Erst dachte ich: Was ist das für ein komischer Artikel: Da postet Greta Thunberg auf ihrer Rückreise vom „Klimagipfel“ in Madrid nach Schweden auf ihrer Bahnfahrt durch Deutschland ein Foto, auf dem sie neben riesigem Reisegepäck im Gang sitzt. Der Zug war überfüllt, schreibt sie. Die Bahn beschwert sich, dass sie nicht über ihr tolles Erlebnis in der 1. Klasse berichtet. Und tatsächlich hatte sie ja ab Göttingen einen Sitzplatz. Aber der „vorwurfsvolle Tweet“ der Bahn zeigt noch ganz etwas anderes.

Nicht nur das Dilemma eines bundeseigenen Konzerns, der 1992 von völlig närrischen Regierenden aufs falsche Gleis geschickt wurde und aus seinen eigenen Denkfallen nicht mehr herauskommt. Die eine Menge mit überfüllten, verspäteten oder gar ausfallenden Zügen zu tun haben. Da fühlte man sich von einem so simplen Tweet einer 16-Jährigen irgendwie an der wundesten aller Stellen getroffen.

Und erst ganz am Schluss kommt der Satz, der alles vom Kopf auf die Füße stellt, eine Pointe, die richtig sitzt, weil sie uns zeigt, dass wir mittlerweile eigentlich alle falsch herum denken, wenn es um den öffentlichen Nah- und Fernverkehr geht.

Denn wir mögen eigentlich alle keine überfüllten Züge. Es graut uns vor vollgestopften Straßenbahnen. Und wir stopfen uns selbst trotzdem noch hinein, weil wir gelernt haben, dass man die Bahn nehmen muss, die gerade da steht. Denn ob die nächste nicht genauso voll ist oder ob sie kommt oder nicht einfach ins Depot umgeleitet wurde, wissen wir nicht. Es gibt Tage, da ist im System so sehr der Wurm, dass wir froh sind, wenn wir überhaupt mit einer völlig überfüllten Bahn nach Hause kommen.

Und meistens ist das zwar eng, atembeklemmend und chaotisch. Und manchmal kann auch richtig was los sein, z. B. wenn kleine Kinder in der Bahn sind und nicht aufhören können zu weinen. Aber meistens merkt man, dass es gar nicht so schlimm ist, wenn einem auch mal lauter Leute auf den Pelz rücken, die man sonst im Leben nie kennengelernt hätte.

Mal so als Auswahl: Fußballanhänger von RB Leipzig oder St. Pauli, russische Mamutschkas, die aus lauter Besorgnis unterwegs die ganze Verwandtschaft anrufen, durchgeschwitzte DHL-Mitarbeiter, übermüdete Wachdienstmitarbeiter, drei schnatternde Schulklassen aus drei verschiedenen Schulen in einer NGT 8 (fast schon tägliche Übung), sechs aufgeregte Teenager, die nicht wissen, an welcher Haltestelle der „heiße Club“ ist, zu dem sie wollen, die aber zu stolz sind um zu fragen (sonst würden sie erfahren, dass sie in der falschen Bahn sind).

Eine fröhliche Weihnachtsmarktbesuchergruppe aus dem näheren Ausland, die sich fröhlich darüber wundert, dass man beim Herweg anders gefahren ist (und zu stolz ist, die eingebildeten Einheimischen zu fragen, ob man vielleicht …), nicht zu vergessen die dicht gedrängten Warteschlangen an den Ticketautomaten, wo sich die Ratlosen gegenseitig beraten, wie man aus dem Ding vielleicht doch noch einen Fahrschein herausbekommen kann …

Selten, doch aber ab und zu, freue ich mich trotzdem, dass die Bahn einfach fährt, dass sich der Fahrer oder die Fahrerin bei allem Geschiebe und Gedränge nicht aus der Ruhe bringen lassen (außer die, die durchbrüllen, dass „in der Bahn ganz hinten noch genug Platz ist!!!“), und dass an jeder Haltestelle alle mitmachen, um den weiter drin in der Bahn Feststeckenden den Weg bis zu Tür zu ermöglichen – meistens mit Baucheinziehen, kleinen Hangeleinlagen und stolzem Nicken, wenn man das schier Unmögliche gemeinsam doch möglich gemacht hat.

Das alles steht für etwas.

Und das musste nun erst Greta in ihrer trockenen Klugheit schreiben, so einfach ist das: „Überfüllte Züge sind ein gutes Zeichen, denn das heißt, dass die Nachfrage nach Bahnreisen hoch ist!“

So einfach ist das. Indem wir uns in den Bahnen und Bähnchen drängen und stapeln, signalisieren wir ziemlich deutlich: Die Nachfrage ist hoch. Last also mehr Züge fahren, mehr Straßenbahnen und Busse.

Nehmt uns einfach endlich ernst, uns Heringe.

Wir wollen nicht fliegen und auch nicht mit dem SUV durch die Landschaft brettern. Wir wollen mit vernünftigen Verkehrsmitteln vernünftig unterwegs sein.

Wir brauchen keine Anmache in der 1. Klasse und keine Belehrungen, warum etwas nicht geht.

Wir brauchen eh schon genug Geduld beim Warten auf die Verbesserungen, die das Mitfahren wieder ein bisschen leichter machen.

Beim Sparen wart ihr alle super. Ihr großen und ihr kleinen Superplaner. Aber ihr habt die Rendite nicht genutzt, um vorzusorgen für den Tag, an dem die Heringe sich mehren, die unbedingt mit der Bahn fahren wollen. Ihr habt falsch gespart. Und dann wollt ihr auch noch gebauchmiezelt werden. Wofür eigentlich?

Die Zeichen der Zeit sind in jedem Berufsverkehr zu sehen. „Überfüllte Züge sind ein gutes Zeichen, denn das heißt, dass die Nachfrage nach Bahnreisen hoch ist!“

Man muss die Zeichen freilich auch lesen können.

Die Serie „Nachdenken über …

Hinweis der Redaktion in eigener Sache (Stand 1. November 2019): Eine steigende Zahl von Artikeln auf unserer L-IZ.de ist leider nicht mehr für alle Leser frei verfügbar. Trotz der hohen Relevanz vieler unter dem Label „Freikäufer“ erscheinender Artikel, Interviews und Betrachtungen in unserem „Leserclub“ (also durch eine Paywall geschützt) können wir diese leider nicht allen online zugänglich machen.

Trotz aller Bemühungen seit nun 15 Jahren und seit 2015 verstärkt haben sich im Rahmen der „Freikäufer“-Kampagne der L-IZ.de nicht genügend Abonnenten gefunden, welche lokalen/regionalen Journalismus und somit auch diese aufwendig vor Ort und meist bei Privatpersonen, Angehörigen, Vereinen, Behörden und in Rechtstexten sowie Statistiken recherchierten Geschichten finanziell unterstützen und ein Freikäufer-Abonnement abschließen.

Wir bitten demnach darum, uns weiterhin bei der Erreichung einer nicht-prekären Situation unserer Arbeit zu unterstützen. Und weitere Bekannte und Freunde anzusprechen, es ebenfalls zu tun. Denn eigentlich wollen wir keine „Paywall“, bemühen uns also im Interesse aller, diese zu vermeiden (wieder abzustellen). Auch für diejenigen, die sich einen Beitrag zu unserer Arbeit nicht leisten können und dennoch mehr als Fakenews und Nachrichten-Fastfood über Leipzig und Sachsen im Netz erhalten sollten.

Vielen Dank dafür und in der Hoffnung, dass unser Modell, bei Erreichen von 1.500 Abonnenten oder Abonnentenvereinigungen (ein Zugang/Login ist von mehreren Menschen nutzbar) zu 99 Euro jährlich (8,25 Euro im Monat) allen Lesern frei verfügbare Texte zu präsentieren, aufgehen wird. Von diesem Ziel trennen uns aktuell 400 Abonnenten.

Alle Artikel & Erklärungen zur Aktion Freikäufer“

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar