Was da am Donnerstag, 20. Oktober, durch die Medien ging, war eine ziemlich verspätete kalte Dusche für die Stadt Leipzig: Der Bundesgerichtshof hatte drei Müttern aus Leipzig Recht gegeben in ihrer Klage für eine finanzielle Entschädigung wegen fehlender Kita-Plätze. Seit 2013 besteht der Rechtsanspruch auch für Kinder unter 3 Jahre. Dass es Leipzig erwischte, war natürlich kein Zufall.

2013 gärte das Problem nicht ausreichender Kita-Plätze schon seit fünf Jahren vor sich hin. Die Stadt hatte zwar ein entsprechendes Programm zur Schaffung neuer Betreuungsplätze aufgelegt. Aber es war nicht ausreichend. Schon gar nicht für die noch viel stärker steigenden Bevölkerungszahlen, die Leipzig seitdem verzeichnet. Es war, als wäre die Wahrnehmung in Leipzigs Stadtverwaltung einfach zweigeteilt: Die eine Hälfte freute sich bärisch über wachsende Beschäftigtenzahlen, kam aber nicht mal auf den Gedanken, dass darunter tausende junger Eltern waren, die jetzt dringend Betreuungsplätze für ihre Kinder suchten, um so schnell wie möglich wieder arbeiten zu können.

Und die andere Hälfte freute sich bärisch über steigende Kinderzahlen, ohne die Eltern dabei zu sehen, die wieder arbeiten wollten.

Und noch fataler war, dass reihenweise Kitas „geplant“ waren, die über die Jahre einfach nicht gebaut wurden. Es dauerte tatsächlich fünf Jahre, bis Leipzigs Stadtspitze begriff, dass der Stuhl unter ihr brannte. Denn der Erfolg der drei Mütter in Karlsruhe ist ja nur die Spitze des Eisbergs. Hunderte junger Frauen mussten in Leipzig über Monate auf mögliche Einkommen verzichten, weil sie keinen Betreuungsplatz für ihr Kind bekamen und immer nur vertröstet wurden.

Pech für Leipzig: Der Bund hatte zwar das gesetzliche Anrecht für einen Betreuungssplatz verbrieft, aber weder Bund noch Land stiegen mit den nötigen Fördersummen in das Kita-Bauprogramm ein.

Insofern ist das Urteil zwar ein „Meilenstein“, wie es der Vorsitzende der Leipziger FDP Marcus Viefeld bezeichnet – aber auch ein weiteres Problem, das Leipzig hat. Denn im Sommer musste Sozialbürgermeister Thomas Fabian wieder eingestehen, dass trotz einer massiven Bautätigkeit die Kapazitäten noch auf Jahre knapp sein werden. Gleichzeitig fragten ihn diverse Stadträte auch schon, ob er nicht viel zu viele Kitas baue, die dann irgendwann leerstünden. Sage keiner, Stadtpolitik in Leipzig sei nicht schizophren.

Fakt ist aber: Nicht nur die Geburtenzahlen sind drastisch gestiegen und werden in diesem Jahr wohl die 7.000er-Marke überschreiten. Auch die Zuwanderung von Familien mit Kindern ist in den vergangenen fünf Jahren gewachsen. Die Kinder der in Leipzig heimisch gewordenen Flüchtlinge kommen noch obendrauf. Da fragt sich nicht nur der Sozialbürgermeister, wo das ganze Geld für neue Kita-Bauten herkommen soll.

„Damit wird der Rechtsanspruch von einem Papiertiger zu einem echten Anspruch – Entschädigung inklusive“, erklärt Marcus Viefeld zum BGH-Urteil. „Dieses Weckerklingeln haben in Leipzig hoffentlich alle gehört – vom Oberbürgermeister im Neuen Rathaus bis zum Sachbearbeiter des Jugendamtes in Rathaus Wahren.“

Dabei steht nicht mal die verfügbare Zahl der Kita-Plätze im Zentrum der Kritik, sondern die Vergabepraxis. Denn wenn junge Eltern schon Druck machen, dann hängt das fast immer mit Arbeit und Erwerbseinkommen zusammen.

FDP-Stadtrat René Hobusch: „Wir haben die Vergabepraxis und die fehlenden Plätze über Jahre im Stadtrat angemahnt. Passiert ist wenig. Jetzt kann sich die Verwaltung nicht mehr hinter alte Vorrangkriterien und Priorisierungen zurückziehen. Rechtsanspruch ist Rechtsanspruch – ohne Wenn, ohne Aber und vor allem ohne Voraussetzungen.“

Kleine Einschränkung: Nach dem Urteil des BGH, das infolge der Klagen von drei Frauen aus Leipzig gefällt wurde, muss die verantwortliche Kommune aber nur dann zahlen, wenn sie den Mangel mitverschuldet hat. Die konkreten Konsequenzen für die Stadt Leipzig habe also nun das Oberlandesgericht Dresden zu klären, stellt die Kinder- und Jugendpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Juliane Nagel, fest.

„Das Urteil gibt den Eltern grundsätzlich Recht und das ist gut so. Schließlich gibt es einen gesetzlich verbrieften Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz. Den konnte und kann die Stadt Leipzig nicht erfüllen“, beschreibt sie den Stand der Dinge. „Als Linke haben wir seit Jahren den versäumten bedarfsgerechten Ausbau der Kita-Infrastruktur kritisiert. Zu niedrige Bevölkerungsprognosen, eine falsche Bedarfserfassung und mangelnde Baufortschritte führten in den vergangenen Jahren zur akuten Unterversorgung mit Kita-Plätzen. Mit dem Inkrafttreten des Rechtsanspruchs auf einen Krippenplatz zum 01.08.2013 wuchs der Druck noch weiter. Von da an konnten Eltern Plätze auch für die unter Dreijährigen einklagen. Die Konsequenzen des verschleppten Platzausbaus könnten der Stadt Leipzig nun auf die Füße fallen.“

Wie Stadtsprecher Mathias Hasberg nach dem Urteil feststellte, sind neben den drei vom BGH behandelten Klagen „aktuell eine dreistellige Zahl von Klagen von Eltern gegen die Stadt anhängig“.

Ist nur die Frage: Was kann Leipzig anderes tun als weiter zu bauen und das Tempo hochzuhalten?

„Die Fraktion Die Linke forderte erst jüngst im Rahmen der Beratungen zur Kita-Bedarfsplanung 2016/17, bei den Bemühungen um den Ausbau der Kitainfrastruktur nicht nachzulassen“, sagt Juliane Nagel. „Zugleich forderte sie die Stadt auf, bei der Bedarfserfassung nachzusteuern, denn die Instrumente dafür sind noch immer löchrig. Die Konsequenz daraus ist eine bleibende Unterversorgung. Trotz der Schaffung von an die 14.000 neuen Kitaplätzen in den letzten zehn Jahren kann dem Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz in Leipzig immer noch nicht entsprochen werden, vor allem nicht zum Wunsch-Zeitpunkt.“

Wobei zu bedenken ist, dass der ökonomische Druck für die Eltern besonders hoch ist. Noch ist die Stadt von einem so niedrigen Lohnniveau geprägt, dass gerade junge Eltern zwingend auf zwei Einkommen angewiesen sind und jede Nicht-Versorgung der Kinder in einer Betreuungseinrichtung die finanzielle Situation der ganzen Familie gefährdet. Es prallen also mehrere Nöte aufeinander – die einer Stadt, die auch aufgrund der Einkommenssituation schon überproportional viel in die Kita-Betreuung investieren muss, ein auch für vergleichbare Großstädte hohes Wachstum der Kinderzahlen und eine Erwerbslage in den meisten Familien, die keine Spielräume für Wartezeiten hat.

„Die Betreuung von Kindern in den Kitas ist nicht nur pädagogisch geboten, sondern soll Eltern auch in die Lage versetzen, Familie und Beruf zu vereinbaren“, sagt Juliane Nagel. „Diesem Anspruch muss gerade die sich als familienfreundlich bezeichnende Stadt Leipzig gerecht werden.“

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