Zweimal im Jahr gibt es so einen Termin zum Innehalten. Dann kommt der Kölner Bildhauer Gunter Demnig mit seiner Maurerkelle und verlegt neue Stolpersteine in der Stadt, die an Menschen erinnern, die vor über 70 Jahren in die Mühlen der Nazi-Mordmaschine geraten sind. Mal weil sie Widerstand geleistet haben, mal weil sie behindert oder jüdischer Herkunft waren. So wie Dora Kohs und ihr zweijähriger Sohn Michael.

„Es war am 28. Oktober 1938, an einem Freitag, als ich schon 6 Uhr früh ein starkes Klopfen an meiner Tür vernahm. Ich öffnete die Tür und blickte auf zwei Polizisten, die mir mit Taschenlampen ins Gesicht leuchteten… Wir seien ausgewiesen. Unser Zug stehe schon bereit.“

Die Nachkriegsaufzeichnungen von Joseph Kohs lassen nur erahnen, wie unmenschlich das Naziregime gegen jüdische Mitbürger vorging. Aufgrund ihrer polnischen Staatsangehörigkeit gehörte die junge Familie von Joseph Kohs zu den Juden, die am 28. Oktober 1938 nach Beuthen deportiert und dann mit Waffengewalt über die Grenze gejagt wurden. Die Familie verschlug es mit den Eltern Kohs zu Verwandten nach Dabrowa bei Tarnow. Nach dem Massenmord an den Juden von Tarnow im Mai 1942 wurde in Dabrowa zwei Monate später ein Ghetto errichtet, das jedoch nicht lange existierte. Dort wurden Dora Kohs und ihr Sohn Michael ermordet. Joseph Kohs und sein fünfzehnjähriger Sohn Heini entgingen den Massakern und überlebten das Grauen in den Arbeitslagern Mielec und Wieliczka sowie im KZ Flossenbürg in Bayern. An ihrem letzten Wohnsitz, der Uhlandstraße 8 in Lindenau, werden am Donnerstag, 1. Oktober, zwei Stolpersteine für Dora und Michael Kohs verlegt.

In der ebenfalls in Lindenau gelegenen Endersstraße 3, wo einst Laura und Leon Kohs wohnten, werden schon um 9 Uhr die ersten beiden Stolpersteine verlegt. Das Ehepaar gehörte ebenso zu der weitverzweigten und über hundert Verwandte zählenden Großfamilie Kohs-Fischel. Auch Laura und Leon Kohs wurden im Rahmen der sogenannten „Polenaktion“ gegen jüdische Mitbürger am 28. Oktober 1938 nach Polen abgeschoben. Nach der deutschen Besetzung wurden sie dort ermordet. Ein gerade 90 Jahre alt gewordener Enkel der Kohs hat für die Stolperstein-Verlegung verschiedene Botschaften geschickt, die verlesen bzw. abgespielt werden.

Leon Kohs besaß einen Altwarenladen in der Odermannstraße 4 in Leipzig-Lindenau, der ein bescheidenes Einkommen ermöglichte. Durch die Abschiebung nach Polen verloren er und seine Familie jeglichen Besitz.

Auch der nächste Termin um 9:45 Uhr ist einer jüdischen Familie gewidmet. Hier ist auch das Wohnhaus verschwunden. Der Termin für die dreiköpfige Familie Nissenbaum findet in der ehemaligen Nordstraße 24, wo sich heute der Parkplatz des Westin Hotel Leipzig befindet, statt. An dieser Steinlegung wird eine israelische Jugendgruppe teilnehmen, die gegenwärtig ein deutsch-israelisches Austauschprogramm durchführt, teilt die Arbeitsgruppe „Stolpersteine“ mit, die in Leipzig die Sammlung von Patenschaften für die Stolpersteine und die Verlegung im Straßenraum organisiert. Dabei wird nicht einfach nur der Name und die letzte Anschrift der seinerzeit Verschleppten aus alten Akten ermittelt. Oft sind es Familienangehörige, Schulklassen oder geschichtlich interessierte Leipziger, die sich auf die Spurensuche begeben und meist eine recht eindrucksvolle Familiengeschichte zusammenbekommen. Diese Texte zu den gewürdigten Menschen sind auf der Website der Arbeitsgruppe nachlesbar.

Die Paten der Steine der Familie Nissenbaum sind ebenfalls Jugendliche. Nach der Verlegung findet ein thematischer Austausch der beiden Gruppen statt. Die israelischen Jugendlichen wollen vor allem wissen, warum sich die deutschen Schüler für ein solches Erinnerungsprojekt engagieren.

Bis 15 Uhr werden an diesem Tag für weitere ehemalige Leipziger Mitbürger, die Opfer der NS-Diktatur geworden sind, Stolpersteine verlegt.

10 Uhr in der Nordstraße 52, wo die Eheleute Alice und Herrmann Eiger und ihre Gastgeberin Elisabeth Neumann gewürdigt werden.

10:30 Uhr gibt es dann einen Termin an der Jägerhofpassage in der Großen Fleischergasse für Gerhard und Frieda Deussig. Beide stehen für ein anderes großes Vernichtungsprogramm der Nazis: Sie waren Sinti. Von Gerhard weiß man zumindest, dass er ermordet wurde, die Spur von Frieda endet in Ravensbrück.

Der Termin um 11:30 Uhr in der Breitschuhstraße 13 ist der sechsköpfigen Familie Blonski gewidmet. Wie die Kohs wurden auch sie 1038 Opfer der “Polenaktion”.

Um 13:30 Uhr wird dann in der Karl-Jungbluth-Straße 35 der Kommunist Karl Jungbluth gewürdigt, der in einer Widerstandsgruppe mit William Zipperer und Arthur Hoffmann tätig war. Am 23./24. November 1944 wurde er zum Tode verurteilt und am 11. Januar 1945 im Hof des Dresdner Landesgerichts hingerichtet.

Um 14 Uhr gibt es dann einen Termin vor der Scheffelstraße 21. Eigentlich wohnte die Familie Rosenhain gegenüber in der Scheffelstraße 20. Aber weil dort aktuell eine Baustelle ist, werden die Stolpersteine vor der 21 verlegt.

Den Abschluss macht eine Stolpersteinverlegung in Großpösna Am Ring 5, wo die Familie Sporn lebte.

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