursprünge hinweisen. Wie das Event finanziell aufgestellt ist, ist der Redaktion nicht bekannt.

Festival an drei Wochenenden – und dann?

An den Wochenenden zwischen dem 18. August zum 3. September war die ibug für das Publikum geöffnet. Begleitet wurde die Ausstellung von einem Festival. Neben Führungen durch die Ausstellung gab es Vorträge zur Geschichte des RAW, Konzerte und die Maljam, einen Kreativwettkampf.

An einem Tag ist der Besuch kaum zu schaffen. Nicht wegen der fehlenden Zeit, sondern weil der Kopf vor Farben, Konzepten, Kunstwerken und Details überquillt – aber in einem guten Sinn. Anders als in vielen Ausstellungen sorgen frische Luft, Tageslicht und die Pflanzen, die durch die Fenster und Löcher in den Wänden hereinwachsen für ein angenehmes Klima.

Alle Werke wurden digitalisiert und sind damit verewigt. Ein digitaler Rundgang ist auf der der Webseite der ibug zu finden. Dass die Areale über kurz oder lang wieder abgerissen werden, gehört zum Konzept der Urban Art oder Streetart und so eben der ibug dazu.

„Streetart im ganz großen Format: Ein Besuch auf der ibug im RAW Engelsdorf“ erschien erstmals in der August-Ausgabe, ePaper LZ 116, der LEIPZIGER ZEITUNG.

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