Die DDR-Literatur wird innerhalb der deutschen Literatur immer eine besondere Insel besetzen, nicht nur wegen ihrer Themen, sondern auch wegen der Bedingungen, unter denen sie zustande kam. Vormundschaftliche, könnte man sagen. Da wurde nicht nur einfach wie einst im alten Preußen zensiert, da wurde auch väterlichst mitgeholfen, damit die betreuten Autoren die schlingernden Linien des Erlaubten ja nicht übertraten. Jetzt hat Siegfried Lokatis zusammen mit Martin Hochrein die Beiträge der Tagung „Die Argusaugen der Zensur. Eine Geheimgeschichte der DDR-Literatur“ veröffentlicht.

Die Tagung fand 2019 in Leipzig statt und war so etwas wie der Höhepunkt der Forschung zur Zensur in der DDR am Lehrstuhl für Buchwissenschaften der Uni Leipzig.Und damit freilich auch Abschluss der Zensurstudien zur DDR von Prof. Siegfried Lokatis.

Am Mittwoch, 13. Oktober, um 18:30 Uhr wird der dicke Tagungsband im Haus des Buches  vorgestellt: „Die Argusaugen der Zensur. Begutachtungspraxis im Leseland DDR“ (Hauswedell).

„Es war mir wichtig, das Thema der Zensurgutachten zu erforschen, solange noch Lektoren und Zensoren dabei sind, die die Spielregeln kennen, wie mit dieser vertrackten Textsorge umzugehen ist. Von solchen Gutachten liegen ja noch viele hunderttausend unerforscht in den Archiven der Zensurbehörde und der DDR-Verlagsarchive“, geht Siegfried Lokatis auf das Problem ein, dass dieses Thema der Literaturgeschichte praktisch noch nicht aufgearbeitet ist und die Forschung noch am Anfang steht.

Doch selbst die Autor/-innen, die es noch am eigenen Werk erlebt haben, sind mittlerweile älter geworden, während die Jüngeren nicht einmal eine Vorstellung davon haben, wie das ist, wenn ein Staat derart stark in ihre Arbeiten von Autoren eingreift und jeden Text darauf abklopft, ob er der aktuellen Parteilinie nun gerade genehm ist oder auch mal „was Kritischeres“ erscheinen darf.

Aber wer begutachtete die Texte wirklich, bevor sie erschienen? Und wie gingen die Verlage damit um? Und was machte das mit den Autor/-innen, deren Texte dann oft jahrelang auf Eis lagen, weil sich irgendjemand „weiter oben“ geärgert hatte oder meinte, so viel Ehrlichkeit dem erzogenen DDR-Leser nicht zumuten zu können? Was ja – wie Simone Barck und Siegfried Lokatis in „Zensurspiele“ sehr anekdotenreich beschrieben – zu lauter Verrenkungen und Purzelbäumen führte.

Da erschienen dann die deftigsten Titel oft nur im Westen. Oder die Gerüchteküche fing an zu brodeln, sodass im Grunde die ganze Leserepublik schon wusste, warum ein Buchtitel jahrelang zurückgehalten wurde. Tatsächlich erzeugte die geistige Bevormundung der Schriftsteller/-innen genau jene Peinlichkeiten, die die Zensoren eigentlich verhindern wollten.

Einige Aspekte dieser Zensurpraxis hat ja schon der Band „Verantwortliche Redaktion“ versammelt. Auch er zeigte schon, wie die Regulation des Geistigen dazu führte, dass sich Verleger, Lektoren und Autoren Ausweichstrategien ausdachten, wie oft regelrecht gekuhhandelt wurde, wenn einem mutigeren Verleger das Gezerre mit dem Zensurministerium zu viel wurde.

Im neuen Band liefert Matthias Braun auch eine Neubewertung zur Rolle der Stasi im Literaturbetrieb, kündigt Lokatis schon mal an und macht neugierig auf den 13. Oktober.

Natürlich wird niemand die Kraft und die Zeit haben, die vielen hunderttausend Gutachten zu lesen, die damals geschrieben wurden. Aber gerade bei besonders spannenden Titeln dürfte darin so manches zu finden sein, was sichtbar macht, wie ein obrigkeitlicher Staat funktioniert, wie er das Denken der Autoren, der Gutachter, der Genehmigungsbehörde veränderte, man könnte auch sagen: korrumpierte.

Was ja nach der „Wende“ gerade ostdeutschen Autor/-innen immer wieder zum Vorwurf gemacht wurde, gerade von wirkmächtigen Autoren und Kritikern aus dem Westen. Worüber ja jüngst erst Michael Hametner sehr emotional geschrieben hat. Also hätte es vor 1989 in Ost wie West die gleichen Arbeitsbedingungen gegeben und wäre Zensur nur so eine Art plakativer Begriff gewesen, weil ja jeder auch „abhauen“ konnte, wenn er es im überwachten Ländchen nicht aushielt.

Aber wer hätte dann noch für die Leser/-innen im Osten geschrieben, für die selbst die zerzausten und zensierten Titel immer noch mehr kritische Lebenswirklichkeit boten als alles, was die Zeitungen des Landes täglich verkündeten? Nur so als Frage.

Denn in einem Land ohne Zensur muss sich kein Autor die Frage stellen, für wen er schreibt und ob Bücher vielleicht so etwas wie eine Überlebensration für die Leser/-innen sein könnten. Da entscheiden schlicht Markt, Werbung und Nachfrage über den Erfolg eines Buches und die Einkünfte der Autoren.

Und dass die Genehmigungspraxis in der DDR auch viele Autoren zermürbte und heimatlos machte, das gehört auch hierher. Genauso wie die Tatsache, dass einige Autoren sich dann als Gutachter regelrecht andienten und ihre kleine Macht dazu nutzten, missliebige Kolleg/-innen regelrecht zu zerfetzen. Auch diese Abgründe werden sichtbar.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. Über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar