Nach 40 Jahren steht in Leipzig wieder eine Neuproduktion des Puccini-Spätwerks „Turandot“ auf dem Spielplan. Regisseur Balácz Kovalik verlagert die Geschichte um die blutrünstige chinesische Prinzessin in einen futuristischen Phantasiestaat, um sich mit der Funktion des Einzelnen in einer totalitären Gesellschaft auseinanderzusetzen.

Im Mittelpunkt steht der Chor. Die Sängerinnen und Sänger fungieren in „Turandot“ als Stimme des Volkes, die die Haltung der namenlosen Masse zu Gehör bringen. Kovalik durfte in Leipzig aus dem Vollen schöpfen. Neben dem zahlenmäßig starken Opernchor stehen der Zusatzchor und der Opernkinderchor auf der Bühne. Chordirektor Alessandro Zuppardo und Kinderchorchefin Sophie Bauer haben die Ensembles hervorragend auf die anspruchsvollen Aufgaben vorbereitet, so dass ihnen das Publikum nach zweieinhalb Stunden völlig zu Recht besonders kräftig applaudiert.

Die Chorsänger erscheinen in Kovaliks Inszenierung als ein Kollektiv, das dem Kaiser (Martin Petzold) frenetisch unter dem Eindruck seiner bewaffneten Soldaten zujubelt, doch in allererster Linie den Zorn seiner jähzornigen Tochter Turandot (Jennifer Wilson) fürchtet.

Die sechseckigen Waben, die das Bühnenbild einrahmen, ähneln auffällig der Struktur eines Bienennestes. Konsequenterweise ist bei Kovalik der Kaiser zwar noch Staatsoberhaupt, dessen riesige Goldstatue von seinen Untertanen verehrt wird. Die Herrin im Königshaus ist allerdings dessen Tochter Turandot, welcher der Kaiser einen Eid geschworen hat. Wer um ihre Hand anhält, muss zunächst drei Rätsel lösen. Versagt der Prüfling, wird er exekutiert. Zwar steht es der Prinzessin frei, einen Verurteilten zu begnadigen. Bislang hat sie von diesem Recht jedoch keinen Gebrauch gemacht.

Das Publikum wird Zeuge, wie ein Prinz aus Persien (Hans Müller), gerade einmal zehn Jahre alt, durch die aus Brücken und Rampen bestehende Bühnenlandschaft mutig zu seiner Hinrichtung schreitet. Das Volk bettelt um Gnade. Turandot bleibt eiskalt. Umso überraschender, dass mit dem Nobody Calaf (Leonardo Caimi) gleich der nächste Bewerber in den Startlöchern steht. Zur Überraschung aller gelingt es dem Unbekannten, die drei Fragen der Turandot korrekt zu beantworten.

Um die Prinzessin aus ihrer misslichen Situation zu befreien, offeriert er ihr einen Deal. Sollte sie bis zum nächsten Morgen seinen Namen in Erfahrung bringen, dürfe sie ihn dennoch töten. Die Psychopathin lässt Calafs Vater Timur (Randall Jakobsh) und Sklavin Liu (Olena Tokar) herbeibringen, um sie zu verhören…

Balácz Kovalik befreit die Oper von ihrer fernöstlichen Exotik, um sich dem Kern der Geschichte zu nähern. Wie lebt der Mensch in einem totalitären Regime, in dem das Kollektiv mehr zählt als das Individuum? Ein moderner Zugriff, der beim Leipziger Publikum ankommt. Dirigent Matthias Foremny bereitet der epische Abend keinerlei Schwierigkeiten. Mühelos geleitet der ständige Gastdirigent Solisten, Chor und Gewandhausorchester durch die anspruchsvolle Partitur.

Jennifer Wilson, die die Turandot schon an so namhaften Häusern wie der New Yorker MET gegeben hat, singt die Titelfigur analog zu ihrer Funktion in der Inszenierung mit eisig kalten Untertönen. Leonardo Caimi gefällt als Calaf, bleibt jedoch hinter Wilson zurück. Sein inbrünstiges „Nessum Dorma“ erhält völlig zu Recht Szenenapplaus. Ensemblemitglied Olena Tokar stiehlt den beiden Gästen mit ihrer betörend gesungenen Liu jedoch die Show.

Oper Leipzig
Turandot
Giacomo Puccini

Nächste Termine: 05.11. (19 Uhr), 27.11. (18 Uhr), 23.12. (19 Uhr)

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