Unlängst wurde ein weiteres großes Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Bildung krimineller Vereinigungen (§ 129 StGB) gegen Fans der BSG Chemie Leipzig trotz breiter Überwachung ergebnislos eingestellt. Das Fiasko folgt dem der 2014 gescheiterten Ermittlungen um eine „Antifa-Sportgruppe“ und der Abhöraffäre von 2016 im Umfeld der BSG Chemie Leipzig e.V. Diesmal geriet wohl auch der Verein Eintracht Frankfurt ins Visier.

Erneut waren in einer umfassenden Abhöraktion in den Jahren 2015 und 2016 Freunde, Bekannte und Kollegen der Beschuldigten sowie mindestens ein Journalist und drei Anwälte betroffen.

„Nach Pressemitteilungen sei in diesem Fall neben der BSG Chemie Leipzig auch der hessische Verein Eintracht Frankfurt in das Visier sächsischer Ermittler geraten. Es seien auf Veranlassung der Generalstaatsanwaltschaft Dresden 921 Telefonanschlüsse zwischen August 2015 und Mai 2016 abgehört worden. Von 484 Telefonierenden seien auch Identitäten ermittelt und aktenkundig geworden. 371 der Abgehörten seien nachweislich nur Drittbetroffene gewesen“, stellt Rico Gebhardt, der Fraktionsvorsitzende der Linken im Landtag, fest.

„Wie bereits beim ersten Verfahren seien neben Freunden, Bekannten und Arbeitskollegen der Beschuldigten auch mindestens ein Journalist und drei Rechtsanwälte betroffen. Das Ermittlungsverfahren sei gegen alle 24 Beschuldigten mit Verfügung vom 7. Juni 2018 nach § 170 Absatz 2 der Strafprozessordnung eingestellt worden. 355 Briefe mit Informationen zur Überwachung seien bisher verschickt worden. Die Betroffenen erfuhren in der Regel erst durch die Schreiben von den Maßnahmen.“

Ein Ausmaß, das sich augenscheinlich nur auf den Verdacht stützte, dass die Ultra-Szene der BSG Chemie auf ihren Sitzungen Staatsumstürzlerisches planen könnte. Ein Verdacht, der sich schon in der ersten Überwachungsrunde nicht bestätigte, deren Verfahren 2016 eingestellt werden musste. Aber statt einfach aufzuhören, erweiterten die Ermittler den Kreis der Verdächtigten. Und wie weit die dazugehörende Kommunikationsüberwachung ging, erfuhren in den letzten Tagen erst hunderte Mit-Betroffene, deren Gespräche ebenfalls mitgehört wurden, per Brief.

Die Linksfraktion fordert die Staatsregierung jetzt auf, umfassend über die Ermittlungen zu berichten. Das Ausmaß und die Eingriffstiefe der polizeilichen und strafprozessualen Maßnahmen sowie der Überwachung gegen unbeteiligte Dritte (u. a. Vorstandsmitglieder und Spieler, Beschäftigte von Fanprojekten, Fansozialarbeiter, Fanvertreter und Berufsgeheimnisträger) sollen damit offengelegt werden.

Basierend auf der Aufarbeitung der Strukturermittlungen soll ausgeschlossen werden, dass sich „derartige schwerwiegende Eingriffe in die Grundrechte einer unüberschaubaren Personenzahl“ wiederholen. Der Sächsische Datenschutzbeauftragte wird gleichzeitig ersucht, dem Landtag dazu einen besonderen Datenschutzbericht zu erstatten.

„Der ‚Schnüffelparagraf‘ § 129 StGB ermächtigt die Behörden zu weitreichender Überwachung – auch wenn die Indizienbasis, wie hier, äußerst dünn ist. Offenbar sollten vor allem Menschen und Strukturen ausspioniert werden, die einer linken Szene zugerechnet werden“, erklärt die Leipziger Landtagsabgeordnete Juliane Nagel.

„Getroffen hat es Teile der Fanszene eines Fußballvereins. Das ist skandalös, denn die Überwachungsmaßnahmen greifen nicht nur erheblich in die Privatsphäre ein, sondern geben auch Einblick in das organisierte Fan-Leben. Im Rechtsstaat dürfen Unbescholtene aber nicht kriminalisiert werden, schon gar nicht aus politischen Motiven. Wir wollen Aufklärung. Staatsregierung und Justiz müssen die Ermittlungsbehörden dazu bringen, rechtsstaatliche Grundsätze einzuhalten.“

Beide Verfahren erzählen von einem zumindest seltsamen Verständnis von Angemessenheit.

„Sächsische Ermittlungsbehörden greifen offenbar wiederholt und unter Duldung der CDU-geführten Regierung unverhältnismäßig stark in Grundrechte ein. Die vielen Ermittlungsverfahren, für die zumindest ein Anfangsverdacht gegeben sein müsste, mussten eingestellt werden, weil keine Beweisbasis für eine Klageerhebung vorhanden ist“, zieht Enrico Stange, Sprecher für Innenpolitik der Linksfraktion, seine Summe aus den beiden Vorgängen.

„Diese Diskrepanz wollen wir aufklären. Nicht jeder vorgebliche Zweck darf die Mittel heiligen, das bedroht die Rechtsstaatlichkeit. Wir werden weiter Widerstand dagegen leisten, dass die Grundrechte zersetzt werden. Sie dienen schließlich dem Schutz gegen staatliche Willkür und Selbstermächtigung.“

Und Rico Gebhardt betont in seiner Anfrage dann noch stärker, dass es hier um fundamentale Fragen des Rechtsstaats geht. Denn wenn solchen Verfahren kein wirklich begründeter Anfangsverdacht zugrunde liegt, verbieten sie sich eigentlich von selbst.

Gebhardt: „Nach Auffassung der einreichenden Fraktion Die Linke steht der Landtag angesichts des Umfangs, der Intensität und der Reichweite der bislang bekannt gewordenen Eingriffe in Rechte von Betroffenen in der Pflicht, die Vorgänge rückhaltlos aufzuklären und von der Staatsregierung die erforderlichen Konsequenzen einzufordern, damit derartige unverhältnismäßige, massenhafte Überwachungsmaßnahmen, insbesondere auch gegenüber unbeteiligten Dritten, für die Zukunft ausgeschlossen werden.“

Juliane Nagel will jetzt wissen, wie weit die Überwachungsmaßnahmen gingen + Video

Juliane Nagel will jetzt wissen, wie weit die Überwachungsmaßnahmen gingen + Video

 

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