Manchmal schreiben auch Schauspieler Quatsch. So wie Robin Detje am 19. Dezember auf „Zeit Online“. Da meinte er, den ehemaligen SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel für ein paar Äußerungen im „Spiegel“ durch den Kakao ziehen und abstrafen zu müssen. In jedem von uns steckt ein kleiner Lehrer, der ständig alles benotet. In diesem Fall meinte Detje, Gabriel habe wohl den falschen Heimatbegriff und das falsche Verhältnis zu Moderne und Freiheit: Sechs, setzen.

Es ist möglich, dass Sigmar Gabriel manche Dinge eigenwillig einordnet. Das tun andere auch. Denn wahr ist: Eine Menge hochkarätiger Leute sind ziemlich ratlos darüber, dass ausgerechnet jetzt, wo die Globalisierung augenscheinlich der Welt zu lauter Glücksgefühlen verhelfen sollte, ganze Regionen in blödsinnigen Nationalismus abdriften, Chauvinismus und Menschenfeindlichkeit wieder um sich greifen.

Es sieht ganz danach aus, dass das „Unbehagen an der Moderne“ tatsächlich Folgen hat. Vielleicht nicht unbedingt die, die der kanadische Philosoph Charles Taylor in seinem Buch mit diesem Titel beschrieb. 1995 ist es als Taschenbuch bei Suhrkamp erschienen und ich möchte fast drauf wetten, dass es neben lauter zerlesenen Suhrkamp-Bänden bei Sigmar Gabriel auch im Buchregal steht.

Immerhin benennt er ein Phänomen, das heute einer Menge Menschen richtig Angst macht, sehr genau: die gesellschaftliche Fragmentierung. Das, was viele als einen unbehaglichen kalten Wind der Neoliberalisierung empfinden (auch Gabriel), was unsere Gegenwart scheinbar so chaotisch und unübersichtlich macht. Und was die Menschen scheinbar in zwei Gruppen spaltet – die einen, die mit Begeisterung alle Freiheiten dieser neuen, entfesselten Welt aufgreifen und auf dieser Welle mitsurfen (und trotzdem unter lauter psychischen Krankheiten im Gefolge leiden), und denen, die sich scheinbar einmauern und versuchen, sich in Vorstellungen einer heileren Vergangenheit in Sicherheit zu bringen. Sie sogar regelrecht neu konstruieren.

Wikipedia fasst den Ansatz Taylors so zusammen: „In The Malaise of Modernity (1991, dt. Unbehagen an der Moderne, 1995) kritisiert Taylor die zentrale neuzeitliche Idee von der menschlichen Freiheit und dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen als ein verkürztes Menschenbild mit fatalen Konsequenzen. Es führe zu einem ‚Individualismus der Selbstverwirklichung‘ und damit zu einem Wertrelativismus und Subjektivismus, der Belange jenseits des eigenen Ich ignoriert und es unmöglich macht, moralische Streitfragen zu beantworten. Das Gegenmodell dazu entwirft Taylor in Wie viel Gemeinschaft braucht die Demokratie? (2001). Taylor fordert darin die Besinnung auf Werte wie Gemeinsinn und Solidarität. Den durch die Gemeinschaft garantierten Rechten müssen auf der Seite des Individuums eine Verpflichtung für die Gemeinschaft entsprechen.“

Alles da. Sollte man vielleicht noch mal lesen, bevor man über Sigmar Gabriel schimpft. Aber dieses Geschimpfe hatten wir ja schon: Unsere kleinen Moralapostel haben nicht mehr das Rüstzeug zu einer wirklich klugen Debatte. Sie verwechseln das mit Wrestling.

Denn der von Taylor beschriebene Widerspruch durchzieht uns alle. Kein Mensch ist tatsächlich nur das eine – entweder das von Freiheit und Selbstverwirklichung berauschte Ego oder der verdruckste Sucher nach einer hübschen warmen Gemeinschaft. So einer Kuschelgemeinschaft wie bei Pegida.

Jeder hat dieses Grundbedürfnis, sich in der Welt, in der er lebt, geborgen zu fühlen und die Dinge „im Griff zu haben“. Also nicht im Griff der Dinge zu sein, nur noch Objekt, nicht mehr Subjekt des eigenen Daseins.

Je länger ich mir das anschaue, was bei Pegida vor sich geht und was viele Menschen (nicht nur Ostsachsen) zu diesem Altherrenverein namens AfD treibt, umso mehr verstärkt sich der Eindruck, dass es hier tatsächlich um das von Taylor skizzierte Unbehagen geht. Diese Menschen fühlen sich unbehaglich in diesem Land. Sie haben sichtlich das Gefühl, dass Dinge passieren, die sie überfordern, die wie ein Sturm über sie kommen – und sie können nichts dagegen tun. Und je größer ihre Ohnmacht und Ratlosigkeit ist, umso lauter werden ihre Sprechchöre gegen Merkel, Muslime und die „Linken“.

Denn auch das ist ein Faktum: Sie assoziieren all das, was Gabriel mit Moderne, Freiheit und (Neo-)Liberalismus benennt, als links. „Linksversifft“, um dieses Wort aus dem Sprachschatz der Rechtsradikalen zu zitieren, bei denen all diese Ratlosen gelandet sind. Denn wer sich der Widersprüche der eigenen Gesellschaft nicht bewusst ist, der landet in der Regel bei allerlei Ratten- und Bauernfängern, die das Heil aus der Dose anpreisen.

Und so wie Detje über Gabriel wettert, merkt man, dass man auch im Hause „Zeit“ alles tut, die Konflikte zu ignorieren, zuzukleistern und den Oberlehrer zu spielen.

Was es nicht geben soll, darf auch keiner sagen, nicht wahr?

Aber die Wahrheit ist wohl: Dieses Unbehagen an einer entgrenzten, rasant beschleunigten und vom Selbstoptimierungswahn besessenen Welt ist da. Überall. Nicht nur in der ostsächsischen Provinz. Auch im intellektuellen Berlin, im netten Goslar und im völlig verunsicherten CSU-Land. Gerade konservative Politiker sind regelrecht ratlos, wenn es darum geht, die Herausforderungen einer radikal globalisierten Welt mit dem Wunsch nach Heimat unter einen Seppelhut zu bekommen.

Das Wort soll hier nicht grundlos stehen: Die ganze Debatte dreht sich um Heimat.

Ein Topos, den die konservativen Romantiker unter uns gern mit Trachten, Volkstänzen, Kühen und Kirchenglocken assoziieren: „christliches Abendland“. Und dann in der Steigerung der absoluten Nix-Merker unter den Hartkonservativen: „unsere Kultur“.

So falsch denkt man, wenn man nicht nachdenken will. Und dabei ist es überfällig: Gerade in einer so von Freiheit durchpusteten Welt ist jeder Mensch tatsächlich dazu verdammt, über Heimat nachzudenken.

Wikipedia bringt eigentlich auf den Punkt, was alles drinsteckt in dem, was wir so gern Heimat nennen: „Der Begriff Heimat verweist zumeist auf eine Beziehung zwischen Mensch und Raum. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird er auf den Ort angewendet, in den ein Mensch hineingeboren wird und in dem die frühesten Sozialisationserlebnisse stattfinden, die zunächst Identität, Charakter, Mentalität, Einstellungen und Weltauffassungen prägen.“

Es geht um zeitliche, soziale, wirtschaftliche, kulturelle und emotionale Dimensionen. Und unsere Selbst-Verortung darin.

Auf den ganzen Quatsch mit Utopie und dem irren Heimatbegriff der Rechtsextremen gehen wir hier gar nicht erst ein. Gerade weil der die ganze Debatte dominiert und alle glauben, die Kirche gehöre ins Dorf und ein paar kahl rasierte Nichtsnutze seien die Jungs, die „unsere Heimat beschützen“. Tun sie nicht. Die Deppen – oder Dödel, wie sie ein bekannter Kabarettist aus Bayern nennt.

Es geht um die Dimensionen, um all das, was uns als Person in der Welt verortet. Also nicht um Kleinkleckersdorf, sondern um uns selbst und unsere Fähigkeit, uns an einem bestimmten Ort heimisch zu fühlen. Heimisch fühlen heißt eben nicht, dass das der Ort der Kindheit ist. Das kann er – wenn man bescheiden und nicht lernwillig ist – auch sein. Keine Frage.

Freiheit aber bedeutet eben auch, dass wir uns den Ort und die Zutaten unseres Lebens selbst wählen können. Nicht jeden Tag neu. Das ist wieder Quatsch aus der Werbe- und Ego-Tüte.

Aber wer einmal losgegangen ist und das Nest seiner Kindheit wirklich verlassen hat, wer wirklich die Suche nach dem, was ihn (oder sie) wirklich anzieht und begeistert, auf sich genommen hat, der weiß, dass man dabei wirklich an (neue) Orte kommt, an denen man sich heimisch fühlt. In völlig neue Zustände, in denen man aber trotzdem das Gefühl hat, dass sie einen bestärken und bestätigen. Heimat ist für diese Menschen nicht mehr der Ort, wo sie sozialisiert wurden, sondern wo sie sich bestätigt fühlen. Ganz emotional. Egal, ob es die richtige Arbeitsstelle, die richtige Stadt, der richtige Freundeskreis ist.

Voraussetzung ist natürlich das, was hunderte Generationen vor uns nie mussten: das Dorf der Kindheit verlassen. Auch das geistige Dorf der Kindheit.

Das erfordert ein bisschen Wagemut, eine Portion Neugier und vor allem die (trainierte) Fähigkeit, neue Herausforderungen nicht als Überwältigung zu erleben, sondern als Bereicherung und echte Arbeitsaufgabe. Das Dilemma entsteht, wenn es permanent nur Herausforderungen gibt und sich keine stabilen Zustände herstellen lassen.

Was jeder merkt, wenn ihm eine Partnerschaft um die Ohren fliegt oder eine Lebensplanung daran scheitert, dass das eigene Unternehmen dichtgemacht wird oder die Bahnstrecke stillgelegt wird oder das Eigenheim leersteht, weil die Kinder ihre Zukunft in Paris oder Madrid gefunden haben. Da hilft dann auch alle Bereitschaft, sich mit Neuem auseinanderzusetzen, oft nicht weiter. Veränderung wird als Niederlage erlebt. Oder als Katastrophe.

Dann merkt man, dass man eigentlich so ein emotionales Grundgerüst braucht. So ein Grundgefühl, dass man die Dinge trotzdem beherrscht und das emotionale Netzwerk stark genug ist, auch Schicksalsschläge abzufangen.

Was heute überall (und gerade in der Werbung und im TV) dominiert, ist ein verkitschtes und verlogenes Bild von Heimat. So ungefähr wie die ganze dusselige „So geht sächsisch“-Inszenierung, die sich Sachsens Regierung so viel Geld hat kosten lassen. Eine Heile-Welt-Illusion in einem Land, in dem die meisten Bewohner überhaupt nicht das Gefühl haben, dass ihre Welt heil ist oder gar so verlässlich, dass sie abends beruhigt schlafen gehen können. Mit den vielzitierten Ausländern hat das nur bedingt zu tun. Die sind bestenfalls ein Symptom für das Unbehagen, das auch Sigmar Gabriel benannt hat. Ein Unbehagen, über das längst zu reden wäre.

Denn eine Welt, in der immer mehr Menschen das Gefühl haben, ihre Heimat zu verlieren, ist eine sehr gefährliche Welt – in der vor allem die Rattenfänger aus dem braunen Vorvorgestern ihren Reibach machen. Sie bieten das alte, heile Dorf mit seinen braven Schafen als Erlösung an von einer scheinbar heillos gewordenen Moderne, in der Selbstoptimierung über allem steht.

Es ist höchste Zeit, über Heimat nachzudenken. Und was der Mensch dazu braucht, sich in dieser Welt nicht verloren zu fühlen.

Die „Zeit“ hat mit diesem Detje-Kommentar das Thema völlig verfehlt. Aber vielleicht gab’s ja vorher eine etwas alkoholreiche Redaktionsweihnachtsfeier. Zeit zum Nüchternwerden, finde ich.

Die ganze Serie „Nachdenken über …“

Fast so etwas wie eine Geburtstagsausgabe – Die neue LZ Nr. 50 ist da

Über das Trotzdem-Zeitungmachen, alte Sachsen-Seligkeit, die Bedeutung des Kuschelns und die Träume der Leipziger

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar