Leipzig ist eine Hochburg illegaler Graffiti geworden – trotz oder gerade wegen einer jahrelangen Politik der harten Hand. Seit Ende 2013 setzt sich zwar die Einsicht durch, dass Prävention statt Bestrafung der aussichtsreichere Ansatz ist. Nur mangelt es bislang an finanziellen Mitteln.

85, 210 oder 4700 Jahre – wie alt sind Graffiti? Vor 85 Jahren breiteten sich Ganggraffiti in den USA aus. Vor 210 Jahren verewigten sich Napoleons Soldaten auf diversen Kriegszügen. Aber die ältesten uns bekannten Graffiti stammen aus dem Alten Ägypten und werden in der Tat auf etwa 2700 vor unserer Zeit datiert. Auch bei den Maya, im Römischen Reich und bei den Wikingern kamen Graffiti vor. Das mit 4000 Schriftzeichen längste Graffiti hinterließ Mao Zedong vor gut einem Jahrhundert in den Waschräumen der Universität Changsha.

In Leipzig ist heute eine Fläche von mehr als zehn Fußballfeldern mit Graffiti übersäht. Meist illegal, da im Stadtgebiet gerade mal neun legale Graffitiflächen existieren. Und diese neun sind bereits ein großer Fortschritt, weil es 2012 lediglich drei waren. Ein anderer Fortschritt ist, dass 2015 die Graffitifallzahlen laut polizeilicher Kriminalstatistik erstmals seit 2009 wieder rückläufig gewesen sind: Aktenkundig wurden 2.512 Sachbeschädigungen – verglichen mit 574 im Jahr 1999.

„Unsere Graffitiszene war in den 1990er Jahren relativ normal“, sagt auch Sascha Kittel vom Graffitiverein e. V. „Es gab einen künstlerischen und einen wilden Pool, aber es war alles im Rahmen und beispielsweise Friedhofsmauern und Denkmäler tabu.“ Der studierte Kunstpädagoge ist seit 26 Jahren dabei und bezeichnet sich dementsprechend als „Dinosaurier der Leipziger Graffitiszene“.

Eskalation auf beiden Seiten

Aus Kittels Sicht waren es Leipzigs Olympiabewerbung und die Immobilienlobby, die 2003 eine Null-Toleranz-Politik beförderten. Wie aus dem Nichts wollte die Stadt bis 2006 graffitifrei sein. Die Wall of Fame, eine große legale Graffitifläche am Karl-Heine-Kanal, wurde unangekündigt und auch zur Überraschung des Eigentümers geschlossen. „Es gab de facto keine legalen Graffitiprojekte mehr“, so Kittel. Selbst Kunstprojekte an Schulen seien nicht geduldet worden oder durften nicht Graffiti heißen. Und als Präventionsangebot sollten sich interessierte Sprayer bei der Polizei melden. Es kamen nicht viele.

Ein Graffiti entsteht in Grünau. Foto: Frank Willberg
Ein Graffiti entsteht in Grünau. Foto: Frank Willberg

Dies bestätigt indirekt Helmut Loris, Leiters des Ordnungsamtes: „Die Präventionsarbeit musste heruntergefahren und später eingestellt werden.“ Eine Kommunikation zwischen Behörden und Sprayerszene sei lange Zeit kaum möglich gewesen. „Von ‚Null-Toleranz-Ansatz‘ würde ich dennoch nicht reden, jedoch von einem im Kern restriktiv orientierten Programm gegen Graffitivandalismus. Im Mittelpunkt stand neben der – recht zurückhaltenden – Präventionsarbeit das konsequente Reinigen von Schmierereien.“

Schuld am Scherbenhaufen

Für Loris stellt sich die Genese der Eskalation auffallend anders dar. In seinem Rückblick entwickelt sich ab 1995 „eine Sprayerszene, die begann, das Stadtbild nach ihrer Auffassung zu gestalten.“ Die städtische Straßensozialarbeit hätte durch neue Schwerpunktsetzungen ihren Einfluss auf die sich mehr und mehr verselbständigende Graffitiszene verloren. Sächsische Polizei und die sonstigen Verwaltungsstrukturen seien noch immer im Aufbau gewesen. Und einzelne Akteure hätten sich zu Meinungsbildnern und Vorbilder in der Szene entwickelt und seien in zunehmendem Maße aggressiv, rücksichtslos und kriminell geworden. „Ausgehend davon wurde 2002 eine Arbeitsgruppe im Kriminalpräventiven Rat (KPR) gegründet, die das ‚Programm zur Bekämpfung illegaler Graffiti in Leipzig‘ erarbeitete.“

Dem pflichtet fast wortwörtlich Matthias Hupfer bei: „Es entwickelte sich Aggressivität, Rücksichtslosigkeit und kriminelles Handeln.“ Und der Geschäftsführer des Aktionsbündnisses Stattbild e. V. verweist ebenso wie Loris auf „viele leerstehende Gebäude als eine ideale Plattform für die sich entwickelnde Sprayerszene.“ In Hupfers Augen bestand der „Kern des eher restriktiven Graffitiprogramms in der Forcierung der Beseitigung illegaler Graffiti und selbstverständlich der Strafverfolgung.“

Reizklima mit Kick statt Qualität

Für Kittel liegen die Dinge natürlich anders: Andere ostdeutsche Städte seien nicht auf die Null-Toleranz-Idee gekommen und hätten wesentlich positivere Erfahrungen mit ihrer Graffitiszene gemacht. „Durch den Versuch, mit harter Hand durchzugreifen, wurde der künstlerische Pool der Leipziger Szene des nötigen Freiraums beraubt und verdrängt“, widerspricht er. Manche seien zum wilden Pool gewechselt. Dieser hätte deutlich Aufwind bekommen. Zudem hätte ein regelrechter Graffititourismus Richtung Leipzig eingesetzt. Hier war die Suche nach dem Kick leichter. Die Sprayer seien immer jünger und ihre Graffiti immer schlechter geworden.

S-Bahn-Station mit legalem Graffiti. Foto: Frank Willberg
S-Bahn-Station mit legalem Graffiti. Foto: Frank Willberg

„Kritik an Schmierereien ist völlig verständlich“, so Kittel. Nichtsdestotrotz ging die Eskalation nach hinten los. Die Fallzahlen illegaler Graffiti seien im ersten Jahr um 30 Prozent, im dritten Jahr um 50 Prozent auf 2.314 Fälle gestiegen. Die Graffitiszene – nun tatsächlich radikalisiert und professionalisiert – ließ sich nicht bezwingen. Jedenfalls nicht mit harter Hand.

Renaissance der Prävention

Das nötige Umdenken beginnt erst am 3. Dezember 2013 auf der 30. Sicherheitskonferenz des KPR. Vor allem externe Akteure und Experten verweisen laut Kittel auf den Mangel an sozialpädagogischer Arbeit, Prävention sowie legalen Angeboten, die den Druck abbauen, illegale Graffiti reduzieren und Einfluss auf die Szene nehmen.

2015 wird die Koordinierungsstelle Graffiti in Leipzig ins Leben gerufen. In gemeinsamer Trägerschaft von Graffitiverein und urban souls laufen legale Graffitiprojekte an, wird nach 25 Jahren „Mittelalter“ das erste Präventionskonzept der Stadt verfasst. Der KPR – nunmehr Kommunaler Präventivrat – erhält eine neue Leitung. Einziger Haken: Während das Beseitigen illegaler Graffiti mit jährlich 270.000 Euro aus der Stadtkasse finanziert wird, muss die sozialpädagogische Arbeit bislang faktisch ohne städtische Mittel auskommen.

„Legale Graffiti kosten Geld“, räumt Hupfer ein. „Vor allem, wenn die Projekte mit pädagogischer Arbeit verbunden sein sollen.“ Kittel verweist darauf, dass er 90 Prozent der Szene mit legalen Projekten erreicht und sich das künstlerische Gestaltungspotenzial nutzen lässt. Hauptsache, die Sprayer können sich gut sichtbar verewigen. Das belegen zum Beispiel die seit vielen Jahren von der LWB veranstalteten Street-Art-Galerien.

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