Was passiert eigentlich mit einer Gesellschaft, in der viele Familien dauerhaft in prekären Verhältnissen leben und die verantwortlichen Politiker so tun, als sei das nicht ihr Problem? Es wird ihr Problem. Denn prekäre Familiensituationen entwickeln sich oft zu familiären Konflikten, unter denen die Kinder leiden. Dann muss die Kommune eingreifen. Und die Kosten explodieren.

Dazu meldete das Statistische Landesamt am Dienstag, 10. Januar: „Insgesamt 2.049 Millionen € wurden in Sachsen für die Kinder- und Jugendhilfe von den Kommunen und vom Land im Jahr 2015 ausgegeben. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes erhöhte sich das Ausgabevolumen im Vergleich zum Jahr 2014 um 98 Millionen € bzw. 5,0 Prozent.“

In Worten: zwei Milliarden Euro. Das ist ein riesiger Posten, in dem natürlich auch das Selbstverständliche steckt – die Finanzierung von Kindertagesstätten und Horten: „Innerhalb des Bereichs der Einrichtungen der Kinder- und  Jugendhilfe lag der Schwerpunkt der Ausgaben bei den Tageseinrichtungen für Kinder, zu denen Kinderkrippen, Kindergärten, Horte und gemischte Einrichtungen gehören. Hierfür wurden insgesamt 1.351 Millionen € ausgegeben (+26 Millionen € bzw. +2,0 Prozent). Das entspricht 66,0 Prozent der Gesamtausgaben der Kinder- und Jugendhilfe.“

Es stecken aber auch die „Hilfen zur Erziehung“ drin, über die in Leipzig zuletzt heftig diskutiert wurde. Denn sie liegen bei den Kommunen und drohen den städtischen Haushalt zum Wanken zu bringen. 315 Millionen Euro gaben die Kommunen dafür im Jahr 2015 aus, 42 Millionen mehr als 2014.

Da braut sich was zusammen.

Und augenscheinlich gibt es bei der Staatsregierung keine Strategie, wie man die Sache in Griff bekommen könnte. Dazu müsste man natürlich erst einmal wissen, wo die Gründe dafür liegen.

„Steigende Ausgaben vor allem für Hilfen zur Erziehung legen nahe, dass immer mehr Kinder und Jugendliche Hilfe brauchen. Diese Entwicklung gibt es seit 2008“, stellt dazu Kerstin Lauterbach, familienpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Landtag, fest. „Das Sächsische Kinderschutzgesetz lief 2015 aus. Im Doppelhaushalt 2017/2018 hat die CDU-SPD-Regierung die Mittel für die entsprechenden Netzwerke für Kinderschutz trotzdem enorm gekürzt.“

Aber das Thema wird ausgesessen. Handlungskonzepte fehlen. Das Sozialministerium sollte höhere Ausgaben nicht einfach hinnehmen, sondern mit wissenschaftlicher Begleitung nach Ursachen forschen, findet Lauterbach. „Bisher sperrt sich die Staatsregierung dagegen. Das musste ich erst gestern wieder zur Kenntnis nehmen, als ich an einer Sitzung der Expertenkommission teilnahm, die das System der Hilfen zur Erziehung neu strukturieren soll. Schlussfolgerungen müssen offen angesprochen werden, etwa zu den Bereichen Kinder- und Jugendpsychiatrie, Schulbegleitung oder Frühförderung! Besonderes Augenmerk verdienen drogenbelastete Familien mit kleinen Kindern. Außerdem muss wieder stärker um Pflegeeltern geworben werden, die ordentlich zu begleiten sind. Ich hoffe, dass die Probleme fraktionsübergreifend und schnell gelöst werden, auch damit die Beschäftigten in den Jugendämtern Sicherheit für den Umgang mit den Betroffenen bekommen. Das Thema taugt nicht für Parteipolitik.“

Die Kosten schlagen in den Kommunen auf. Allein in Leipzig stiegen die Kosten für „Hilfen für Erziehung“ im Jahr 2015 von 44 auf 65 Millionen Euro. Damit wurde erstmals Dresden überholt, das immerhin auch schon 55 Millionen Euro Aufwand hatte. Natürlich hängt die Kostensteigerung auch mit den steigenden Geburtenzahlen zusammen. Im Grunde braucht es ein Programm, das Familien in problematischen Situationen schon frühzeitig hilft. Meist können Ämter aber erst eingreifen, wenn die Probleme schon schwerwiegend sind.

„Die Jugendämter haben immer mehr Fälle zu bearbeiten, und es wird immer schwerer, Kinder wieder in ihre Familien zu integrieren. Außerdem gibt es insgesamt noch immer zu wenige Pflegefamilien“, stellt dazu Janina Pfau, kinder- und jugendpolitische Sprecherin der Linksfraktion, fest. „Vernachlässigung, Misshandlungen und sexuelle Gewalt schädigen die psychische und körperliche Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, die eine besondere Betreuung benötigen. Ziel staatlichen Handelns muss es sein, dass es gar nicht erst zu Vernachlässigungen und Gewalt an Kindern kommt und dass bei Gefährdung frühzeitig gehandelt wird. Wir treten dafür ein, die 1992 von Deutschland ratifizierten UN-Kinderrechtskonvention vollständig umzusetzen und die Rechte von Kindern und Jugendlichen ins Grundgesetz aufzunehmen.“

So gesehen ist die Meldung eine in Zahlen gefasste Warnung. Ignorieren darf die Staatsregierung diese Entwicklung nicht. Die Kommunen können sie nicht ignorieren – sie stehen am Pranger, wenn die Jugendämter nicht rechtzeitig eingreifen.

Aber es ist ein Problem für die ganze Gesellschaft. Denn hier wird sichtbar, wie gesellschaftliche Konflikte heranreifen, in der Regel eng verkoppelt nicht nur mit Suchtproblemen und elterlicher Überforderung, sondern auch mit manifesten finanziellen Schieflagen. Das Sparen in anderen politischen Bereichen hat seinen Preis und wird mit steigenden Kosten im Sozialbereich „bezahlt“.

Die Meldung des Statistischen Landesamtes.

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