Ganz untätig blieb Leipzigs Baudezernat nicht, nachdem es Beschwerdebriefe aus der Erdmannstraße gab – und zwar nicht nur aus der Erdmannstraße 16. Die Baubürgermeisterin selbst schrieb lauter freundliche Antwortbriefe, die darauf hinwiesen, dass der „Bauantragsteller einen Rechtsanspruch auf Erteilung der Baugenehmigung hat“. Mit einer kleinen Prüfeinschränkung. Aber prüfen wollte man ja nicht.

Denn tatsächlich haben Kommunen sehr wohl das Recht, Baugenehmigungen zu verweigern und Bauherren zu Änderungen an ihren Plänen zu verpflichten, wenn öffentlich-rechtliche Vorschriften verletzt werden. Und auf diese öffentlich-rechtlichen Vorschriften können sich auch die Nachbarn berufen, wenn sie sich selbst durch den Bau beeinträchtigt fühlen.

Aber in der Erdmannstraße spielt auch der § 34 des Baugesetzbuches eine Rolle, in dem es heißt:

„(1) Innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ist ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist. Die Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse müssen gewahrt bleiben; das Ortsbild darf nicht beeinträchtigt werden.

(2) Entspricht die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete, die in der aufgrund des § 9a erlassenen Verordnung bezeichnet sind, beurteilt sich die Zulässigkeit des Vorhabens nach seiner Art allein danach, ob es nach der Verordnung in dem Baugebiet allgemein zulässig wäre; auf die nach der Verordnung ausnahmsweise zulässigen Vorhaben ist § 31 Absatz 1, im Übrigen ist § 31 Absatz 2 entsprechend anzuwenden.“

Die Stadt hätte also sehr wohl prüfen müssen, ob sich der Neubau Erdmannstraße 14 ins Stadtbild tatsächlich einfügt. Dazu gibt es aber – auch wenn die Baubürgermeisterin darauf verweist – keine wirklich belastbare Stellungnahme. Vielleicht weiß man auch nicht mehr, wie so etwas geht, denn die Beispiele ungefüger Klötzer im Leipziger Stadtbild selbst mitten in einst streng geschützten Sanierungsgebieten mehren sich. Als hätte man all die Mühen der 1990er Jahre, als Stadt und Denkmalschutz vereint darum rangen, die historisch gewachsenen Straßenbilder zu erhalten und gesichtslose Neubauten mittendrin zu verhindern, vergessen.

Die Baubürgermeisterin weist in ihren Briefen auch auf die Baumschutzsatzung hin. Die existiert eigentlich nicht, denn sie ist durch Landesgesetze seit Jahren praktisch außer Kraft gesetzt. Auf der Homepage der Stadt heißt es dazu: „Die Baumschutzsatzung der Stadt Leipzig gilt weiterhin unter Beachtung der mit Gebäuden bebaute Grundstücke betreffenden landesrechtlichen Einschränkungen.“

Tatsächlich wurde für fast alle Gehölze auf dem Grundstück Erdmannstraße 14 die Fällgenehmigung erteilt. Nur ein Kirschbaum am Rand des Baugeländes blieb stehen. Und eine Ersatzpflanzung hat das Amt für Stadtgrün und Gewässer nur für vier Bäume angewiesen. Pflanzkosten pro Stück: 270 Euro. Nachweis bis Ende 2021.

So grün war der Innenhof, bevor die Bäume gefällt wurden. Foto: Frank Wernstedt
So grün war der Innenhof, bevor die Bäume gefällt wurden. Foto: Frank Wernstedt

Nur: Die finden auf dem Grundstück keinen Platz mehr, denn fast der gesamte Innenhof wird für die Tiefgarage unterkellert. Dabei hatte das Amt für Stadtgrün und Gewässer sich das Gelände im September ja sogar genauer angeschaut und dabei festgestellt, dass mehrere Bäume auf dem Gelände gerettet werden könnten. Dazu hätte nur die riesige Tiefgarage verkleinert werden müssen. Aber das hätte ja Änderungen an den Bauplänen nach sich gezogen. „Tektur“ nannte das das Bauordnungsamt. Und lehnte das ab – denn das hätte ja Bauverzögerungen gegeben.

Was aber ganz im Sinn der 2019 verabschiedeten Stellplatzsatzung der Stadt Leipzig gewesen wäre. Denn mit der war die Stadt erstmals von der bisher geltenden Pflicht der Bauherren abgewichen, für jede große Wohnung auch einen Stellplatz vorhalten zu müssen. Eine Pflicht, die in ganz Leipzig zum Bau völlig überdimensionierter Tiefgaragen geführt hat. Und das in einer Zeit, in der immer mehr junge Menschen aufs Auto verzichten. Und auch verzichten wollen.

Auch die Erdmannstraße ist mit ÖPNV gut erschlossen. Bald hält auch die Linie 14 wieder gleich um die Ecke. Mit dem Fahrrad ist man in wenigen Minuten in der Innenstadt. Selbst Nahversorgung gibt es in Laufweite. Der Bauherr hätte die geplanten Stellplätze problemlos reduzieren können.

Denn vier neue Bäume wird er auf dem Grundstück nicht mehr pflanzen können, jedenfalls nicht dort, wo sie in den Architekturzeichnungen eingemalt sind. Denn über der Tiefgarage wird es bestenfalls noch 30 Zentimeter Erde geben – genug für Rasen und Blumenrabatten, aber nicht für Bäume.

„Wir wollen ja den Neubau gar nicht verhindern“, sagt Nachbar Frank Wernstedt, der zusammen mit Keith Hurst in Widerspruch gegangen ist. „Einige Änderungen in den Bauplänen hätten uns ja vollkommen gereicht.“

Aber die Einsprüche von Nachbarn haben im deutschen Baurecht keine verhindernde oder aufschiebende Wirkung. Die hätten nur Auflagen der städtischen Baubehörden, die aber auch in diesem Fall wieder gehandelt haben nach dem Grundsatz: Wir halten uns zwar äußerlich an die Vorgaben des Gesetzbuches, das eine Information der Nachbarn vorschreibt. Aber danach stellen wir uns tot und bescheiden den Einwänden der Betroffenen, dass das ein Vereinfachtes Baugenehmigungsverfahren nach Sächsischer Bauordnung ist. Die Stadt hat also keine Einsprüche.

Wie gering die Chancen von betroffenen Nachbarn sind, ein ausuferndes Bauvorhaben zu stoppen, kann man im „Nachbar“-Passus zur Baugenehmigung bei Wikipedia nachlesen. Sie werden schlicht auf den langen Weg des Widerspruchs gelenkt, ohne dass das Bauvorhaben gestoppt werden muss. Und wenn das Verwaltungsgericht auch dem Antrag auf eine aufschiebende Wirkung des Widerspruchs nicht stattgibt, dann wird es teuer. Dann bleibt nur der lange Klageweg durch die Instanzen, während vor Ort längst gebaut wird. Hat das Bauordnungsamt erst einmal Grünes Licht gegeben, ist die Sache gelaufen.

Es sei denn, die vorgesetzte Behörde schätzt dann vielleicht ein, dass die Genehmigung des Bauantrags fehlerhaft war und wichtige Prüfungen gar nicht erfolgt sind. Deswegen liegt der ganze Fall jetzt bei der Oberen Bauaufsichtsbehörde des Landes Sachsen, wie Baubürgermeisterin Dorothee Dubrau im September einigen Nachbarn, die sich bei der Stadt beschwert hatten, mitteilte:

„Zur erteilten Baugenehmigung wurde beim Amt für Bauordnung und Denkmalpflege durch dazu berechtigte Nachbareigentümer ein Widerspruch eingelegt. Entsprechend der gesetzlichen Regelungen zum Rechtsmittel des Widerspruchs wurde dieser im Amt für Bauordnung geprüft und, da ihm nach Auffassung des Amtes nicht abgeholfen werden kann, an die Landesdirektion Sachsen als Obere Bauaufsichtsbehörde zum Erlass eines Widerspruchsbescheides abgegeben. D. h., der Widerspruch und die Baugenehmigung des Amtes werden jetzt noch einmal von der Oberen Bauaufsichtsbehörde geprüft und von diesem (sic!) ergeht dann ein Widerspruchsbescheid. Das Amt für Bauordnung und Denkmalpflege ist daher derzeit nicht Herr des Verfahrens.“

Da aber die Baugenehmigung erteilt wurde, wird weitergebaut. Und eine Chance, in der Erdmannstraße wenigstens dafür zu sorgen, dass sich der Neubau ins Straßenensemble einfügt, hat Leipzigs Bauverwaltung gründlich versiebt.

Bauen über Schornsteinhöhe und keine Lust auf Planänderung

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Wenn ein überdimensionierter Wohnklotz das historische Straßenbild zerstört

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