Am 29. Juli veröffentlichte „Spektrum der Wissenschaft“ einen Beitrag des Neurobiologen und Chefredakteurs des französischen Wissenschaftsmagazins „Cerveau & Psycho“ Sébastien Bohler unter dem Titel „Bewusster leben“. Denn dass unsere Wälder vertrocknen und die Teiche leer sind, hat mit unserer Art zu leben zu tun, mit unserer Unaufmerksamkeit. Deswegen passt das Foto, das uns Paula Panzerowa vom Rosentalteich schickte, so gut.

Ob sie oder er wirklich so heißt, ist dabei eigentlich egal. Bohler spricht auch den Wahnsinn unserer sozialen Netzwerke an, in denen Oberflächlichkeit und Unaufmerksamkeit die Regel sind. Sie leben vom Lärm, dem gegenseitigen Sichüberschreien und der Blindheit für den Gegenüber. Wer nicht immerfort beleidigt, persönlich angegriffen oder gar erpresst werden will, der schafft sich dort ein Alias, legt sich eine Maske zu.

Sodass Facebook und Co. zu Tummelplätzen von Menschen in Rüstung und Maske werden. Die immerfort damit beschäftigt sind, das Gebrüll zu übertönen, aber kaum noch Nerven haben für das aufmerksame Gespräch miteinander.

Junkies des Lärms.

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Paula Panzerowa war am 5. August im Rosentalteich unterwegs und sah den Teich in seiner ganzen Traurigkeit, an der auch die Regenfälle am Wochenende nichts geändert haben. Das Erdreich ist in Leipzig bis zwei Meter in die Tiefe völlig ausgetrocknet. „Ändern kann das nur ein richtiger, langer Landregen“, sagte kürzlich Rüdiger Dittmar, der Leiter des Amtes für Stadtgrün und Gewässer.

Und dass es nun seit 2018 so wenig regnet bei uns, ist – da streiten sich nicht einmal mehr die Meteorologen – eine direkte Folge des Klimawandels. Und zwar eine, die das sächsische Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie schon vor 15 Jahren genau so modelliert hat. Alles, was wir heute erleben, war voraussehbar. Oder noch genauer: vorausberechenbar.

Wenn auch nicht auf Tag, Ort und Millimeter genau. Dazu ist das atmosphärische Klimasystem zu komplex. Aber mit der CO2-Konzentration und den gemessenen Durchschnittstemperaturen hatte man immer sehr genaue Messwerte zur Verfügung, die das globale Geschehen auf einen Wert brachten, der uns zeigte, wo wir standen. Und was wir längst hätten tun können. Das hatte spätestens die Klimakonferenz von Rio de Janeiro 1992 deutlich auf den Punkt gebracht.

Aber warum haben wir unser Verhalten dann nicht geändert? Sind wir dazu als Menschen unfähig?

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Bohler traut uns zumindest zu, dass wir auch in höherem Alter noch lernfähig sind. Und dass wir auch bewusst gegen die „Selbstläufer“ in unserem Kopf anleben können, die uns dazu bringen, Dinge immer wieder ganz mechanisch und gedankenlos zu machen.

„Die Antwort darauf findet sich tief verborgen im Inneren unseres Schädels“, schreibt Bohler in seinem Artikel. „Das Gehirn des Menschen ist darauf programmiert, einige grundlegende Ziele zu verfolgen, die seinem Überleben dienen: essen, sich fortpflanzen, Macht gewinnen, dabei möglichst wenig Energie aufwenden und so viele Informationen wie möglich über die Umwelt sammeln. Diese fünf Ziele bildeten das Leitmotiv jener Gehirne, die dem unseren bei der Evolution der Arten vorangegangen sind. Und das gilt für die ersten Tiere in den Ozeanen vor einer halben Milliarde Jahren ebenso wie heute für Unternehmer, die Tausende von Mitarbeitern führen und ihre Aktien auf dem Smartphone verwalten. Die Mechanismen, die ihre Handlungen steuern, sind simpel, robust, haben die Vergangenheit überdauert und dabei wesentliche Eigenschaften beibehalten.“

So weit, so gut, hätte der Mensch nicht noch eine Extra-Packung obendrauf bekommen. „Allerdings ist die menschliche Großhirnrinde in den vergangenen Millionen Jahren erheblich gewachsen und viel mächtiger als die eines Fisches oder Reptils. Dank hoch entwickelter Technologien, sei es für die Ernährung, den Informationsaustausch oder die Herstellung von Gütern, ist dieser Kortex heute in der Lage, dem Striatum fast alles zu bieten, was es will, manchmal ohne Aufwand. Und das Striatum zögert nicht lange; es kann sich selbst keine Grenzen setzen. Das ist in seinem Bauplan nicht angelegt“, schreibt Bohler.

„Deshalb fällt es uns schwer, uns selbst zu zügeln, wenn sich immer mehr Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung bieten: mit Lebensmitteln oder mit Konsumgütern, die sozialen Status vermitteln, mit Pornografie im Internet oder mit dem Strom immer neuer Nachrichten. Unser Verhalten ist zudem Treibstoff für die Wirtschaft, die es daher nutzt und fördert.“

Das ist die Falle, in der wir stecken.

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Das ist aber auch genau die Kraft, die den entfesselten Kapitalismus mit seiner Besessenheit vom Wachstum antreibt. Und die ihn so mächtig macht, weil er mit allem, was er tut, genau an diesen Mechanismus im Menschen appelliert – ob das tausende Facebook-Freunde sind, Big Macs, das dickste Auto, die weiteste Flugreise, immer mehr neue Klamotten oder unendliche Fernseh-Serien, die sich manche Leute in tagelangen Sessions reinziehen …

Gier und Unersättlichkeit sind die Pacemaker des Dramas, in dem wir nie genug bekommen können und dabei die ganze Erde plündern.

Bohler geht auch auf die geradezu erschreckenden Äußerungen Donald Trumps zum Klimaschutz ein, seine großmäulige Haltung, dass ihm das ganze Drama herzlich egal ist, weil es sowieso erst in 30, 40 Jahren seine schlimmsten Folgen zeitigen wird.

Aber selbst das ist menschlich, stellt Bohler fest: „Diese fatale Denkweise, die seit mehr als 40 Jahren erforscht wird, läuft auf eine einfache Überlegung hinaus: Je weiter in der Ferne ein möglicher Nutzen liegt, desto weniger Wert misst das Gehirn ihm bei. Steht eine Belohnung in Aussicht, werden die Neurone im Striatum aktiv – in Erwartung der bevorstehenden Freuden, wie unter anderem Studien von Wolfram Schultz an der britischen University of Cambridge zeigten.“

Schnelle Wunscherfüllung sorgt also auch gleich für schnelle Belohnungen im Gehirn.

Auch wenn sie nicht nachhaltig sind, was jeder weiß, der seiner Nikotin-, Alkohol- oder Zuckersucht frönt.

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Das Gefühl neuerlicher Leere und inneren Gereiztseins stellt sich sehr bald wieder ein. So eine Art Bedürfnisbefriedigung macht uns zu Drogenabhängigen – die aber nie zur Ruhe kommen, weil die Dosis immer größer werden muss und das Zittern nach dem nächsten Kick immer schneller kommt.

Was tun?, fragt Bohler.

Und eigentlich macht er es wie Paula Panzerowa: Es geht um Aufmerksamkeit. Um das Lernen einer fast vergessenen Tugend – nämlich die der Konzentration auf das, was vor uns liegt. Und sei es nur der aufmerksame Genuss einer Weintraube. Denn wir müssen uns ja erst einmal wieder ausklinken aus diesem Sturm der rauschenden Informationen, die uns permanent treiben, noch mehr von allem zu sehen, zu kriegen, zu erleben. Genau so, wie es Konstantin Wecker einst besang: „Genug kann nie genügen.“

Das klingt wie eine tolle Liedzeile, ist aber – Konstantin Wecker hat es ja selbst erlebt – eine Katastrophe. Wer da hineingerät, hat eine lange Quälerei vor sich, wenn er überhaupt wieder herauswill. Und die Gefahr, wieder in das Immermehr abzustürzen, ist groß.

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Wir leben in einer Welt voller Drogen. Und deshalb ist es so verlogen, wenn konservative Politiker die sogenannten „harten Drogen“ herauspicken und behaupten, die seien es nun, die Menschen zu Verbrechern machen. Nein. Sind sie nicht. Sie sind nur eine extreme Ausformung einer Wirtschaftsform, die alles, was Menschen brauchen, versucht in Drogen zu verwandeln, in etwas, von dem alle immer mehr glauben zu brauchen. Auch wenn sie davon krank und depressiv werden. Weil es eben nicht erfüllt.

Das mit der Weintraube ist eine bewusste Therapieform, die jeder anwenden kann auf sich selbst, betont Bohler. Denn indem wir uns auf etwas scheinbar ganz Simples mit allen Sinnen (Augen, Nase, Mund, Tastsinn) konzentrieren, erfassen wir es in seiner ganzen faszinierenden Präsenz.

Das mit der Weintraube ist deshalb so schön, weil es niemanden überfordert. Wer sich gleich mal so auf einen Menschen einlässt, weiß, was Atemlosigkeit ist.

„Indem wir den Resonanzraum unserer Sinne erweitern, bereiten wir dem Striatum mehr Freude, obwohl die Menge an Nahrung kleiner ist. Etwas weniger zu essen, langsam und mit allen Sinnen, ist eine Möglichkeit, dem Striatum neue, intensive Erfahrungen zu verschaffen“, schreibt Bohler. Das ist die Aufmerksamkeit für das Kleine, Alltägliche, das aber so einfache Vorgänge wie das Essen wieder zu einem Erlebnis macht.

„Auch im zwischenmenschlichen Bereich kann weniger mehr sein. Anstatt die Zahl der Freunde auf Facebook zu mehren, können wir in die Qualität dieser Beziehungen investieren. Wir lassen uns weismachen, wir bräuchten zu unserem Glück ein Auto, das mindestens so luxuriös und leistungsstark ist wie das der Nachbarn. Doch wir haben die Wahl: die Werbebotschaften für bare Münze zu nehmen und immer mehr zu konsumieren – oder uns am Fahren eines altmodischen Autos zu erfreuen und an Freundschaften, in denen es nicht darum geht, wer mehr vorzuweisen hat.“

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Es gibt immer mehr – nicht nur junge – Menschen, die das begriffen haben. Die ihr Leben regelrecht entschlacken und sich die Quälgeister des Konsums vom Leibe schaffen, das spritsaufende Auto, die quäkende Haushaltselektronik, die uns auch noch ausspäht, die vielen falschen Facebook-Freunde, die sie in Wirklichkeit gar nicht kennen, die schrillen bunten Fertiggerichte, die viel zu vielen Schuhe, Taschen und Kleider aus dem Schrank. Und auch die Leute, die sie vorher vielleicht ihren „Freundeskreis“ genannt haben, mit denen sie aber nur lauter Party-Bekanntschaften gepflegt haben, keine intensiven Gespräche – zum Beispiel über das Leben, die Kinder und „den ganzen Rest“. Also all das, was diesen Aufenthalt auf Erden wirklich aufregend und erfüllend macht. Und das einem völlig durch die Lappen geht, wenn man sich dem Wahn des Immermehr ausliefert.

Also einfach mal wieder mit den Liebsten durchs (ziemlich trockene) Rosental spazieren und sehen, was wichtig ist, gesehen zu werden. Unsere Umwelt leidet. Und deshalb leiden auch wir.

Bohler: „Ein Bewusstsein für das zu entwickeln, was uns umgibt, ist kein realitätsfernes oder unrealistisches Ziel. Es gibt Meditationstechniken, die sich bewährt haben. Die Achtsamkeitsmeditation etwa zielt darauf ab, die eigene Aufmerksamkeit sanft zu lenken und bewusst dem zuzuwenden, was in uns und um uns herum geschieht. Sich kurzfristigen Impulsen und dem Lockruf der schnellen Belohnung zu widersetzen. Sich frei zu entscheiden, langfristig zu denken und die Zukunft selbst zu bestimmen.“

Das wird ein ganz anderes Da-Sein, ganz sicher. Und es macht sensibel für die vielen falschen Botschaften einer Immermehr-Gesellschaft, die ihren Rausch in der Nacht in immer neuen und noch schwärzeren Katastrophenfilmen auslebt.

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Nachtrag, 8. August: Und da es um Details und Aufmerksamkeit geht: Hier noch ein Foto von Claus Reinhardt, der die Wasserlosigkeit des Rosentalteiches schon mit einer Anfrage ans Amt für Stadtgrün und Gewässer thematisiert hat, und der uns hier die Rückseite des Schildes zeigt, das im nun seit Wochen wasserlosen Rosentalteich steht.

Die Rückseite des Schildes im Rosentalteich. Foto: Claus Reinhardt
Die Rückseite des Schildes im Rosentalteich. Foto: Claus Reinhardt

 

Die Serie „Nachdenken über …

Wenn Wasser knapp ist, hat auch der Rosentalteich keine Chance

Wenn Wasser knapp ist, hat auch der Rosentalteich keine Chance

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