Es gehört zu den unappetitlichen Begleiterscheinungen der politischen Erinnerungskultur, dass diese vor allem von rechtsnationalistischen Bewegungen konterkariert werden. Das Schlagwort der AfD vom „Kriegsschuldkult“, von dem sich Deutschland befreien müsse, macht dies überdeutlich. Man versucht auf diesem Weg, den Nationalsozialismus und seine Verbrechen anschlussfähig zu machen.

Ähnliches geschieht, wenn diffuse politische „Bewegungen“ die Tradition des 9. Oktober 1989 für ihre Interessen zu kapern versuchen. So versahen die Rechtnationalisten von Pegida/AfD ihre Landtagswahlkampagnen in Ostdeutschland 2019 mit dem Slogan „Vollende die Wende“ bzw. „Wende 2.0“. Auch träumen die „Bewegung Leipzig“ und die „Querdenken 341“ davon, bald mit Zehntausenden Menschen um den Ring ziehen zu können, um so die während der Coronakrise angeblich ausgehebelten Grundrechte zurückzuerobern.

Ebenso wird im öffentlichen Diskurs von einflussreichen Menschen, denen alle Medien zur Verfügung stehen, mantraartig beklagt, dass man nicht mehr frei seine Meinung sagen könne und der öffentliche Diskurs von einem Mainstream beherrscht werde – so zuletzt wieder der CDU Bundestagsabgeordnete Arnold Vaatz (CDU) am 3. Oktober 2020 im Landtag von Sachsen unter frenetischem Beifall insbesondere der AfD.

Merkwürdig an den Aktionen ist und bleibt: da werden angeblich ganz ähnliche Verhältnisse wie in der Endphase der DDR behauptet – allerdings in einem gesellschaftlichen Umfeld, das mit der DDR nichts mehr gemein hat. Da fahren weder Wasserwerfer auf, noch wird der Strom abgedreht, noch werden Gruppierungen wie „Bewegung Leipzig“ daran gehindert, eine Kundgebung abzuhalten, eine Homepage einzurichten, Texte zu veröffentlichen oder eine Partei wie „Widerstand 2020“ zu unterstützen.

Kurios, wenn sich Leute auf den Marktplatz stellen und behaupten, man dürfe in diesem Land nicht mehr das sagen, was man denkt und anschließend ihre Verschwörungsgeschichten erzählen – und es passiert nichts. Kurios, wenn die Pflicht, in bestimmten Situationen die Maske zu tragen, mit Einschränkungen in Diktaturen verglichen wird.

Doch die Situation der Bürgerinnen und Bürger, die sich 1989 von den Friedensgebeten auf die Straße wagten, war eine ganz andere. Dort fuhren Panzer auf, standen die Betriebskampfgruppen in den Nebenstraßen einsatzbereit, wurden Internierungslager für Oppositionelle im Agra-Gelände eingerichtet, konnte keiner der Demonstrant/innen sicher sein, am Abend wieder nach Hause gehen zu können. Freie Wahlen wurden vom SED-Regime verhindert, Menschen wurden wegen ihrer politischen Haltung verhaftet und eingesperrt – ohne Aussicht auf ein rechtsstaatliches Verfahren.

Der Kampf für ein offenes Land mit freien Menschen hatte die freiheitliche Demokratie, die gesellschaftliche Vielfalt, die gleichberechtigte Teilhabe an Bildung, Einkommen, Arbeit, Wohnen im Blick. Darum war der 9. Oktober 1989 ein Aufbruch zur Demokratie, ein Anfang, der heute an jedem neuen Tag eine Fortsetzung durch die erfordert, die jetzt das gesellschaftliche Leben gestalten.

Dabei ist zum einen wichtig, dass wir gemeinsam mehr Demokratie wagen. Das kann aber nur gelingen, wenn wir auch die gesellschaftspolitischen Ziele, für die wir eintreten, benennen, über sie streiten und jeweils zu einem Konsens kommen. Zum andern ist entscheidend, dass niemand sich anmaßt, er und seinesgleichen seien „das Volk“. Nein, das Volk ist die Summe aller Bürgerinnen, die in großer Unterschiedlichkeit an einem Ort, in einem Land leben.

Nach dem Grundgesetz (Art. 20 Abs. 2) wird der Volkswille durch Abstimmungen, Wahlen und die Rechtsprechung festgelegt – und nicht durch die Behauptung einer Gruppe „Wir sind das Volk“. 1989 markierte dieser Ruf, dass Menschen die Beachtung ihrer Interessen und freie, geheime Wahlen einklagten. Wenn heute Rechtsnationalisten den Ruf missbrauchen, dann schreien sie vor allem den anderen entgegen: Ihr seid nicht das Volk; ihr gehört nicht dazu.

Doch die Friedliche Revolution von 1989 ging einen anderen Weg: Sie ermöglichte durch die Runden Tische, dass an ihnen auch die saßen, die einstmals zum System der Demütigung und Entmündigung gehörten. Damit ist deutlich: Demokratie ist nur möglich, wenn alle daran beteiligt sind und sich daran beteiligen. Das in Erinnerung zu rufen und sich dies als Handlungsmaxime neu anzueignen, ist Aufgabe einer lebendigen Erinnerungskultur am 9. Oktober.

  • Erinnern heißt Handeln – Mahn- und Solidaritäts-Demonstration  am 9. Oktober 2020 (1. Jahrestag des Attentats auf die Synagoge in Halle); Treffpunkt ab 15:00 Uhr beim Leipziger Synagogen-Denkmal in der Gottschedstraße.
  • Für ein offenes Belarus mit freien Menschen – Demo am 10.10.20
    Die „Stiftung Friedliche Revolution“ ruft zu einer Demonstration und Kundgebung am Samstag, 10.10.20, um 17.00 Uhr auf den Nikolaikirchhof auf.

Gastkommentar von Christian Wolff: Gefährliches Geschwurbel

Gastkommentar von Christian Wolff: Gefährliches Geschwurbel

Demo von Pandemie-Leugner/-innen: Ein fröhlicher Spaziertanz wie in der DDR + Fotos und Video

Demo von Pandemie-Leugner/-innen: Ein fröhlicher Spaziertanz wie in der DDR + Fotos und Video

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Es gibt 13 Kommentare

Verrückte Zeiten sind das schon, wenn sich die Polizei nicht rüsten soll, bei der hohen Wahrscheinlichkeit von Gewaltausbrüchen linker Demos und bei einem friedlichen Happening von eher empörten Familien geht man mit überbordender Gewalt vor und die Freunde, die eben noch die eigene Freiheit verteidigten, sind nun bereit zuzuschauen, wie ältere Herrschaften abgeführt werden und das Familienhappening gekärchert wird. Plötzlich sind Omi und Opi Reichsbürger, Nazis und was weiß der Kuckuck was noch, Hauptsache schuldig. Brille putzen Leute, hinschauen und nachdenken. Nicht alles ist so, wie es zu seien scheint, deshalb soll uns ja der liebe Gott von den Christenmenschen, Pfarrer Wolff und OB Jung, den Verstand gegeben haben.

Gut Michael Freitag ist, dass Sie allein zu allen Themen immer die einzige richtige Wahrheit haben. Klar ist, dass alle anderen blöde sind. Gerne können Sie den Inhalt dieses Links in der LIZ und LZ behandeln:
https://gbdeclaration.org/

Und meine Entgegenung beinhaltet die schlichte Wahrheit, dass Ihnen die Polizei bei Demonstrationen offenbar lange Zeit einfach entgangen ist. Als “schwer bewaffnet” würde ich das Auffahren von Wasserwerfern nach nun sicher 20 Jahren Beobachtung nicht mehr bezeichnen – ein SEK mit umgehängten Maschinenpistolen wie in Wurzen hingegen schon.

Ich habe also einfach festgestellt, dass Sie in Bild und Wort nur den Ist-Zustand von vor 10 Jahren plus X festgestellt haben. Einen, der nicht als “bewaffnet” gilt.

MF. Nein, es war nicht die Empörung über die Wasserwerfer, es war die Empörung über Ihren Gastschreiber Wolff, welcher nicht ordnungsgemäß berichtet hat. Und, es standen in Berlin am 1. und 29.8. auch schwer bewaffnete Einheiten in den Seitenstraßen einsatzbereit.

siehe einfach Ihr erster Beitrag und Ihre Empörung über die Wasserwerfer. Dann wird es heller. Zumal ja bei den friedlichen “Querdenkern” belegtermaßen ausreichend Reichsbürger und ähnliche Verfassungsfeinde vor Ort waren. Da schaut die Polizei halt irgendwann auch mal genauer hin.

Oder würden Sie sich sich auf der “anderen Seite der Skala” auch so beklagen? Deshalb meine Antwort …

Michael Freitag, wo ist der Bezug zu dem Artikel des Westpfarrrers welcher ein Freund des Religionslehrers ist, ich verstehe den Zusammenhang nicht, macht aber nichts, man muss nicht alles verstehen, in C Zeiten schon garnicht.

Lieber Michael, seit Jahren wird auf der L-IZ die Aufrüstung der Polizei (bei gleichzeitigem Qualitätsverlust durch Personalmangel und gesenkten Einstellungskriterien) kritisiert. Der Wasserwerfer wird somit bei nahezu jeder nur im Ansatz linken Demo aufgefahren, in Wurzen und anderswo bemüht man auch mal ein hochmunitioniertes SEK.

Was also wollen Sie in der Behandlung der “Querdenker” anderes vom gleichen erwarten? Interessant daran ist lediglich, dass nunmehr auch diejenigen etwas davon mitbekommen, die sich ja sonst so gern in “der Mitte der Gesellschaft” wähnen – und jahrelang das Auffahren dieser Gerätschaften – natürlich gegen links – still begrüßt oder gar nicht wahrgenommen haben.

So gesehen also ein kleiner Lerneffekt bei den sonst gern so allwissenden “Querdenkern” vielleicht – mehr nicht. Über unsere Polizei im Lande wird ja bereits auf einer ganz anderen (und endlich auch richtigen) Ebene debattiert – der des Rechtsextremismus in den Reihen derer, denen wir das Gewaltmonopol in die Hände legen.

Tja, da trennt sich dann die Spreu vom Weizen, Demokratie geht scheinbar nur in der Scheindemokratie (weiter). Ziemlich abartig wie versucht wird an der “Macht” zu bleiben. Das Volk hat sich ja klar zu den herrschenden Machtverhältnissen bekannt.

Ob jemand, der gewohnt ist ohne Gegenrede von der Kanzel aus zu verkünden, zu so einer offenen Diskussion fähig und willens ist, möchte ich bezweifeln. Seine Einlassungen funktionieren regelmäßig nur einseitig. Mit der Verteufelung der andere Seite wird das Selbstlob natürlich auch nie auch nur ansatzweise infrage gestellt.

Nun, der Pfarrer Wolff und der Religionslehrer Jung, beide aus dem Westen. Ich rege ein Zwiegespräch zwischen Wolff, dem OBM Freund, und einem echten Ostmann und Experten Hans-Joachim Maaz an, das würde bestimmt sehr spannend und aufschlussreich.

Nicht schon wieder der selbsternannte Revolutionswächter Wolff, der ja nun im Wendeherbst im warmen sicheren Westen gesessen hat und die DDR-Verhältnisse nicht selbst erlebte. Vielleicht sollte man doch besser einen Schwabe oder Holitzer anfragen. Findet sich den kein Ossi aus der Generation oder dürfen die nicht ?

Lieber Pfarrer Wolff, Sie gestatten Widerspruch. Beigefügtes Foto, gerne weitere, zeigt Wasserwerfer in Stellung gegen “Querdenker”, sprich Andersdenkende am 29.8. 20 in Berlin. Und, am 1.8. 20 ebenfalls in Berlin, stellte der Berliner Senat den Demomstranten auf der Hauptbühne gegen 16.30 Uhr den Strom ab, dieser wurde erst wieder eingeschaltet nachdem die Polizei in Kampfanzügen die Demo gegen 17 Uhr für beendet erklärt hat.
Also bitte, bleiben auch Sie bei den Fakten anstatt wirres Zeug zu verwenden. Danke.

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