Joe Biden hat die Wahl gewonnen, aber viel spannender als die Frage, warum er gesiegt hat, ist die Frage, warum er einige wichtige Wählergruppen verloren hat. Darüber nachzudenken lohnt sich, besonders für die politische Linke hierzulande – und zu der zähle ich mich trotz aller Kritik an ihr. Oder sagen wir besser: gerade deswegen, denn ich halte es in dieser Hinsicht mit dem ollen Schlegel, der einst erklärte: „Der wahre Protestant muss auch gegen den Protestantismus selbst protestieren, sobald er sich nur in neues Papsttum und Buchstabenwesen verkehren will. Die Freiheit des Denkens weiß von keinem Stillstande und die Polemik von keinen Schranken.“

Jedenfalls helfen solche Betrachtungen, die eigenen blinden Flecken ein wenig aufzuhellen. Nehmen wir für diesen Zweck einfach mal die Hispanics. Die sind natürlich genauso wenig eine homogene Gruppe wie „die Weißen“ oder „die Afroamerikaner“, wurden vor der Wahl aber von zahlreichen Zeitungen, Politblogs und Webseiten – besonders aus dem links-liberalen Spektrum – als Gruppe ausfindig gemacht, die Trump bei der Wahl schaden und ihn Stimmen kosten könnte. Sogar wahlentscheidend könnten sie sein, raunten einige Kommentatoren. Neben den Hispanics galten auch Rentner, Afroamerikaner, weiße Vorstadt-Frauen und Frauen generell als diejenigen Gruppen, die Trump den Sieg kosten könnten.

Ich hatte bereits Anfang Oktober ausführlich darüber geschrieben und erklärt, dass die Fokussierung auf Frauen, Afroamerikaner, ethnische Minderheiten und andere in der einen oder anderen Weise politisch, ökonomisch und sozial benachteiligte Gruppen und das ihnen zugeschriebene Potential als möglicherweise wahlentscheidende Fraktionen weniger etwas über die tatsächliche Stimm-Macht dieser Gruppen, als über den Blasenwurf deutscher Berichterstattung aussagt.

Einige verwechseln – sicherlich aus guten Absichten, aber damit ist der Weg in die Hölle nun mal gepflastert – die Ebene der Beschreibung mit der des Wünschens. Man könnte auch sagen: sie vertauschen Sollen mit Sein, weshalb sich in der Vorwahl-Berichterstattung über die Hispanics (und die anderen Gruppen) nicht selten die Wünsche und Hoffnungen der Berichterstatter gespiegelt haben – und die blinden Flecken links-liberaler Identitätspolitik gleich noch mit dazu.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Der Wunsch, diskriminierte, ausgegrenzte oder sonst irgendwie benachteiligte Gruppen zu stärken, ist mehr als legitim. Aber er sollte nicht Basis der Beschreibung bzw. Ausgangspunkt der Analyse sein, sondern kann als Kür einer Kritik der Verhältnisse dienen. (Kann, nicht muss, und auch nicht soll.) Genau das aber ist vor der Wahl passiert: Afroamerikaner, Frauen und Hispanics sollten es richten. Zumindest die Hispanics haben es dann auch gerichtet. Allerdings nicht in dem vorhergesagten Sinne, sondern genau umgekehrt.

Nun geht es mir nicht ums Rechthaben. Das interessiert mich nicht. Dazu ist ein Tagebuch auch der denkbar schlechteste Ort und das An-der-Gegenwart-entlang-Schreiben die absolut ungeeignetste Form. Rechthaben ist eine Nachtragskategorie, und das Nachtragen überlasse ich anderen, den Historikern, Sozialwissenschaftlern und Wahlanalysten, die am Ende, wenn alles ausgezählt ist, ihre großen Tableaus auf den Tisch legen werden. Mir reicht das Unfertige und Ephemere. Und das besagt (neben tausenderlei anderen Dingen), dass die Hispanics Trump in Florida und Texas keine Niederlage beigebracht, sondern ihm in diesen Bundesstaaten zum Sieg verholfen haben.

In einigen anderen Bundesstaaten, wo Trump am Ende nicht vorne lag, haben sie ihn ebenfalls häufiger gewählt als prognostiziert und ihm sogar noch mehr Stimmen gegeben als 2016. Auch wenn natürlich weiterhin gilt, dass die Mehrzahl der Hispanics – mit Ausnahme der Exilkubaner – zu den Demokraten tendiert. Aber es geht hier nicht um die Mehrheit, sondern um die Analyse eines Trends. Und der ging im Falle der Hispanics in vielen Bundesstaaten – und besonders in Texas und Florida – deutlich in Richtung Trump.

Schon 2016 hatte Trump von den Hispanics mehr Stimmen bekommen als von vielen prognostiziert worden war und Mitch Romneys Anteil von 2012 übertroffen. Und 2020 ist Trumps Anteil entgegen vielen Vermutungen erneut gestiegen. Vor allem Latino-Männer haben Trump ihre Stimme gegeben. Viele Kommentatoren, besonders hierzulande, waren darüber überrascht. Wie konnten diese Hispanics das tun?

Wo Trump doch die Mexikaner ausmauert, Migranten aus Lateinamerika als Drogendealer und Vergewaltiger brandmarkt, eine extrem rigide Einwanderungspolitik betreibt und Puerto Rico im Katastrophenfall die Hilfe verweigert. Wie konnten ihn so viele Hispanics, allen voran die Latino-Männer, trotzdem wählen?

Die Antwort lautet: Sie haben ihn nicht trotzdem, sondern gerade deswegen gewählt. Das ist zweifellos ein wenig überpointiert, macht aber die Richtung klar. Denn viele Hispanics – vor allem Männer – haben Trump ihre Stimme gegeben, weil er den starken Mann markiert und auch mal den Macho raushängen lässt, als den sich viele selbst gerne sehen, und zwar unabhängig von den Realitäten. Es genügt die Vorstellung und das Konzept eines Machismo, das in weiten Teilen der Hispanic-Community eben nicht mit toxischer, sondern mit tatsächlich-richtiger Männlichkeit gleichgesetzt wird.

Ein Großteil der Linken versteht diese Kultur nicht. Sie begegnet ihr wahlweise mit intellektueller Arroganz oder versucht, sie in ihrer weichgespülten Identitätspolitik zu ersaufen. Auch Biden hat diese Kultur nicht verstanden. „Was hat es mit diesem ,Ich trage keine Maske‘-Macho Ding auf sich?“, hat er Anfang Oktober auf einer Wahlkampfveranstaltung in Florida gefragt, dabei allerdings nicht die Hipanics, sondern Trump angesprochen. „Worum geht es hier? Was ist das Problem? Tut es Ihnen weh? Seien Sie patriotisch, verdammt noch mal!“

Biden hat nicht kapiert, dass er mit diesen Worten nicht nur Trump, sondern auch viele Hispanics und deren Männlichkeitsvorstellungen attackiert hat. Aber wie soll er sie auch verstehen, wenn sein Wahlkampfteam – zumindest oberhalb der Ebene von Flyerverteilern – kaum Hispanics und noch weniger Spanisch sprechende Berater beinhaltet? Wenn er erst kurz vor der Wahl ein paar wohlfeile Worte an die Hispanic-Community richtet, sonst aber kaum Zeit und Ressourcen auf sie verwendet?

Den Rest erledigt dann die historisch begründete Ablehnung des Sozialismus durch die Hispanics (Trump: „Wir werden nie ein sozialistisches Land werden!“), die damit einhergehenden Freiheits-, Individualismus- und Erfolgsvorstellungen Trumps, seine Ernennung zahlreicher konservativer Bundesrichter in Florida und anderen stark hispanisch geprägten Gebieten, was vor allem die evangelikalen Latinos glücklich gemacht hat und – damit verbunden – Trumps Unterstützung für traditionelle Familienwerte und Geschlechterrollen.

Gewiss, das alles hat Trump längst nicht nur wegen den Hispanics getan, das sind eher Abfallprodukte seines Bedienens weißer-christlicher Mehrheiten und des Wertkanons dieser Leute. Ein dezidiertes Wahlprogramm für die Hispanics hatte Trump nicht. Aber das hat er auch nicht gebraucht. Die Dinge fügen sich nicht in Positionspapieren, sondern in den Köpfen der Leute zusammen.

Zudem sind die Werte oftmals viel näher als gedacht: Freddy Guerra, ein ehemaliger Bürgermeister aus der südtexanischen Stadt Roma drückt es so aus: „Es gibt eine Menge Übereinstimmungen zwischen einer Community, die zu 96 % hispanisch ist und einer, die zu 96 % weiß ist.“ Wobei ein Teil der Hispanics Trump offenbar auch deshalb gewählt hat, weil seine Unterschrift unter dem Scheck mit den Corona-Hilfszahlungen stand.

Die Trump-Regierung hat ganz bewusst auf dieses Mittel gesetzt. In vielen Food-Boxes, von denen während der Pandemie besonders viele Hispanics abhängig waren (und sind), fand sich ein Begleitschreiben mit Trumps Unterschrift. Dort war – auch auf Spanisch – zu lesen: „Als Präsident ist der Schutz der Gesundheit und des Wohlergehens unserer Bürger eines meiner wichtigsten Anliegen.“

Das Schreiben hätte den Nahrungsmittelspenden rechtlich gesehen gar nicht beiliegen dürfen und wurde von einigen Food Banks auch wieder entfernt, hat aber dennoch viele erreicht und gerade unter den Hispanics Trumps Ansehen gewiss keinen Schaden getan. Die Signatur des Präsidenten ist vielen eben wichtiger als die Infektionszahlen einer Behörde. Das gilt nicht nur für den Süden der USA, wo der Anteil der Hispanics besonders hoch ist, sondern für die gesamten Vereinigten Staaten.

Die Coronakrise hat Trump offenbar sogar noch Wählerstimmen gebracht als ihn welche gekostet. Nimmt man als Bemessungsgrundlage jene 100 Counties, die die höchste Corona-Todesrate pro Einwohner haben, so hat Trump in 68 davon prozentual mehr Stimmen erhalten als 2016. Und das betrifft nicht nur republikanisch dominierte Gegenden, sondern auch solche Counties, in denen Joe Biden gewann.

Und auch der Glaube, dass Trumps Rassismus die Hispanics von ihm wegzieht, geht in die Irre. Im Gegensatz zur progressiven Linken trennen viele Menschen – und offenbar auch sehr viele Hispanics – stark zwischen Worten und Taten bzw. gewichten Trumps rassistische Ausfälle einfach nicht so hoch wie das, was er ökonomisch für sie getan hat. Wobei die Sache auch eine gewisse (traurige) Ironie beinhaltet: In Gegenden, wo die Mehrheit der Bürger Hispanics sind und zum Teil 70 % oder 80 % der Bevölkerung stellen, ist Rassismus weder ein großes Thema noch ein großes Problem. Zumindest nicht in der Wahrnehmung der Menschen.

Nach all dem kann es dann auch nicht verwundern, dass die Mitglieder der Hispanic-Community in Florida einen Salsa-Song für Trump geschrieben haben. Das Lied erfreut sich großer Beliebtheit, und die Lyrics gehen so: „I’ll vote for the man who tells me the truth. The one we have prayed and hoped for. Let’s get it straight, who am I gonna follow then? The answer is simple, his name is Donald, who is gonna make us great again. And I as a Latino want my people to understand. Let’s put an end to political correctness and make you comprehend. Trump, Trump, Trump, this Latino is gonna vote for Trump.“

Salsa band plays pro-Trump song

Teile der politischen Linken könnten aus diesem Lied einiges lernen. Zum Beispiel dass es besser ist, sich selbst die Wahrheit zu erzählen, und zwar gerade dann, wenn die political correctness im Kopf schon mit der Schere klappert. Sie könnte auch lernen, dass es in Zukunft noch viel mehr als bisher darauf ankommt, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, also jene, die nicht ins eigene Weltbild passen. Und sie könnte lernen, dass es gewisse Vorteile hat, die Wahrheiten anderer nachzuvollziehen, auch wenn man sie nicht mag. Dann würde man nämlich aufhören, die eigenen Wünsche und Werte mit denen anderer zu verwechseln.

Und sie kann auch lernen, wieder ein bisschen mehr „straight“ zu sein. Was mitnichten als Abgesang auf eine Gesellschaft der Diversität gemeint ist. Im Gegenteil. Aber eine wirklich diverse Gesellschaft lässt sich weder mit cancel culture noch mit political correctness und schon gar nicht massenuntauglichen Themen und dem akademisierten Getue pseudo-progressiver links-grüner Eliten herstellen, die in urbanen Seminarräumen zu Hause sind und das Landleben nur vom Hörensagen kennen und es – bestenfalls – als ebenso permanente wie peinliche Provinz-Posse betrachten.

Vor lauter Minderheiten- und Identitätspolitik erkennen und verstehen diese Leute die Probleme vieler Menschen gar nicht mehr. Und zwar auch dann, wenn diese Menschen genau diesen Minderheiten angehören. Cancel culture, political correctness und das künstliche Hochgepushe und Aufgeblase realitätsferner Themen führen letztlich nur dazu, dass große Teile der Mitte nach rechts schwenken, während die progressive Linke auf dem linken Auge noch blinder wird.

Das mag ein wenig harsch klingen und ist in seiner Absolutheit gewiss auch übertrieben, aber in diesem Fall ist mir die straighte, das heißt direkte Sprache mal lieber, allein schon, um noch ein bisschen was von der Polemik zu haben, die der eingangs genannte Schlegel ebenso geschätzt hat wie ein Großteil der deutschen Aufklärer und Romantiker mit ihm.

Und nebenbei bemerkt: Um 1800 wurde die Polemik noch als eine Form der Rhetorik betrachtet, erst später ist sie dann zur Rabulistik verkommen, und heute ist sie meist nur noch Rüpelei. Brüllaffen wie Trump haben sie mit ihren permanenten Attacken zu Tode geritten. Aber genau deshalb ist es wichtig, sie sich zurückzuerobern. Was auch gar nicht so schwer ist, wenn man erkennt, dass jede gute Polemik Maßhaltung braucht. Nicht in ihrer Intensität, sondern in ihrer Frequenz.

Aber gut, was ich eigentlich sagen will, ist Folgendes: Es ist – trotz des Wahlerfolgs von Biden – keine Zeit für Euphorie. Wenn die politische Linke wirklich erfolgreich sein will, sollte sie im Angesicht des Sieges von Joe Biden ihre eigenen Niederlagen betrachten.

Alle Auszüge aus dem „Tagebuch eines Hilflosen“.

Direkt zum „Tagebuch eines Hilflosen“.

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