Gegenseitige Schuldzuweisungen polarisieren die Stadtgesellschaft in Wurzen nach der Eskalation der Gewalt Mitte Januar. Eine Gruppe Jugendlicher hatte junge Asylsuchende bedrängt und anschließend deren Wohnung überfallen. Gegenseitige Schuldzuweisungen polarisieren die Stadtgesellschaft in Wurzen nach der Eskalation der Gewalt Mitte Januar.

Eine Gruppe Jugendlicher hatte junge Asylsuchende bedrängt und anschließend deren Wohnung überfallen. Die Verurteilung des Überfalls als rassistische Tat durch das Netzwerk für Demokratische Kultur e.V. (NDK) kritisierte Jörg Röglin (SPD), Oberbürgermeister der Stadt Wurzen, als Vorverurteilung möglicher Akteure, die die Frontenbildung befördere. Man müsse die polizeilichen Ermittlungsergebnisse abwarten.

„Wir möchten zu bedenken geben, dass einer der deutschen mutmaßlich Tatbeteiligten gegenüber der Presse offen über den Angriff und seine ausländerfeindliche Gesinnung gesprochen hat. Wir gehen davon aus, dass die polizeilichen Ermittlungen nun vollumfänglich Motivation aller Tatbeteiligten und den genauen Tathergang rekonstruieren werden“, so Solvejg Höppner, Sprecherin des Netzwerks Tolerantes Sachsen.

Röglin kritisierte zudem, das NDK würde dem größten Teil der Wurzener Bürger_innen eine rassistische Haltung attestieren und immer nur Probleme aufzählen, ohne die eigene Arbeit zu hinterfragen. Er erwarte aber, dass der Verein „Verantwortung nicht nur fordert, sondern auch übernimmt“.

Der Vorwurf, das NDK würde verantwortungslos handeln, ist aus Sicht des Netzwerkes Tolerantes Sachsen haltlos und trägt zur Entsolidarisierung demokratischer Akteure in Wurzen bei. Zu einem sachlichen öffentlichen Diskurs gehört, dass Probleme klar benannt und unterschiedliche, zumal kritische Positionen öffentlich werden können. Diese Spannung sollte in einer gelebten Demokratie ausgehalten werden!

Das Netzwerk Tolerantes Sachsen nimmt das NDK als einen aktiven Player in der Mitte der Stadtgesellschaft wahr. Der Verein ist Treffpunkt für engagierte Bürgerinnen und Bürger der Stadt und setzt sich damit für eine gelebte demokratische Kultur ein. Mit zahlreichen Gedenk-, Bildungs- und Kulturveranstaltungen bereichert der Verein seit vielen Jahren das kulturelle Leben im Landkreis. Die zahlreichen ehrenamtlichen Unterstützer_innen bringen aktiv die Integration der in der Stadt lebenden Asylsuchenden voran. „Wir möchten auch daran erinnern, dass viele dieser Projekte in enger und erfolgreicher Kooperation mit der Stadt durchgeführt wurden“, so Martina Glass vom NDK.

„Wir können uns daher nicht erklären, wie Oberbürgermeister Röglin zu seiner Einschätzung kommt. Bislang haben wir die gute Zusammenarbeit mit der Stadt geschätzt. Wir haben in Wurzen tiefgreifende Probleme mit rassistischen Einstellungen und Gewalt. Wir müssen sie mit vereinten Kräften angehen.“

Wurzen ist einer der Brennpunkte rechtsmotivierter Gewalt im Freistaat – und das nicht erst seit 2017. „Seit dem 1.1.2015 zählen wir 45 Angriffe in der Stadt – Bedrohungen, Körperverletzungen und auch zwei Brandanschläge. Größtenteils sind sie rassistisch motiviert“, so Fachreferentin Andrea Hübler von der RAA Sachsen Opferberatung.

„Betroffen sind vor allem Geflüchtete: sie wurden auf der Straße angegriffen, ihre Fenster wurden eingeworfen, in ihre Wohnungen eingedrungen. Mehrfach gab es rassistische Mobilisierungen in Wurzen, erinnert sei hier an Pfingsten, als ein Gruppe ‚Ausländer raus‘ und ‚Deutschland den Deutschen‘ skandierend zu einer Wohnung Geflüchteter ziehen wollte. Wir sehen eine Ursache der Gewalt ganz klar in der starken Neonazi-Szene der Region, die Konflikte immer wieder provoziert und anheizt. Neonazis lassen ihrer rassistischen Propaganda auch Taten folgen. Dessen sollte man sich auch in Wurzen bewusst sein.“

Das Netzwerk Tolerantes Sachsen teilt die Einschätzung des Politikwissenschaftlers Hajo Funke, der im Interview mit der LVZ nach den jüngsten Übergriffen in Wurzen eine klare Positionierung und Zusammenarbeiter aller Akteure gegen Rechts empfiehlt. Die Zivilgesellschaft brauche dabei Unterstützung von der Politik: In bestimmten Eskalationsstufen reicht zivilgesellschaftliches Engagement einfach nicht. Die hat ihre Grenze erreicht, wenn der Rechtsstaat zu schwach wird.

Dann kann es nur gemeinsam gelingen. Dann muss die Integrations- und Sozialarbeit oder das Netzwerk für Demokratische Kultur in Wurzen gestützt werden. Keinen Millimeter zurückweichen. Sobald man sagt, die seien Schuld, hat man verloren. Dann würden sich die rechtsextremen Strukturen bestätigt sehen und erst recht zuschlagen. Das könnte der Beginn von Rechtsterror in einer Stadt sein. Wenn man dem nicht Einhalt gebietet, hat man den Kampf um den Rechtsstaat verloren.

Das Netzwerk Tolerantes Sachsen ist ein Zusammenschluss von etwa 100 Organisationen und Vereinen der sächsischen Zivilgesellschaft, die sich für die Förderung demokratischer Kultur und vielfältige Lebensweisen sowie gegen Einstellungen der Ungleichwertigkeit, Antisemitismus und Rassismus einsetzen. Das Netzwerk für Demokratische Kultur e.V. ist Gründungsmitglied und engagiert sich seit vielen Jahren im Sprecher_innenrat des Netzwerks Tolerantes Sachsen.

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