Ein Bündnis aus feministischen Organisationen und Wissenschaftler*innen hat einen Offenen Brief an die Nikolaikirche verfasst. Die Unterzeichner*innen kritisieren darin ein geplantes Friedensgebet mit radikalen Abtreibungsgegner*innen und rufen dazu auf, die Veranstaltung abzusagen. Nikolaipfarrer Bernhard Stief hat bereits auf den Brief reagiert: Das Friedensgebet soll wie geplant am Montag stattfinden.
Im Zentrum der Kritik steht der Verein „Aktion Lebensrecht für alle“ (Alfa), der vor knapp 50 Jahren in Augsburg gegründet wurde. Laut seiner Vereinssatzung ist Alfa eine „bundesweite, überparteiliche, überkonfessionelle und unabhängige Bürgerinitiative zum Schutz des Menschenlebens von seiner Entstehung bei der Befruchtung bis zum Tod“. Man setze sich besonders für Ungeborene ein.
Radikale Abtreibungsgegner*innen
Aus Sicht der Kritiker*innen ist Alfa eine Organisation, die seit Jahrzehnten daran arbeitet, „reproduktive und sexuelle Selbstbestimmung massiv einzuschränken“. Unstrittig ist, dass es sich um radikale Abtreibungsgegner*innen handelt. Auf seiner Homepage bezeichnet Alfa Schwangerschaftsabbrüche als „Unrecht“. Diese würden zudem Euthanasie und „Forschung an nicht einwilligungsfähigen Patienten“ begünstigen.
Die Verfasser*innen des Briefes werfen Alfa „manipulative“ und „aggressive“ Methoden vor. Der Verein verbreite falsche Informationen, beispielsweise zu Traumata nach Abtreibungen, und führe einseitige Schwangerschaftsberatungen durch. Vereinsvertreter*innen hätten sich außerdem offen queer- und transfeindlich geäußert.
Sollte die Nikolaikirche die Veranstaltung durchführen, würde das im „eklatanten Widerspruch“ zum sonstigen Engagement der Kirche stehen, etwa Friedensinitiativen und Angebote für Geflüchtete, heißt es in dem Brief. Unterzeichnet wurde dieser unter anderem von der Aidshilfe Leipzig, mehreren Wissenschaftler*innen der Hochschule Merseburg sowie feministischen Gruppen wie „Fantifa“, „Pro Choice“ und „Keine Mehr“.
Alfa seit 20 Jahren zu Gast in der Nikolaikirche
Nikolaipfarrer Bernhard Stief antwortete den Verfasser*innen, dass man die Hinweise ernst nehme und Alfa mit den Vorwürfen konfrontiert habe. Der Verein gestalte schon seit rund zwei Jahrzehnten jährlich ein Friedensgebet. „In all den Jahren gab es noch keinen Grund, die Mitwirkung von Alfa an den Friedensgebeten zu unterbinden“, heißt es in dem Antwortschreiben. Sofern die Menschenwürde nicht verletzt werde, seien unterschiedliche Ansichten kein Grund für ein Verbot.
Alfa selbst weist die Vorwürfe allesamt zurück. Die Familien, die man unterstütze, seien dafür sehr dankbar, psychische Probleme nach Abtreibungen seien wissenschaftlich belegt, die telefonische Beratung sei transparent und für „gezielte Desinformation“ gebe es keine Belege. Auch den Vorwurf der Queer- und Transfeindlichkeit weist Alfa zurück.
Post-Abortion-Syndrom wissenschaftlich widerlegt
In dem Offenen Brief wird Alfa auch vorgeworfen, mit dem sogenannten Post-Abortion-Syndrom (PAS) zu argumentieren. Demnach würden viele Frauen nach einer Abtreibung unter Depression und Schuldgefühlen leiden. Wissenschaftler*innen bestreiten die Existenz eines solchen Syndroms. Und auch der Verein antwortet auf den Vorwurf: „Von einem Post-Abortion-Syndrom ist auf der Webseite der Alfa nicht die Rede.“
Tatsächlich findet sich auf der Homepage aber noch ein Text aus der von Alfa herausgegebenen Zeitschrift „Lebensforum“ aus dem Jahr 2001. Die Autorin beschäftigt sich darin ausführlich mit PAS und schreibt unter anderem: „Meiner Ansicht nach ist Abtreibung ein traumatisches Ereignis, welches negative Auswirkungen auf die Frau hat, deren tatsächliche Folgeerscheinungen aber verspätet auftreten können.“
Zudem findet sich auf der Homepage eines konservativen Netzwerkes evangelikaler Christ*innen ein Hinweis auf eine Broschüre, die Alfa vor ungefähr 20 Jahren herausgegeben haben soll. Diese Broschüre informiert laut Ankündigungstext unter anderem über „das Post-Abortion-Syndrom, an dem viele Frauen nach einer Abtreibung erkranken“.
Von der Nikolaikirche enttäuscht
Das feministische Bündnis zeigt sich von der Reaktion der Nikolaikirche „enttäuscht“, wie es in einem weiteren, am Tag darauf verschickten Schreiben mitteilt. Dieses enthält mehrere Beispiele, die Verbindungen von Alfa zu rechtsradikalen Akteur*innen aufzeigen sollen. Das zweite Schreiben sei aus Zeitgründen nicht mit allen Unterzeichner*innen des ersten Schreibens abgesprochen, betont eine Verfasserin gegenüber der Leipziger Zeitung.
In den vergangenen Jahren haben verschiedene Medien kritisch über Alfa berichtet. Die Tageszeitung taz schrieb darüber, dass Alfa „antifeministische und christlich-fundamentalistische Inhalte unter Teenagern“ verbreite. Erst vor einem Monat hat die Tagesschau dem Verein vorgeworfen, bei Bundestagsabgeordneten für seine Positionen geworben zu haben, ohne dabei die Vorgaben für Lobbyismus einzuhalten.
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“Zu den psychischen Folgen eines Abbruchs zeigen die Studien und Beiträge eine hohe Diskrepanz in ihren Ergebnissen, die von der Verneinung psychischer Folgewirkungen bis hin zur Bejahung eines sogenannten Post-Abortion-Syndroms als mögliche Unterkategorie einer Posttraumatischen Belastungsstörung reichen”
Quelle: bundestag.de/resource/blob/648844/8b9810db6aecd81f7e62d2adb0366a64/WD-9-012-19-pdf-data.pdf