Am Ende ging er aus sich heraus: Alles andere als ein Freispruch wäre für ihn ein Skandal, sagte der Leipziger Stadtrat und ehemalige NPD-Kader Enrico Böhm in seinem Schlusswort. Das Gericht zeigte sich davon unbeeindruckt und verurteilte ihn wegen Beleidigung einer Journalistin im Verlauf der Legida-Demonstration am 16. Februar 2015.

Laut Anklage hatte der 35-Jährige Böhm eine Journalistin am Rande einer Legida-Demonstration am 16. Februar 2015 unter anderem als „Fotze“ tituliert. Es sei eine regelrechte Salve an Verbalattacken gefallen, erinnerte sich die Belastungszeugin Jennifer S. (37) zum ersten Verhandlungstermin am 15. November. Demnach sei sie am fraglichen Abend mit einem Fotografen unterwegs gewesen, als sie auf dem Opernplatz von mehreren Teilnehmern des Legida-Aufzugs wegen der Bildaufnahmen massiv bedrängt worden seien. Enrico Böhm habe sie wegen seiner öffentlichen Bekanntheit zweifelsfrei identifiziert.

Der Angeklagte selbst hatte die Vorwürfe in einer kurzen Einlassung dagegen bestritten, zum Zeitpunkt des Geschehens habe er sich in Bayern aufgehalten. Zeugen dafür konnte oder wollte Böhm allerdings nicht benennen.

Der Fotograf, der am Montag, 18.12., im Zeugenstand aussagte, bestätigte die Version seiner Kollegin im Wesentlichen. „Mir wurde zuerst in die Kamera gegriffen“, erinnerte sich der freie Journalist Christoph H. (29). Er habe in der bedrohlichen Situation die Hilfe von Polizeibeamten gesucht – die aber hätten signalisiert, keinen umfassenden Schutz bieten zu können. Eine allgemeine Haltung der Einsatzkräfte, welche sich erst nach einer massiven Öffentlichkeits-Kampagne seites der L-IZ.de im Jahr 2016 zu ändern begann.

Am 16.02.2015 indes diskutierte Jennifer S. noch immer erregt mit den Legida-Demonstranten, als die beleidigenden Worte Böhms in ihre Richtung gefallen seien. Auch er habe ihn wegen seiner öffentlichen Funktion sicher erkannt, betonte der Zeuge. Ein „höherrangiger Polizist“ griff nach seiner Aussage schließlich schlichtend ein und wies die Legida-Teilnehmer auf das Recht der Presse hin, eine Versammlung zu fotografieren. Allerdings mahnte er die Journalisten auch, Abstand einzuhalten.

Auf der Vielzahl der Fotos von jenem Demo-Abend konnte Enrico Böhm nach Einschätzung von Gericht und Staatsanwaltschaft nirgendwo absolut zweifelsfrei erkannt werden, doch eine hohe Wahrscheinlichkeit gäbe es. Gleichwohl hob der Anklagevertreter die Stimmigkeit und Präzision beider Zeugenaussagen hervor. Zudem sei es fragwürdig, warum Jennifer S. das Risiko einer Falschbeschuldigung eingehen sollte, resümierte Staatsanwalt Christoph Kruczynski und forderte 80 Tagessätze zu je 25 Euro Geldstrafe.

Böhms Anwalt Arndt Hohnstädter sah das anders, listete Widersprüche bei der Schilderung des Geschehens durch die Zeugen auf. So habe Christoph H. die Begegnung mit der Polizei anders als seine Kollegin dargestellt. Zudem müsse der Kontext Berücksichtigung finden, sagte Hohnstädter und spielte auf einen Tweet von Jennifer S. an, die den Legida-Aufzug im Internet mit „Atzen, Nazis und Alte“ kommentiert haben soll. Der Strafverteidiger hielt den Tatnachweis für nicht geführt, für den Fall einer Verurteilung wollte er auf eine geringere Geldstrafe von 50 bis 60 Tagessätzen hinaus.

Die Vorsitzende Richterin Julia Weidelhofer sprach den Angeklagten am Ende schuldig und verhängte 60 Tagessätze zu je 20 Euro Geldstrafe. Wegen einer weiteren Verurteilung vom Dezember 2015 wurde die Sanktion zu einer Gesamtstrafe von sieben Monaten Haft auf Bewährung zusammengefasst. Besteht das Urteil, muss Böhm innerhalb der zweijährigen Bewährungszeit jeden Wohnsitzwechsel melden und darf sich keine weitere Straftaten zuschulden kommen lassen.

Videoaufnahmen vom 16. Februar 2015 L-IZ.de (Teil 1 von 3, Augustusplatz)

In seinem letzten Wort hatte der dreifache Vater erneut seine Unschuld beteuert. Beide Zeugen hätten unwahre Angaben gemacht, Christoph H. etwa bei Fragen zu seiner journalistischen Tätigkeit gelogen. Sehr wohl gäbe es Gründe, ihn fälschlicherweise anzuzeigen, empörte sich Böhm. Als ihn die Richterin auf sein Berufungsrecht hinwies, nickte er heftig. Ein Wiedersehen in der nächsten Instanz vor dem Landgericht dürfte damit wahrscheinlich sein.

Der unter anderem wegen Körperverletzung und Umgangs mit gefährlichen Stoffen vorbestrafte Stadtrat war 2014 als NPD-Mitglied ins Leipziger Lokalparlament gewählt worden. Wegen „parteischädigenden Verhaltens“ hatte die sächsische NPD ihren intern umstrittenen Funktionär 2016 allerdings ausgeschlossen. Seither agiert Böhm als fraktionsloses Mitglied der kommunalen Volksvertretung und zudem laut Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen im Netz unter dem Namen “Wir für Leipzig”.

Das Landesamt über die  Organisation im Kapitel Rechtsextremismus in Sachsen: „Hinter dieser Gruppierung, die erstmalig bei einer Veranstaltung am 4. April 2016 in Leipzig auftrat, steht der ehemalige NPD-Kreisverbandsvorsitzende Enrico BÖHM. Er hatte sich im April 2016 nach bereits länger anhaltenden Konflikten mit dem NPD Landesvorstand überworfen. In der Folge traten aktive Mitglieder dieser NPD-Struktur im Großraum Leipzig aus der Partei aus, und BÖHM reorganisierte sie in Wir für Leipzig.“ (Quelle: Verfassungsschutzbericht 2016, Seite 102)

Beleidigungsvorwurf: Ex-NPD-Stadtrat Enrico Böhm wieder vor Gericht

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