Was bin ich froh, dass Mai Thi Nguyen-Kim das alles schon 2017 erklärt hat. Wir sind nun einmal nicht alle vernünftig. Es wäre ja auch zu schön: Wir würden als Menschheit die meisten Dinge unterlassen, die unsere Welt zerstören. Und wir würden im Jahr 2020 auch nicht so tun, als wären Epidemien eine Zumutung, die irgendwelche bösen Eliten über uns gebracht haben.

Und wir würden uns auch nicht von frustrierten Mitmenschen in allem Ernst erklären lassen müssen, dass die 250 Leute, die sich da am Samstag, 9. Mai, auf dem Nikolaikirchhof versammelten, doch nur lauter vernünftige Forderungen gestellt haben.

Haben sie nicht. Epidemien sind Epidemien. Und wir haben heute zumindest den Vorteil, dass vorhergehende Generationen Strategien entwickelt haben, die bei der Einhegung von Epidemien helfen. Und die Forschung weiß über die Verbreitung von Viren mehr als noch vor 100 oder 200 Jahren.

Aber das, was wir nun wieder als seltsame Anti-Coronadiktatur-Proteste erleben, ist nicht wirklich neu. Es flackert immer wieder auf, befeuert von diversen Social-Media-Kanälen, in denen sich alle möglichen Leute munkelnd über irgendwelche geheimen Eliten auslassen (gern mit antisemitischem Beiklang), sich gar als Alternative Medien verkaufen und ihren Zuschauern einreden, die gesamte klassische Presse sei gekauft.

Weil: Diese Journalist/-innen kommen ja immer wieder zu ganz ähnlichen Daten und Fakten. Wie kommt das nur?

Nuja: Weil man, wenn man ernsthaft nachfragt und recherchiert in der Regel (wenn man es seriös anstellt) zu denselben Ergebnissen kommt. Auch Journalismus ist in gewisser Weise Forschung, sollte sich zumindest ganz ähnliche Standards setzen und Fragen stellen, wie es seriöse Wissenschaftler tun. Um auf Mai Thi Nguyen-Kim zurückzukommen: Es ist der einzig seriöse Weg, wirklich etwas Belastbares über unsere Welt herauszubekommen.

Hier ihr Video von 2017 zu diesem Thema, als unsere „Alternativen Medien“ schon genauso gearbeitet haben wie heute immer noch.

MaiLab: Warum wir auf Fake News reinfallen

Sie sehen: Es gibt eine Veranlagung in vielen Menschen, auf felsenfest behaupteten Quatsch hereinzufallen, ihn unbedingt glauben zu wollen und dann selbst zu verbreiten. Das hat irgendwie evolutionär mal Sinn gemacht. Dagegen ist natürlich Wissenschaft und wissenschaftliches Denken ein recht junges Phänomen. Eines, das man nicht einfach mal so beiläufig lernt. Es sei denn, man ist ein hochbegabtes Kind wie Leonardo da Vinci oder Gottfried Wilhelm Leibniz.

Die meisten von uns lernen wissenschaftliches Denken erst in der Schule kennen – nicht alle, ich weiß. Manche pauken nur die ganzen Lehrsätze in Physik, Biologie und Chemie, erfassen aber ihr Leben lang nicht, was dahintersteckt. Warum unser ganzes Menschsein trotzdem, trotz aller Freiheitsdeklarationen und Konsumräusche eingebunden bleibt in physikalische, chemische, biologische Gesetzmäßigkeiten. Die alle viel gnadenloser sind als jedes menschliche Gesetz und jede Regierungsverordnung, die zum Schutz der Bevölkerung erlassen werden.

Es ist schon heavy, wenn Menschen mit blankem Gesicht gegen Verordnungen protestieren, die eigentlich alle schützen sollen und – wie die Zahlen des Robert-Koch-Instituts trotz mancher Fehler zeigen – auch geholfen haben, die Corona-Epidemie einzugrenzen.

Aber es geht halt nicht nur um Glaubensgebäude und Filterblasen. Es geht auch um Macht, wie Katja Thorwarth in der „Frankfurter Rundschau“ so schön bemerkte in ihrem Kommentar „,Maske ist das neue Hakenkreuz‘ – Attila Hildmann dreht in Coronazeiten frei“.

Den Spruch mit dem Hakenkreuz sah man am Samstag auch in Leipzig. Wie so manch anderen Spruch, der in den „Alternativen Medien“ gehypt wird. Man findet sich heute über diese Meinungsgemeinschaften im Netz, wo Vorturner wie Ken Jebsen, Xavier Naidoo oder eben Attila Hildmann den Ton vorgeben für das Raunen, Munkeln und Mutmaßen.

Leute, denen ich ganz bestimmt nicht die wissenschaftliche Kompetenz zugestehe, die Entwicklung der Corona-Pandemie und die verordneten Maßnahmen zu verstehen. Oder kompetent zu hinterfragen. Stimmt: Auch das ist eine journalistische Aufgabe, wie Simon Hurtz in seinem Beitrag „Verschwörungstheorien: Warum so viele Menschen Corona-Quatsch verbreiten“ in der „Süddeutschen“ feststellte.

„Wer verstehen will, warum Menschen gerade so viel Unsinn teilen, muss deshalb tun, was die meisten Verschwörungstheoretiker verweigern: ganz genau hinschauen und scharf differenzieren. Denn nicht jedes Gerücht ist eine Lüge, und es gibt durchaus Gründe, die aktuellen Maßnahmen immer wieder kritisch zu hinterfragen – nur hat das meist nichts mit jenen ,kritischen Fragen‘ zu tun, die ohne Faktengrundlage geheime Pläne von Regierungen suggerieren.“

Wobei die Herren mit den meinungsstarken Portalen nie über ihre „kritischen Fragen“ hinauskommen. Sie hinterfragen die eigenen Mutmaßungen nicht, treten aber mit einer breitbrüstigen Selbstüberzeugung auf, als hätten sie gerade eine groß angelegte Forschung hinter sich gebracht.

Das klingt dann für sanfte Gemüter schnell so, als wären sie tatsächlich im Besitz neuer, von anderen nicht gefundener Fakten. Nur: Man schaut sich diese Videoclips an und – es kommt nichts. Die Argumente drehen sich im Kreis, es bleibt bei Vermutungen. Und den Forschungsinstituten, die sich die ganze Zeit mit dem Sammeln von Daten und der Frage beschäftigen, was das nun für die Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung bedeutet, spricht man kraft eigener Meinungsstärke einfach mal die Kompetenz ab. Wirft ihnen gar vor, sie würden sich streiten, ihre Interpretationen seien also irgendwie beliebig.

An dieser Stelle: noch einmal Mai Thi Nguyen-Kim.

MaiLab: Die Kunst Bullshit zu erkennen

Aber auch das ist nicht neu. Denn natürlich erzeugen als bedrohlich empfundene Fakten auch Angst und Verunsicherung. Man sieht ja dieses verflixte Virus nicht. Man muss sich drauf verlassen können, dass die Virologen, Epidemiologen und Ärzt/-innen wissen, was zu tun ist. Und dass sie das Richtige tun. Und dass sie den Regierenden die richtigen Ratschläge geben und die Politiker/-innen die richtigen Einschränkungen oder Lockerungen beschließen. Denn Epidemien und die resultierenden Schutzmaßnahmen greifen nun einmal tief in das gesellschaftliche Leben ein.

Das wieder empfindet jeder anders. Mancher trauert. Mancher befolgt lieber die Empfehlungen, weil er weiß, dass das wahrscheinlich hilft, viele Menschen vor Ansteckung und schwerer Erkrankung zu schützen. Mancher leidet auch. Und mancher empfindet die Einschränkungen als sehr belastend, weil es dergleichen seit über 70 Jahren so nicht gab in Deutschland.

Natürlich verstört das, weil es uns daran erinnert, dass wir mit Viren leben und dass wir durch all unsere Technik nie wirklich aufgehört haben, uns aus dieser Symbiose zu befreien. Wir bleiben natürliche Lebewesen – und deshalb auch gefährdet von all den winzigen (Fast-)Lebewesen, die sich im warmen Rachen des Menschen fröhlich drauflos vermehren.

Wissenschaft schafft diese Unsicherheiten auch nicht aus der Welt, auch dann nicht, wenn Wirk- und Impfstoffe gegen das Virus gefunden werden. Die Unsicherheit wird bleiben. Eine Unsicherheit, die nicht so richtig passen will zu den Heilsversprechen unserer heutigen Konsum-, Wohlfühl- und Ego-Welt.

Womit wir wieder bei der Macht wären, die auch die so emsig Protestierenden gern haben möchten: Die Schutzverordnungen quasi durch ein beharrliches Demonstrieren aus der Welt schaffen zu können, Dinge kraft emsigen Demonstrierens zu verändern – so wie 1989. Auch der ziemlich vermessene Bezug zu 1989 durfte ja am Samstag nicht fehlen. Manche Leute verwechseln Grundrechte tatsächlich mit unbeschränkter Freiheit. Merken nicht einmal mehr, dass eine demokratische Gesellschaft nur deshalb funktioniert, weil die meisten Menschen die gemeinsam vereinbarten Regeln einhalten.

Erst das garantiert, dass eine Gesellschaft ihren Mitgliedern auch umfassende Freiheitsrechte gewährleisten kann. Zu denen dann auch das zählt, was man so Meinungsfreiheit nennt. Wobei mir einige dieser Meinungen tatsächlich zu wirr sind, so schräg und verdreht sind sie. Und so völlig weg von einer wirklich belastbaren Datenbasis. Da fragt sich auch Mai Thi Nguyen-Kim berechtigterweise: Was kann man da tun?

Die Antwort ist logisch: weiterforschen. Nur wissenschaftliches Denken schafft nach und nach genug Daten und Wissen über unsere Welt, auf deren Grundlage wir wirklich vernünftige Entscheidungen treffen können. Und bei Journalismus ist das genauso: Nicht Munkeln und Raunen, sondern immer wieder auf die Fakten zurückkommen, das, was wirklich belastbar recherchiert und belegt werden kann.

Das ist dann oft nicht so phantastisch und grandios, sondern ziemlich viel Kleinklein und Alltäglich. Aber es ist genau die Basis, die uns überhaupt ermöglicht, die Wirklichkeit zu erkennen und darin eben vernünftige Entscheidungen zu treffen.

Und zum Schluss vielleicht etwas zur Freude:

WORLD ORDER „HAVE A NICE DAY“

Die ganze Serie „Nachdenken über …

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Es gibt 3 Kommentare

Liebe LIZ, etwas zu spät kann trotzdem am Ende zu weit aus dem Fenster gelehnt gewesen sein.
Die Frage ist nicht, wie mächtig sich die fühlen (wollen), die demonstrieren, sondern was die machen, die die Macht atsächlich haben. Und da sind wir gerade heute ein großes Stück der Wahrheit näher gekommen: als echt bestätigt vom Bundesinnenministerium höchstselbst. Derjeinige, dessen Aufgabe die Analyse war und der zur Kenntnis nehmen musste, dass sie vollkommen ignoriert wurde, ist inzwischen “beurlaubt” – ein Beamter, der das getan hat, wozu er verpflichtet ist: ohne Rücksicht auf etwaige Befindlichkeiten Schaden von Deutschland abzuwenden. Ach nein, waren das nicht die PolitikerInnen, die darauf einen Eid leisten?
https://www.tichyseinblick.de/daili-es-sentials/exklusiv-auf-te-ein-vorwurf-koennte-lauten-der-staat-hat-sich-in-der-coronakrise-als-einer-der-groessten-fake-news-produzenten-erwiesen/

Da dies hier kein Demo-Bericht ist macht Ihr Kommentar jetzt nicht ganz so viel Sinn @Wiesner.

Bitte beim Bericht über die nächste 1.Mai -oder Flüchtlingsdemo, das Bild mit dem MLPD-Typen mit seiner Stalinfahne als Startfoto nehmen!

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