Stein für Stein wird Geschichte lebendig. Eindrucksvoll, schonungslos, berührend. Aus bloßen Namen werden Schicksale. Schicksale von Menschen aus der Nachbarschaft. Verfolgt, deportiert, ermordet durch die NS-Diktatur. Am Donnerstag, dem 23. Oktober, sind im Leipziger Stadtgebiet 16 weitere dieser Stolpersteine hinzugekommen.

Die Stolpersteine sind kleine Messingplatten, die ebenerdig in den Fußweg eingelassen werden. Sie markieren die letzten frei gewählten Wohnorte der NS-Opfer und halten deren Namen und Schicksale im öffentlichen Stadtbild präsent.

Dieses Projekt war im Jahr 1992 vom Künstler Gunter Demnig ins Leben gerufen worden. Dreißig Jahre später, im April 2022, konnte er bereits den 90.000sten Stolperstein verlegen. Neben Deutschland sind seine Steine auch in 28 weiteren Ländern zu finden.

Aufsteller der Arbeitsgemeinschaft Stolpersteine in Leipzig. Foto: Jan Kaefer

Alleine in Leipzig sind es inzwischen 846 Stolpersteine an 287 Orten überall im Stadtgebiet. Zu verdanken ist das der engagierten Arbeit der Arbeitsgemeinschaft Stolpersteine Leipzig, die aus Privatpersonen und Mitgliedern verschiedener Vereine und Initiativen besteht.

Im Vorfeld der feierlichen Verlegungen recherchieren beispielsweise Schulklassen, Jugendgruppen oder Sportvereine das Leben und Schicksal der auf den Steinen gewürdigten Menschen. So bleiben diese nicht nur optisch ein Teil des Stadtbildes, sondern leben auch in den Köpfen der heutigen Generationen weiter.

Stolpersteine für Chaim Sperling, seine Frau Rosa Scheindel sowie den Töchtern Estera und Jetti an der Leibnizstraße 20. Foto: Jan Kaefer

Das tragische Schicksal der Lina Rochmann

So wie nun unter anderem auch Lina Rochmann (geb. 15.12.1881) und ihr Sohn Adolf, der 1910 in Leipzig zur Welt gekommen war. Beide bekamen am Donnerstag ihren Stolperstein vor dem Haus der Humboldtstraße 3. Während Adolf im April 1939 noch die Flucht nach England gelang, musste Lina in eines der sogenannten Judenhäuser in der Gustav-Adolf-Straße 7 umziehen.

Verzweifelt versuchte sie, ein Visum für ihre Ausreise nach England zu bekommen. Vergeblich. Stattdessen wurde sie zur Arbeit auf einer Mülldeponie gezwungen. In Briefen an Adolf schrieb sie dazu: „Wir arbeiten da von morgens bis abends und sortieren Müll. Ich würde sagen, das einzig gute daran ist, dass ich ab und zu Essen im Müll finde; das ist das Einzige, was mich am Leben hält. Aber die Arbeit ist sehr hart, es ist kalt und meine Schuhe sind ruiniert. Vielleicht finde ich etwas, was ich mir an die Füße ziehen kann. An sich ist es verboten sowas zu nehmen.“

Stolpersteine für Lina Rochmann und ihren Sohn Adolf an der Humboldtstraße 3. Foto: Jan Kaefer

Im Alter von 60 Jahren wurde Lina Rochmann im Januar 1942 zusammen mit 550 weiteren Leipzigerinnen und Leipzigern nach Riga deportiert. Die dreitägige Fahrt bei klirrender Kälte überlebte Lina in dem unbeheizten Zug nicht. Bei der Ankunft in der lettischen Hauptstadt, so ein Zeitzeuge, sei sie bereits tot gewesen.

Ihr Enkel, Chaim Rockman, der 1945 in Großbritannien geboren wurde, hat seine Großmutter nie kennengelernt. „Für mich war sie die Anne Frank von Leipzig“, erzählte er bei seiner Ansprache im Rahmen der Stolpersteinverlegung. Zusammen mit seiner Schwester, drei Kindern und einem Enkel war er zu diesem denkwürdigen Anlass nach Leipzig gekommen – der Geburtsstadt seines Vaters.

Die neu verlegten Stolpersteine im Überblick

Konradstraße/ Hermann-Liebmann-Straße (ehem. Konradstr. 37): Für Babette Sbar, Betreiberin der Gastwirtschaft „Gute Quelle“, die 1942 in das Ghetto Riga deportiert und dort ermordet wurde.

Leibnizstraße 20: Für Rosa und Chaim Sperling sowie ihre beiden Kinder. Die Familie wurde 1938 im Zuge der „Polenaktion“ abgeschoben. Während die Kinder fliehen konnten, wurden die Eltern nach der deutschen Besetzung Polens ermordet.

Humboldtstraße 3: Für Lina Rochmann, die 1942 mit dem ersten Transport Leipziger Jüdinnen und Juden in das Ghetto Riga deportiert wurde. Ihr Sohn Adolf konnte 1939 nach England fliehen.

Nordstraße 64: Für Gisela und Nathan Stauber und ihre vier Kinder, Betreiber eines Wäscheversands. Die gesamte Familie wurde 1942 in einem Vernichtungslager im besetzten Polen ermordet.

Delitzscher Straße 82: Für Otto Späte, Zeuge Jehovas, der wegen seines Glaubens verfolgt, verhaftet und zu Haftstrafen in Freiberg und Kleinmeusdorf verurteilt wurde.

Steinstraße 2: Für Hugo Arndt, Geschäftsführer mehrerer Großhandelsunternehmen, der 1942 nach Theresienstadt deportiert und 1943 in Auschwitz ermordet wurde.

Braustraße / Ecke Karl-Liebknecht-Straße: Für Alfred Bucher, Kabarettist des literarischen Kabaretts „Litfaßsäule“ und Mitglied der Résistance, der 1944 im Kampf gegen die deutsche Besatzung in Frankreich ums Leben kam.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Jan Kaefer über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar